Lena Uphoff
15.11.2010

Das kennen Sie auch: Man sitzt im Zug von Leipzig nach Berlin. Alles fahrplanmäßig, alles bestens, wie der erfahrene Reisende beim Blick auf die Uhr feststellt. Die Termine in der Hauptstadt wird er problemlos erreichen, selbst wenn er die nächste U-Bahn vom Bahnhof Zoo nach Schöneberg nicht erwischen sollte. Der Reisende blickt aus dem Fenster. Alles dreht sich, alles bewegt sich, die besonnte Landschaft fliegt vorbei. Griff zum Krimi, in den Sitz geräkelt.

Dann bremst der Zug. Und steht, nicht weit von Wittenberge im schönen Sachsen-Anhalt. Nach einigen Minuten meldet sich der Zugchef über Lautsprecher: Personen auf der Strecke, die Weiterfahrt verzögert sich um circa 40 Minuten. "Da hat sich einer vor den Zug geworfen", murmelt der Vertreter gegenüber hinter seinem Notebook hervor. "Oder es waren spielende Kinder", vermutet die ältere Dame im Flanellkostüm. "Hmm, könnte auch ein Betrunkener gewesen sein", meint der Reisende und greift zum Mobiltelefon, um seine Termine neu zu ordnen.

"Das nächste Mal fahre ich mit dem Auto!"

"Das nächste Mal fahre ich mit dem Auto!", posaunt der nervöse Vertreter in die Runde. Die ältere Dame: "Und dann stehen Sie eben im Stau."

Beim Reisen, geht es unserem Mann durch den Kopf, ist die Störung der Normalfall. Als er letzte Woche von Frankfurt/Main nach Bremen fliegen wollte, teilte eine freundliche Stimme mit, dass die aus Venedig kommende Maschine vermutlich eine Stunde später eintreffen werde ­ just als er verschwitzt und mit hängender Zunge am Gate angelangt war. Immer kommt etwas dazwischen. Unvorhersehbar, außer Plan, überraschend.

Dass das so ist, wissen alle in der mobilen Gesellschaft. Zu komplex sind die Systeme in der Welt der massenhaften Transporte. Zu viele Faktoren sind im Spiel: Menschen, Maschinen, das Wetter und höhere Gewalten. Wenn ein Rädchen nicht greift, stehen alle anderen still. Und dennoch planen die meisten in der Hoffnung, dass alles klappt. Immer und immer wieder.

Warum tun sie das? Die wohlfeilen, abschätzigen Erklärungen liegen auf der Hand: Niemand hat eine Sekunde zu verschenken in dieser schnelllebigen Zeit. Keiner hat mehr die Muße, zu verweilen. Knappe Termine, Hektik ­ Stress, der Stress und Stress und Stress gebiert.

Ich halte dagegen. Kühn geplant haben Menschen immer. Hannibal, als er mit seinen Elefanten über die Alpen zog, tat es wie die Kapitäne der Hanse auf ihren Koggen, die Schwarzwälder Holzflößer auf dem Rhein und alle vor ihnen, die mit Kind und Kegel, Sack und Pack, Rindern und Schafen von Weidegrund zu Weidegrund zogen: Wenn wir uns anstrengen, wenn alles gut geht, wenn das Wetter mitspielt, dann können wir es schaffen. Nomaden. Ihr Erbe steckt tief in den Genen. Ihr Überleben hing oft davon ab, etwas zu riskieren und auf das Gelingen zu hoffen, wider alle Erfahrung.

Verspätungen sind ärgerlich -­ mehr nicht.

Heutigen Nomaden in unserer Gegend ist das Heil- Ankommen nahezu selbstverständlich. Noch nie war Reisen so sicher. Die Unfallstatistiken zeigen es. Verspätungen sind ärgerlich -­ mehr nicht.

Der Vertreter im Zug hat sich beruhigt und erzählt seinen Leidensgenossen: "Neulich flieg ich nach Hamburg. Wir sind so gut wie da, kurz vor der Landung, zwanzig Höhenmeter über der Rollbahn. Da startet der Pilot mit aller Kraft durch und zieht den Flieger steil nach oben. Sorry, krächzt der Bordfunk, wir waren zu hoch, hätten zu spät aufgesetzt, die Rollbahn hätte vielleicht nicht ausgereicht. Die halbe Stunde für den erneuten Anflug bin ich gern zu spät gekommen. Gut, dass der Mann im Cockpit nicht zu ehrgeizig war." Da setzt sich der Zug gerade ruckelnd in Bewegung. Nach nur zwanzig Minuten.

 

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