Ein bisschen mehr Gottesähnlichkeit täte uns allen ganz gut
Lena Uphoff
15.11.2010

Ich habe über Gott nachgedacht, neulich abends. Papst Benedikt XVI. sei Dank. Zur Eröffnung der Bischofssynode Anfang Oktober in Rom hatte der Papst "eine gewisse moderne Kultur" attackiert und ihren "todbringenden und zerstörerischen Einfluss" auf die Identität von Nationen, "die einst reich an Glauben und Berufung waren". Als typischen Vertreter dieser Kultur beschrieb Benedikt einen Menschen, "der beschließt, dass 'Gott tot ist', und sich selbst zum Gott erklärt, der sich für den einzigen Meister seines Schicksals hält, den absoluten Besitzer der Welt".

Ich beobachte bei mir eine Bereitschaft zum Kulturpessimismus

Ich beobachte bei mir seit längerem eine Bereitschaft zum Kulturpessimismus. Der Niedergang der Sitten, die emotionale Verwahrlosung allerorten, die allgemeine Oberflächlichkeit - es scheint das Vorrecht alternder Menschen zu sein, das Sein ihrer Mitmenschen mit ätzender Kritik zu begleiten. Es gibt einem das Gefühl der Erhabenheit, wenn man sich im kleinen Kreis darüber austauscht, dass die Welt schlecht ist und immer schlechter wird. Da hört man Sätze wie die des Papstes eigentlich gern.

Seltsamerweise fand ich mich aber in den Anmerkungen des Theologen auf dem Papstthron überhaupt nicht wieder. Ja, sie weckten in mir einen zunächst unreflektierten Widerstand. Ich begann zu überlegen, wen Benedikt gemeint haben könnte. Ich ließ die mir bekannten Menschen geistig an mir vorüberziehen, darunter eine große Zahl von Leuten, die mit dem Glauben wenig bis nichts am Hut haben. Viele von ihnen haben sich nie oder lange nicht mehr mit Gott beschäftigt. Und auf die Frage, ob es Gott gibt, würden sie mutmaßlich antworten: Weiß ich nicht, interessiert mich nicht, brauch ich nicht. Oder: Kann sein, vielleicht, vielleicht auch nicht. Ziemlich sicher würde aber niemand von ihnen sagen: "Ich bin Gott. Ich bin der einzige Meister meines Schicksals. Ich bin der absolute Besitzer der Welt."

Gibt es jemand, der die "personifizierte Unbegreiflichkeit" ist?

Der störrische Geist Georg Christoph Lichtenberg nannte Gott einmal die "personifizierte Unbegreiflichkeit". Ich gestehe, es ist ein wenig trickreich, was ich jetzt tat. Ich fragte mich, ob es irgendeinen Menschen gibt, der sich selbst zur "personifizierten Unbegreiflichkeit" erklären würde. Ich kam zu dem Ergebnis: Ich kenne niemanden, der dies täte. Nicht einmal Investmentbankern traue ich das zu.

Nun verfüge ich nicht über die große Lebenserfahrung des Papstes. Ich bin darauf angewiesen, mich auf meine bescheidene Wahrnehmung zu verlassen. Und die sieht etwa so aus: Es gibt - und gab zu allen Zeiten - Menschen, die ihre Möglichkeiten weit überschätzen. Sie neigen zu Selbstgerechtigkeit, Ignoranz und Grausamkeit. Es mangelt ihnen an Demut und Einsicht in die Grenzen des Machbaren. Aber die Mehrheit von ihnen wird schon zu Lebzeiten mit genau diesen Grenzen konfrontiert. Und die letzte dieser Grenzen heißt eigenes Sterben.

Die Kultur der Überheblichkeit, die der Papst geißelt, ist eine altvertraute Gefahr, keineswegs eine moderne Erscheinung. Auch mächtige Kirchenfürsten sind ihr erlegen. Sie ist, ganz schlicht gesagt, eine mögliche Antwort auf die Sterblichkeit: zorniges Aufbegehren gegen oder Ausblenden der Endlichkeit.

Menschenverächter sind Gottesverächter

Das Problem der ganzen Geschichte ist meines Erachtens nicht die Neigung, sich selbst für Gott zu halten, sondern die Missachtung der Nächsten. Wer aufhört, in den Mitmenschen Ebenbilder Gottes, Kinder Gottes zu sehen, beginnt, sich selbst als Abbild des Göttlichen zu verachten. Menschenverächter halten sich nicht für Gott, sie sind Gottesverächter. So verstehe ich jedenfalls, was uns ein gewisser Jesus von Nazareth gesagt hat. Für Christen, glaube ich, kann das nur heißen, auch in den Gottlosen Kinder Gottes zu sehen. Das ist schwer zu akzeptieren, vielleicht sogar für einen Papst. Was ist zu tun? Man muss das Unbegreifliche versuchen. Man muss sie lieben. Man muss ihnen ermöglichen, Schwäche zu zeigen und zu erkennen, dass darin Stärke liegt. Gott ist ein Liebender. In diesem Sinne tut ein bisschen mehr Gottesähnlichkeit uns Menschen ganz gut, zumindest aus christlicher und jüdischer Sicht.

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