Indem ich beschreibe, was ich wahrnehme, gebe ich auch Auskunft über mich und darüber, wer und wo ich gerade mit Geist und Seele bin.
Lena Uphoff
18.03.2013

„Ich nehme wahr, dass es dir nicht gut geht“, sagt Lore , eine gute Bekannte, zu mir, als wir aus dem Kino gehen. Ich mag sie genau deshalb, weil sie solche Sätze formuliert – behutsam, unauf­dringlich und doch zugewandt: Ich nehme wahr... Das heißt auch: Ich kann mich irren, aber du hörst, dass du mir nicht unwichtig bist.   Ich schau dich an. Und ich sage dir, was ich sehe. Darin wiederum steckt die Aufforderung: Erzähle mir von dir, sage mir, wie es dir geht. Ich antwortete Lore: Nein, mir gehe es gut, ich sei nur etwas müde, weil ich mit der Fastenaktion „7 Wochen Ohne“ so viel unterwegs gewesen sei. „Schön“, sagte sie und atmete hörbar auf,   „das freut mich sehr. Aber du siehst wirklich müde aus, gönne dir etwas, ruhe dich aus.“

Nun muss ich verraten, dass die Hermeneutik – die Philosophie der Wahrnehmung – für mich eine der wesentlichen Errungenschaften der Neuzeit ist. Ihren maßgeblichen Begründer Hans-Georg Gadamer habe ich leider nie kennengelernt, obwohl ich mehrfach nahe an ihm dran war. Er starb im März 2002 im gesegneten Alter von 102 Jahren. Ich besuchte damals oft Menschen  in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in Heidelberg-Ziegelhausen und hoffte, ihn wenigstens einmal persönlich zu erleben. Leider hat es sich nie ergeben.

Die Wahrheit, sagt Gadamer, ist eine Sache der Erfahrung und des Gesprächs. In der Auseinandersetzung mit Menschen, mit Theorien und Kunstwerken überprüfe ich, was meine Wahrnehmung wert ist. Dazu muss ich sie äußern, mitteilen, aber eben nicht als abgeschlossenes Urteil, sondern als meine Einschätzung.

Die Kombination aus Mitteilungsfreude und erkennbarer Rela­tivierung meines Urteils finde ich auch im Umgang mit Dingen wie dem „Heiligen“ in einer religiös vielfältigen Gesellschaft von größter Wichtigkeit. Bei dem Theologen Ingolf Dalferth habe ich zum Beispiel den wunderbaren Gedanken gelesen: Nicht der Ort ist heilig, unsere Wahrnehmung heiligt ihn. Oder etwas schlichter: Was für die eine ein Schafstall ist, erweist sich für ihren Nachbarn als Heiligtum.

Menschliche Erkenntnis angesichts Gottes bleibt vorläufig

Diese hermeneutische Theologie ist im Übrigen eine Grund­lage für eines der besten Lernergebnisse der Christen in der Tradition der Reformation. Die gerade 40 Jahre alte Vereinbarung ­unterschiedlichster Kirchen und Gemeinschaften trägt den Namen „Leuenberger Konkordie“ und ermöglicht Menschen, gemeinsam Abendmahl zu feiern, die damit durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen verbinden. Für die einen heißt Abendmahl die Erinnerung an Jesu letztes gemeinsames Essen mit seinen Freunden, bei dem er sagte: Wenn ihr Brot und Wein zu euch nehmt, bin ich in Speis und Trank symbolisch bei euch. Für die anderen ist Jesus Christus tatsächlich in Brot und Wein mit Leib und Blut existent, für Dritte ist er substanziell gegenwärtig in der gemeinsamen Handlung, im Nachsprechen von Jesu Worten.

Viereinhalb Jahrhunderte trennten reformierte und lutherische Christen ihr Verständnis des Abendmahls und machten Gemeinsamkeit am Tisch unmöglich. Die Leuenberger Konkordie ist ein Zeichen dafür, wie viel Unterschied aber echte Gemeinschaft aushält. Gemeinschaft zum Beispiel in der Einsicht der Vorläufigkeit menschlicher Wahrnehmung angesichts der alles menschliche Maß übersteigenden Wahrheit Gottes.

„Ich nehme wahr...“ heißt: Ich versuche zu verstehen und bin bereit, aus dem Verständnis des anderen – eines Kunstwerks, einer religiösen Handlung, eines anderen Menschen – auch mich selbst neu verstehen zu lernen. Indem ich beschreibe, was ich wahrnehme, gebe ich auch Auskunft über mich und darüber, wer und wo ich gerade mit Geist und Seele bin.

Nun gibt es Momente, in denen die Vorsicht des „Ich nehme wahr“ unfreiwillig komisch wird, zum Beispiel wenn es um eigene Gefühle geht. Ich nehme wahr, dass ich mich über deine Worte geärgert habe. Ich nehme wahr, dass ich positive Gefühle für dich empfinde – das ist Schwurbel, wie Eckhard Henscheid sagt. Das heißt: Ich habe mich geärgert, aber ich liebe dich. Nehme ich wahr, dass Sie mich trotzdem verstanden haben? Das würde mich wirklich freuen.

Permalink

Das Wunder, das nur der Heilige Geist vollbringen kann, ist, dass viele Menschen dasselbe wahrnehmen, so wie in der Apg beim Pfingstereignis. Weil wir aber den Heiligen Geist nicht herbeizitieren können, müssen wir es Gottes Gnade überlassen (um die wir aber auch bitten können) uns gemeinsam den Heiligen Geist zu schenken, wodurch der Hörer den Sprecher so versteht, wie er es gemeint hat und wodurch das Wort des Sprechers beim Hörer ins Herz dringen kann.
Die einen haben eine bessere Wahrnehmung als andere und das hat etwas mit der Gabe der Sensitivität zu tun. Dazu kann ich 2 Bücher empfehlen:
Lüling, Christa u. Dirk
Lasten tragen – die verkannte Gabe, Asaph Verlag, 160 S.
Elaine N. Aron
Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen, mvgVerlag, 376 S.
Manche sind durch ihre Sensitivität in der Lage gleich zu spüren, wo sie in ihrer Kirchengemeinde gebraucht werden und fangen an Lasten zu tragen, was aber auch zu einem Problem werden kann, wenn sie nicht bedenken, dass sogar Jesus dem sich Aufopfern Grenzen gesetzt hat.
Ihre Ausführungen sind sehr anregend! So habe ich auch darüber nachgedacht wie unsere unbewältigten Erlebnisse, die oft tief in uns vergraben, trotzdem unsere Wahrnehmung so verzerren, dass wir uns verfolgt oder ungeliebt fühlen, obwohl kein Anlass dazu besteht, usw.
Die Frage wäre: Wie heilen wir unsere Wahrnehmung?
Danke für Ihren Beitrag, er war sehr anregend!

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.