Lena Uphoff
15.11.2010

Hat mich jemals ein heiliger Schauder ergriffen? Nein. Und niemals schwor ich bei allem, was mir heilig sei. Nie habe ich jemandem etwas hoch und heilig versprochen. Ich benutze keine geweihten, also geheiligten Geräte. Ich fahre nicht an heilige Orte, um dort heilsame Gebete zu sprechen oder in heiligen Wassern zu baden. Ein Sammler bin ich nicht, so kann ich auch keinem meine kleinen Heiligtümer zeigen. "Heilig" gehört nicht zu meinem alltäglichen Vokabular.

Als heilig bezeichnen fast alle Religionen jene Dinge und Erscheinungen, die Gegenstände ihrer Ehrfurcht und Verehrung sind. Dinge und Erscheinungen, in denen sie eine Beziehung oder eine Berührung mit Gott, den Göttern oder dem Göttlichen erfahren. Heilig ­ das sind die Spuren der Transzendenz in der erfahrenen Wirklichkeit, die Verbindungen zwischen Himmel und Erde.

Das Heilige steht also für Zeichen, Orte und Zeiten, deren Menschen nicht mit ihrem puren Verstand Herr werden können. Glücks- oder Schreckenserfahrungen aus einem Teil der Wirklichkeit, der ihnen nur durch die Erscheinungen des Heiligen offenbar wird.

Der Protestantismus ­ so hat es der Religionssoziologe Peter L. Berger formuliert ­ hat alles Heilige, alle Verbindungen zwischen dem Himmel und der Erde gekappt, bis auf eine: das Wort. Ich möchte Bergers Definition geringfügig ergänzen: Die Menschen, Gottes ebenbildliche Geschöpfe, bilden als Gläubige die Gemeinschaft der Heiligen ­ Gefäße für die Offenbarung Gottes. Sie bewahren die Schöpfung.

Ein karges Programm, ein sprödes Konzentrat: Heilige Schrift und Gemeinde der Gläubigen als einzige Vergegenwärtigungen des Göttlichen. Keine besonders heiligen Orte, keine Fetische, keine Reliquien, keine Verwandlungen, Anverwandlungen und Wunder, keine Mythen und nur ein paar wenige, sehr blasse Riten. Die goldenen Kälber sind eingeschmolzen, heilige Wundertäter kann man nicht um Hilfe bitten. Amen.

Also, was ist mir als evangelischem Christen heilig? Das dicke Buch, das von Menschen und ihren Erfahrungen mit Gott und dem Leben erzählt. Und das Abendmahl als Zusammenkunft derer, die im gemeinsamen Glauben an Jesus Christus zum Heil finden.

Diese Reduktion auf Schöpfung und Glauben, der Verzicht auf Mysterien und erbetete Wunder, macht frei. Religion ist überall, weil Gott allgegenwärtig ist. Gebete lassen sich in ihrem heiligen Mehrwert nicht steigern, wenn man sie an einem besonderen Ort spricht. Es kommt auf die Menschen an, die glauben, und nicht auf die Heiligkeit der Inszenierung.

Diese Freiheit der Christenmenschen ist nicht jedermanns Ding. Viele empfinden den frischen Wind der Reformation als kalte Zugluft, die frösteln macht. Sie hätten es lieber weniger frei, dafür aber wärmer. Ein heiliger Antonius, der einem nach dem entsprechenden Stoßgebet hilft, die Autoschlüssel wieder zu finden, hat schon was. Die kleinen Objekte der Verehrung und Anbetung machen das Leben bunter und munter.

In der Begrenzung des Heiligen auf den Glauben als Akt der Offenbarung Gottes verbirgt sich eine universale Erweiterung, eine Loslösung von jeglicher Enge, ein unendlicher Raum für die individuelle Wahrnehmung des Göttlichen. Die unbegrenzte und unbegrenzbare Fülle des Guten lässt sich dort erleben, wo Menschen einander in Liebe begegnen. Eine Liebe, die das menschliche Maß überschreitet, weil sie von Gott kommt ­ das ist der Ausdruck des Heiligen, das keiner Rauchschwaden, keiner Opfer und keiner Beschwörungsformeln bedarf. Wer das Allerheiligste, die Liebe Gottes also, zum Ziel seiner Existenz macht, wird keinen Menschen nur deshalb verachten können, weil er hin und wieder leichter in heilige Stimmung gerät, wenn er eine Kerze anzündet, in heiligen Flüssen badet und ein wenig Weihrauch in die Luft schwenkt. Die unendliche Vielfalt, mit der Gott in der Welt erscheint, macht jedes Urteil über das Heilige zu einem Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit, ihn zu erfassen.

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