Foto: Sven Paustian
Lena Uphoff
19.07.2012

Der Weg ist das Ziel. Die Heimat des Heimatlosen ist der Weg. Seltsam. Je mehr mir weltweit virtuelle Freundschaften ange­boten werden, desto mehr sitze ich zu Hause. Die Wanderschaft reduziert sich auf ein paar Klicks, der Weg auf einige Sekunden Warten, bis sich eine neue Seite auf meinem Bildschirm öffnet.

Und dann begegnen mir an einem höchst geselligen Abend Leute, die geradezu euphorisch beschreiben, wie sie sich gefühlt haben nach einer mehrtägigen Fernwanderung. Sie reden davon, „sich mal wieder erlebt, gefühlt, gespürt, erfahren zu haben“. Über die Alpen ist einer von ihnen gewandert, von Oberstdorf bis ­Meran. Sein Gegenüber, eine sehr erfolgreiche Anwältin, schwärmt vom Camino de Santiago, dem uralten Wallfahrtsweg in den Nordwesten Spaniens.

Ich denke an meine Vorfahren - die Jäger und Sammler

„Und du?“, fragen sie mich, „was machst du im Urlaub?“ Wir sind dereinst auch lange Strecken gewandert. Von Pforzheim nach Basel über den Schwarzwald, auf dem sogenannten Westweg. Wir fuhren mit dem Fahrrad von Passau nach Wien. Schön war’s. Aus gesundheitlichen Gründen geht das nicht mehr. „Du Armer“, werde ich großzügig bemitleidet. Finde ich nett, aber überflüssig.

„Ja fehlt dir denn nichts?“, fragt die Wallfahrerin. Und der ­Alpenüberquerer erzählt von „Körperlichkeit“. Und ich denke an meine Vorfahren, die Jäger und Sammler. Die wanderten durch die Welt oder rannten oder schleppten sich, um zu leben. Kein Gepäcktransport, keine Anreise zu einem spektakulären Startpunkt mit Unterbringung im Viersternehotel, keine Bankkarten und -automaten.

Es geht nicht ums Sein, sondern ums Bewusstsein

Die Alten hätten es als Ankunft im Gelobten Land empfunden, von aller körperlichen Mühe befreit zu sein. Ankommen, hin­setzen, bestellen: Das Essen kommt. Aufstehen, einchecken, duschen, schlafen. Sich spüren! Wenn ich das schon höre! Ich spüre mich auch, wenn ich meinen Keller aufräume, wenn ich diesen Text in die Tastatur hacke, wenn ich mich vor dem Fernseher fläze. Es geht nicht um das Sein, hat ein kluger Mensch namens Friedrich Hegel mal erklärt, es geht um das Bewusstsein.

Offenbar brauchen wir aber hin und wieder den Wechsel in eine andere Wirklichkeit, einen Ausstieg aus dem Alltäglichen, um uns unserer Existenz aufs Neue bewusst zu werden. Oder ist das jetzt schon zu viel gesagt? Was ist, wenn der Wechsel das Alltägliche ist? Muss man sich dann einsperren, an einem bestimmten Ort, um sich selbst wahrzunehmen?

Das Raunen vom Göttlichen

Ja, in der Tat. Und auch dafür gibt es Anbieter. Kontemplation und mystische Erfahrung auf Bestellung, Kloster auf Zeit, „mich spüren“, wenn ich aufhöre, mit allerlei Geräten wie Phones und Pads auf Sendung und Dauerempfang zu sein. Und selbst­verständlich ist das ein ernstes Thema für Massenmedien, die rechtzeitig zum Sommer für eine „digitale Diät“ werben. Ohne kommerzielle Interessen? Mag sein.

Gerne wird in diesem Zusammenhang dann von Gott oder wenigstens vom Göttlichen geraunt, das in der Stille hörbar werde oder auf der Wanderung greifbar. Man kann übrigens bei den Internet-Reiseanbietern auch beides in Kombination haben: Matterhorn am Morgen, spirituelles Ermatten ohne Horn am Abend.

Gott in den Augen meines Kumpels begegnen
– das ginge doch auch

Ja, kann sein, dass sich bei manchen der Offenbarungskanal am leichtesten unter derartigen Anreizen öffnet. Ich höre aber mindestens genauso gerne jenen zu, die begeistert von einem schönen Abend mit ihren Nachbarn, zu fettem Essen und köstlichen Getränken erzählen. Oder jenen, die „am liebsten einfach gar nix machen“. Wie ist es, wenn einem in den Augen der Nachbarin oder des Sportkumpels, beim Witze-Erzählen oder Rasenmähen Gott begegnet? „Ein Gott – Milliarden Offenbarungen“, hat der große Theologe Heinz Zahrnt mal gesagt.

So. Und was machen wir jetzt? Den Weg suchen, wie wir über uns selbst hinausfühlen, -sehen, -hören können? Hegel reicht nicht, jetzt kommt auch noch Picasso zu Wort: „Ich suche nicht. Ich finde.“ Na also. Einen entdeckungsreichen Rest des Sommers!

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