Felix EhringLena Uphoff
20.09.2011

Es ist Zeit, dem Schicksal deutscher Arbeitsmigranten mehr Aufmerksamkeit zu schenken: Sie ziehen vom Osten in den Westen der Republik, und vom Norden in den Süden. Sie müssen sich in einem fremden Umfeld behaupten, fremde Dialekte verstehen, mit Grummel- und Gurgellauten; sie müssen auf das Lieblingsbier verzichten und – im schlimmsten Fall – sogar eine Kehrwoche einhalten.

Sicher: Man kann in der Fremde eine neue Heimat finden, sich integrieren und sogar (!) lernen, Apfelwein zu trinken. Aber man kann nicht mit dem Umzug den Lieblingsverein wechseln. Es bleibt nur, aus der Ferne mitzufiebern. Aber wer Glück hat, findet in der neuen Heimat eine Fankneipe seines Vereins, wo Gleichgesinnte jubeln – und leiden.


In Frankfurt am Main gibt es so eine Kneipe, deren Name „Nord²“ Programm ist: Gezeigt werden die Bundesliga-Spiele der Nordclubs. (Sollte ein Anhänger des VFL Wolfsburg diesen Blog lesen, was bei der angemessen geringen Anzahl von VFL-Fans unwahrscheinlich ist: mit Nordclubs sind der Hamburger SV, Werder Bremen und St. Pauli gemeint.) Dazu gibt es Bier aus dem Norden, plüschiges Mobiliar aus den 1970ern und Geweihe an den Wänden, was an die Kneipen am legendären Hamburger Berg erinnert. Unvermeidbarerweise gibt es auch das geschmacklich fragwürdige Modegebräu Astra.

Der Zweckoptimismus hält eine Minute

Vergangenen Samstag auf dem Spielplan des Nord²: das HSV-Spiel gegen das große Wolfsrudel aus der VW-Stadt. Die Diaspora findet sich pünktlich ein, unter den Gleichgesinnten ziehen einige, von zustimmend-verschwörerischen Blicken begleitet, ihre Jacken aus und präsentieren die Trikots. Auch die Dame hinter dem Tresen trägt auf ihrer Trainingsjacke im Retrostil die Raute.
Zum Anpfiff sind alle Fragen offen, es steht viel auf dem Spiel: Was zeigt die Mannschaft mit dem nächsten neuen Trainer Thorsten Fink? Hält die Abwehr? Ein ganz vorsichtiger Zweckoptimismus breitet sich aus. Er hält eine Minute. Dann der Schock. Dennis Aogo bolzt den Ball ohne Not mit dem Außenrist direkt zum Gegner, der kommt zur ersten Flanke, Mandzukic köpft zum 0:1 ein – so unbedrängt wie ein Diätberater auf der Anuga.

„Und, wo kommst du her?“

Stille in der Kneipe, ungläubiges Kopfschütteln. Jetzt zeigt sich, weshalb man sich trifft: Man kann das Leid, den Schmerz in Augen und Herz besser gemeinsam verkraften. Ganz langsam berappelt sich der HSV danach, in der Kneipe entwickeln sich Gespräche über die Sorglosigkeit Gojko Kacers und über die Tatsache, dass der HSV auch viel Pech hat und alle Abpraller beim VFL landen. Und was macht Westermann da eigentlich? Man versteht sich, man stimmt sich zu und muntert sich auf. Immer wieder Töre als Antreiber, technisch makellos, den Ball immer genau an der Fußspitze.

Als in der zweiten Halbzeit der Ausgleich fällt, wird das HSV-Lied eingespielt. „Wer wird Deutscher Meister? HahahaHAESVAU“, heißt es da. Das Lied ist schon, naja,etwas älter (zum Anhören hier klicken). Die Arbeitsmigranten im Zeichen der Raute schließen flüchtige Bekanntschaften: „Und wo kommst du her? Ach, Othmarschen, direkt neben dem Stadion!“ Der andere nickt leidend. Man hätte ihn nicht zu erinnern brauchen, dass er nun in Frankfurt wohnt – einer lebenswerten Stadt, aber um die eigene Mannschaft mal auswärts zu sehen, muss man in dieser Saison nach Mainz fahren.

Am Ende wird es ein 1:1, obwohl deutlich mehr drin war für den HSV. Hinterher gibt es Rockmusik, ein Pärchen knutscht, ganz so, wie nachts in einer der sympathisch-schäbigen Kiez-Kneipen von St. Pauli. Im Hintergrund dröhnt AC/DC: das Einlauflied von St. Pauli. Das stört im Nord² keinen HSV-Anhänger. Denn auch der FC St. Pauli ist weit weg. Immerhin.

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