15.11.2010

Trubel in einer Einkaufspassage. Ein Betrunkener pöbelt eine junge Frau an, reißt an ihrem T-Shirt, versucht, sie zu küssen. Die Frau schreit um Hilfe. Passanten bleiben stehen, schauen zu. Erst eine Polizeistreife, die zufällig vorbeikommt, nimmt den Mann fest. - "Steh auf, du alter Sack! " Ein paar Jugendliche zerren einen älteren Mann von seinem Platz in der Bahn. Die anderen Fahrgäste rühren sich nicht. - Ein kleiner Junge sitzt auf einer Parkbank und wird von einem freundlichen Mann angesprochen. "Magst du Süßigkeiten?" Ja, sagt das Kind. "Kommst du mit? Ich spendiere dir ein Eis! " Nach kurzem Zögern nickt der Junge und geht mit dem Fremden weg. Zwei Frauen, die auf der Parkbank daneben sitzen, sehen ihnen nach.

Nein, die "Moral aus der Geschicht'" lautet nicht: Frauen sollten gefährliche Gegenden meiden, Kinder dürfen von Unbekannten nichts annehmen oder: Ältere Leute müssen vorsichtig sein. Sondern: Es braucht einen Menschen oder mehrere, die den Mumm haben, sich einzumischen. Schon klar, es fällt nicht leicht, jemandem in den Arm zu fallen, den man nicht kennt - zum Schutz eines anderen, den man auch nicht kennt. Man könnte selbst verletzt werden oder sich gar eine Anzeige wegen Körperverletzung einfangen, wenn man beim Helfen richtig hinlangt. Andere sind zu träge, zu gleichgültig, um noch wahrzunehmen, dass ein Mensch tatsächlich in höchster Gefahr schwebt.

Aber was ist mit denen, die, wenn sie überleben, immer wieder die Szenen der Gewalt vor sich sehen, Gesichter erinnern, die nur gegafft oder weggeschaut haben? Ihr Leben wird nicht allein von den seelischen und körperlichen Verletzungen, die sie davongetragen haben, begleitet sein. Ein Mensch, dem niemand zur Seite stand, als es darauf ankam, kann kein Vertrauen mehr haben. Er wird misstrauisch, menschenscheu, plagt sich mit Hassgefühlen und Trauer. Und selber? Wenn man zugesehen hat, statt einzugreifen? Verdrängen hilft bestenfalls eine gewisse Zeit.

Verdrängen hilft bestenfalls eine gewisse Zeit.

Irgendwann bohrt es sich wieder in das eigene Bewusstsein: Ich habe zugelassen, dass ein Mensch nie mehr so leben können wird wie zuvor. Man wird besorgt, ob einem andere beistehen, wenn man sie braucht. Helfen ist nicht leicht. Aber es geht, wenn man rechtzeitig damit anfängt. Die Kollegin kommt von ihrem Aufenthalt in einem Sanatorium zurück und ist trotzdem völlig ausgebrannt. Ein Mitarbeiter zieht mit wehender Alkoholfahne durchs Haus. Auch das sind Gelegenheiten, die beherztes Eingreifen erforderlich machen - will man nicht gemütlich zusehen, wie die Kollegin das nächste Mal zusammenbricht und der Mitarbeiter sein Leben selbst ruiniert.

Voraussetzung, um helfen zu können, ist gesundes Selbstbewusstsein. Ich muss wissen, wofür ich einstehe, was mir andere wert sind. Jeder und jede von ihnen hat einen Namen und ein Gesicht, ob ich sie kenne oder nicht. Ich muss bereit sein, meine Überzeugungen in die Tat umzusetzen. Nicht leichtsinnig oder übereilt, sondern mit Hirn und Herz. Manchmal langt es, mit ruhigen Worten eine Auseinandersetzung zu schlichten. Ein andermal wird es nötig sein, jemanden etwa mit seiner Sauferei direkt zu konfrontieren und ihm keine Ausflüchte zuzugestehen. Man kann einem Menschen den Raum eröffnen, den er braucht, um zu erzählen - ohne gehetzt zu werden.

Oder man holt Hilfe, weil man nur mit vereinten Kräften, zum Beispiel gegen Gewalttäter, etwas erreichen kann. Es gibt viele, ganz unterschiedliche Möglichkeiten, anderen beizustehen. Um dann, wenn man es mit Zittern und Zagen geschafft hat, zu spüren: Die Wahrheit zu sagen und zu tun, das macht frei.

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