15.11.2010

Die U-Bahn fährt ein und ich freue mich, in dem leeren Waggon einen Sitzplatz zu ergattern - endlich mal keine drangvolle Enge mit fettigen Pferdeschwänzen in meinem Gesicht und Walkman-Geplärr im Ohr. Zeit und Ruhe zum Lesen ... Da steigt ein älterer Herr ein und setzt sich mir direkt gegenüber. Nein, bitte nicht, denke ich, ziehe zwar höflich meine Füße ein, halte mir aber mein Buch energisch vor die Nase. Ich will mich jetzt nicht unterhalten! Meine nonverbalen Signale stören ihn nicht. Munter fängt er an zu plaudern - über das Wetter, sein Enkelkind und den letzten Besuch in der Schweiz. Was tun? Zähneknirschend zuhören, den Monolog ertragen und nur hie und da ein ödes "Ach ja?" oder "Na so was! " einflechten? Es ist nicht leicht, mit Menschen umzugehen, die ihre Mitteilungsbedürfnisse oder ihre Neugier rücksichtslos durchsetzen.

In öffentlichen Verkehrsmitteln ist es wie im Wartezimmer eines Arztes an der Tagesordnung, dass sich irgendjemand zielsicher den Platz neben einem aussucht, obwohl überall noch welche frei sind. Dieser Attacke folgt häufig ein sinnfreies Gespräch über alles und jedes. Oder man muss sich mit einem interessierten und dann auch noch kommentierenden Blick in die Lektüre auseinandersetzen, die man alleine genießen wollte: "Ein spannendes Buch? Also ich lese ja gerade einen Roman. Lesen Sie auch gerne Romane?" Selbst in einem unbesetzten Restaurant kann es passieren, dass akkurat der Tisch von neuen Gästen in Beschlag genommen wird, der direkt neben dem eigenen steht. Ärgerlich, wenn sie dann auch noch lange Ohren kriegen, um kein Wort von dem traulichen Gespräch zu verpassen, das man mit dem eigenen Ehemann gerade zu führen gedachte.

Alles einfach über sich ergehen lassen? Nein. Warum nicht den ganzen Mut zusammennehmen und ganz einfach die Wahrheit sagen, statt sich gründlich nerven zu lassen? Es wäre falsch verstandene Nächstenliebe, sich der Aufdringlichkeit anderer zu unterwerfen. Denn es geht auch um die eigene Lebenszeit - kostbare Minuten oder Stunden, die man eigentlich ganz anders nutzen wollte und sollte. "Entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte mich nicht unterhalten" oder "Ich würde gerne in Ruhe lesen" sind Sätze, die anderen höflich, aber unmissverständlich deutlich machen: Ein Rückzug wäre angebracht. Hilft diese Klarheit nicht weiter, ist das Gegenüber trotz allem nicht auszubremsen oder stört durch stumme, aber aufgedrängte Nähe, empfiehlt es sich, aufzustehen und zu gehen: zu einem anderen Platz oder aus dem Raum.

Unliebsame Zuhörer kann man übrigens auch zur Raison bringen: Indem man urplötzlich zu schweigen beginnt, ihnen direkt und intensiv ins Gesicht schaut. Es gibt guten Grund, für das eigene Wohlergehen Sorge zu tragen - ansonsten ist man am Ende eines Tages oder einer Woche am Ende seiner Kraft. In der Bibel heißt es immer wieder in ähnlicher Weise "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" (Psalm 31,9). Jeder Mensch braucht Distanz zu anderen, muss ungestört sein können, wenn ihm danach ist - auch dort, wo andere sind.

Manchmal allerdings verlockt einen ein fremder Mensch durch seine Worte, sein Gesicht doch zu einem Gespräch - und man vergisst, auszusteigen. Dafür hat man dann vielleicht eine faszinierende Lebensgeschichte gehört, eine Freundin gewonnen oder womöglich die große Liebe gefunden. Man muss halt spüren, wann es an der Zeit ist, Platz neben sich zu machen und zuzuhören ...

Liebe Leserinnen und Leser, darf man sich einem Gesprächsversuch einfach entziehen, wenn da doch einer offenbar bedürftig ist - mitteilungsbedürftig? Schreiben Sie uns über www.chrismon.de. Susanne Breit-Keßler können Sie auch auf dem chrismon-Podcast "Segensreich" hören

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