Susanne Breit-Keßler über das Hadern und den beherzten Blick nach vorn
15.11.2010

Die Familie sitzt im Restaurant. Nach langem Grübeln wählt die Mutter Forelle blau. Als das Essen serviert wird, schaut sie auf die Teller von Mann und Tochter und sagt: "Ach, ich hätte doch lieber was anderes nehmen sollen." So war das bei uns immer. Stets hat meine Mutter ihre eigene Wahl bedauert. Hätte, könnte - manchmal eine harmlose Eigenheit. Irgendwann tönten mein Vater und ich gleich beim Auftragen im Chor: "Ich hätte doch was anderes nehmen sollen! "

Meine Mutter musste mitlachen. Sie konnte halt die Qual der Wahl nicht recht aushalten. Daheim wurde eisern gespart. Wenn man dann richtig zugreifen darf... Gelegentlich ist es die Fülle von Möglichkeiten, die einen frustriert mit der eigenen Entscheidung zurücklässt - und der Ahnung, was es noch alles gegeben hätte.

Oder was man verpasst hat oder vermasselt. Die Chefin gibt dem Mitarbeiter eine unfaire Beurteilung. Vielleicht trägt sie ihm nach, dass er sie bei der Teambesprechung neulich heftig und ziemlich persönlich kritisiert hat. Hätte er nur einen angemessenen Ton angeschlagen und konstruktive Vorschläge gemacht! Der Elfmeter ist verschossen - und damit die Chance zum Ausgleich futsch! Man hadert mit sich und der Welt - wünscht sich zurück in die Situation, um es dann besser zu machen. Alles wird wieder und wieder durchgespielt.

Das bringt keinen Schritt weiter. "Dumm gelaufen ist auch eine Realität", sagt ein Freund von mir nüchtern, wenn jemand nur zurückschaut, statt vorwärts zu denken und zu handeln. Besser, man akzeptiert, was geschehen ist und damit auch das eigene Verhalten. Man patzt halt gelegentlich oder sagt akkurat das, was man denkt. "So bin ich" - diese Einsicht hat etwas Befreiendes. Wer sich ungerecht behandelt gefühlt hat, muss seine Position deutlich vertreten und Protest einlegen.

Es kann auch sein, dass andere einen kapitalen Fehler machen. Die Cousine ist im Krankenhaus falsch behandelt worden, man hat den Grund für ihre Rückenschmerzen nicht rechtzeitig erkannt. Es könnte ihr längst besser gehen, hätten die Ärzte genauer hingeschaut. Oder der Vater vertraut Immobilienberatern, die ihm für viel Geld ein Objekt andrehen, das nur kostet, aber nichts einbringt. Von seiner Rente hat er dadurch noch weniger. "Hätte, könnte" - es tut richtig weh, wenn man unter schlimmem materiellen oder gar gesundheitlichen Schaden leidet.

Das Hadern mit der Welt ist verständlich. Es kann ein wenig geringer werden, wenn es gelingt, sich sein Recht zu holen. Oder wenn wenigstens eine Begegnung möglich ist mit denjenigen, die einem einen solchen Verlust zugefügt haben - und die dann einsichtig sind und von sich aus das Ihre tun, um Abhilfe zu schaffen. Es gibt auch eigenes und fremdes Versagen, das das ganze Leben nachhaltig und unwiderruflich verändert. Hätte er besser aufgepasst bei dieser Einfahrt ... Wäre sie an dem Tag nicht in genau dieses Lokal gegangen . . .

Hätte, könnte. Es kann einen schier zerfetzen, wenn man die Alternativen zu dem bedenkt, was an Unglück und Leid geschehen ist. Es braucht viel Zeit und vielleicht fremde Hilfe, um das eigene Schicksal oder das eines anderen irgendwann annehmen zu können - wenn überhaupt. Manchmal, wenn die eigene Kraft dazu nicht mehr reicht, hilft nur die tapfere Bitte des Vaterunsers: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern" (Matthäus 6,12). Dann kann man sich vielleicht ganz langsam versöhnen - mit sich, mit anderen, mit diesem Leben.

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