Und wenn, dann höchstens zum Spazierengehen. Susanne Breit-Keßler über die erwachsene Kinder und Eltern, die sich neu verlieben
15.11.2010

Mama zwitschert am Telefon. Solche Töne hat Ingo bei seiner 78-jährigen Mutter lange nicht gehört. "So fröhlich?" Munter plaudert Frau Krüger über Wetter und Einkäufe. Am nächsten Wochenende besuchen Ingo und seine Frau Diana die alte Dame im Heim. Sie kommt ihnen atemlos, mit roten Wangen und ungewohnt schnellem Schritt entgegen. An ihrer Seite ein gar nicht so alter Herr im Anzug, mit fliederfarbenem Hemd und silberner Krawattennadel. "Das ist Herr Sandner", flötet Ingos Mutter. "Wir waren spazieren." Ingo beschleicht ein ganz bestimmter Verdacht. Seine Mutter ist verliebt! Mit 78! Ihr Auserwählter ist mindestens sieben Jahre jünger.

Auf der Heimfahrt bricht es aus Ingo heraus: "Stell dir das mal vor - in ihrem Alter. Dass sie sich nicht schämt..."Ingos Fantasie geht mit ihm durch, und er malt sich aus, was die Frau Mama mit diesem Sandner alles treibt. Selbst erwachsenen Kindern fällt es schwer zu akzeptieren, dass Eltern Sehnsucht nach Zärtlichkeit haben und Freude an Erotik - auch in höherem Alter. Mütter und Väter scheinen geschlechtslose Wesen zu sein. Sie werden bei aller Kritik zugleich auf ein Podest gehoben, sollen über den Dingen stehen, dem hehren Bild entsprechen, das man sich von ihnen macht und machen möchte.

Kinder sehen es nicht gerne, wenn Eltern mit den scheinbaren Niederungen des Lebens zu tun haben. Mit dem, was sie im eigenen Inneren vielleicht doch als nicht ganz saubere Sache betrachten. Außerdem gehört Sex zur Jugend: In Werbung und Filmen sieht man schlanke, schöne Zwanzigjährige sich näherkommen - Runzeln und Falten, welkende Körper passen nicht ins Bild. Von Eltern wird angemessenes Verhalten erwartet, erst recht, wenn sie alt geworden, verwitwet sind: zur Gymnastik gehen, vielleicht ein Seniorenstudium beginnen, die eine oder andere kleine Reise, Bridge oder Schach spielen, Mitgliedschaft im "Club der über 50-Jährigen". Aber kein Sex.

Schon gar nicht mit jemandem, der den verstorbenen Vater, die dahingegangene Mutter "ablöst". Es kann wehtun zu sehen: Eltern können auch einen anderen Menschen zärtlich lieben nicht nur den Menschen, der einem selber Vater oder Mutter war. Kindern kommt das manchmal wie ein Treuebruch vor. Gelegentlich steht im Hintergrund auch die selten berechtigte Sorge, Eltern könnten das Erbe verjubeln. Dann wird die moralische Keule noch heftiger geschwungen.

"Heiratsschwindler! ", "Luder! " sind dann wenig schmeichelhafte Namen, mit denen das neue Glück von Vater oder Mutter belegt wird. Anwälte müssen dem erhofften Erbe nachjagen, damit es nicht an jemand anders geht. Kinder haben die Verpflichtung, fürsorglich mit ihren Eltern umzugehen und sie vor Schaden zu bewahren. Aber sie haben nicht das Recht, in ihr Privatleben hineinzuregieren oder ihnen gar nahezulegen, es sei unanständig, was sie da tun - bis die Eltern es womöglich selber glauben. Wenn Vater oder Mutter die Gnade einer neuen Liebe erleben dürfen, egal in welchem Alter, dann ist das ein himmlisches Geschenk - und nicht von den Kindern zu kritisieren.

Bert Brecht endet seine zauberhafte Geschichte von der "Unwürdigen Greisin", die Wein trinkt, ins Kino geht und sich mit einem Handwerker anfreundet, mit den nahezu biblischen Worten: "Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen." Das ist unseren Müttern und Vätern mit weitem Herzen zu gönnen - dass sie ihr Leben in seiner Fülle lustvoll auskosten.

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