Wie die Pathosproduzenten Banales religiös überhöhen
Tim Wegner
23.10.2012

„Ich habe Kinder“, das steht schon auf Seite 12. „Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: ‚Papa, du wusstest das alles – und warum hast du dann nichts getan?‘“ Was Papa Manfred Spitzer angeblich alles wusste, wissen bald alle Deutschen, denn er wiederholt es in vielen Talkshows: Computer machen dick, dumm und aggressiv. Und jedes Mal sagt der Hirnforscher dazu, dass er nicht möchte, dass seine Kinder ihn das später fragen.

Komisch, meine Kinder fragen meistens ganz andere Sachen. Warum wir Nazis im Stadtrat haben – das haben die Kinder gerade bei Wikipedia recherchiert für ihr Politik-Referat. Warum wir immer noch Tiere essen, obwohl uns die „Chefkoch“-App täglich ein vegetarisches Rezept schickt. Und wann wir ihnen endlich eine Flatrate fürs Handy kaufen. Ja, ja, morgen werden sie andere Fragen stellen und übermorgen vielleicht gar keine mehr. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass sie uns überübermorgen fragen, warum wir ihnen nicht rechtzeitig den Computer weggesperrt haben und Fingerspiele mit ihnen geübt. Das empfiehlt der Professor ernsthaft, und das geht schon in Ordnung. Aber was soll dieses Pathos?

Banales wird religiös überhöht

Der Hirnforscher liegt im Trend. Banales kan man wunderbar religiös überhöhen mit dem drohenden Konditionalsatz: „Wenn dein Kind dich morgen fragt“. Was fragen wir Erwachsene heute unsere alten Eltern: Wo wart ihr, als eure jüdischen Nachbarn abgeholt wurden? Oder: Woran ist Onkel Hans gestorben, hat er sich umgebracht? Es gibt Fragen, die sind groß, die müssen gestellt werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich meine ­Eltern jemals gefragt hätte: Warum habt ihr mir damals nicht den Farbfernseher weggenommen? Warum habt ihr nicht Sackhüpfen mit uns gespielt statt „Bonanza“ geguckt?

„Wenn dein Kind dich morgen fragt“ steht übrigens im Alten Testament. „Wenn dein Kind dich morgen fragt, wozu all die Weisungen, Gebote und Rechtsbestimmungen gut sind.“ Gute Frage. Wozu Gebote? Weil der Mensch Grenzen braucht. Man nennt es auch Erziehung. Und die machen die meis­ten Eltern eigentlich ganz gut. Was sie dabei gar nicht brauchen, sind Panikmacher und Pathosproduzenten.

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Wie war das noch mal ? "Toleranz" üben ! Versetzen Sie sich , bitte, in die Rolle des Hirnforschers, vielleicht verstehen Sie seine Motivation dann umso besser ? Jedem das seine. Und braucht der Mensch wirklich Grenzen ? Und wer entscheidet ? Ist er nicht erwachsen ? Ob jemand "Panikmacher " ist, ist eine rein subjektive Empfindung, und Empfindungen täuschen mächtig. Was sagt die Bibel dazu, der Universalknigge in Sachen Grenzen ? Gibt es einen passenden Spruch ?

Und zwischen " Bonanza " und " Sackhüpfen " gibt es tatsächlich einen wichtigen Unterscheid: " Bonanza " gaukelte einem einlullende menschliche Wärme vor, Sackhüpfen mit Muttern, käme realer Beziehungswärme gleich. Was Sie also Ihre Mutter nicht gefragt haben, könnte daran liegen, dass die evangelische Überorientierung eine Art Kompensation bedeutete ?! Möglicherweise. Mehr liebevoller Wärme zuhause, Anregung, Phantasie, und Grenzen, sprich Erziehung, geht von selbst. Ohne Pathos, aber auch ohne Besserwisser, Moralapostel, oder Prediger. Bonanza war Vaterliebe, und das pralle Leben. Echte Männer, die noch weinen konnten, die miteinander redeten, ohne Pathos, ganz natürlich, ohne ein konformes Lächeln auf den Lippen, eher ein echtes, herzliches Lachen. Kann der Kunsthistoriker herzlich lachen? Welche Grenzen stecken hinter seiner aalglatten Fassade? Nur mal so, weil Sie "Bonanza" erwähnten :-). Welten liegen dazwischen. Während sich der eine vor dem Fernseher kuschelte, arbeitete schon der andere daran, wie er den weniger robusten, verträumten und vielleicht auch etwas verschlafenen Zeitgenossen, in nächster Zukunft übertrumpfen, sprich, ihm Grenzen setzen könnte... In einer vom Ehrgeiz zerfressenen Gesellschaft ist der Nächste ein potentieller Feind. Kinder lernen im Kindergarten nicht einfach nur zu klettern, sie lernen, warum sie klettern : weil sie höher, schneller, besser sein " wollen " als andere Kinder ! Erziehung ist Chaos und Zucht, zumindest, scheint es so zu sein ! Pathos und Panikmache wirken daher auf mich, wie ein eher unbeholfener
Versuch, für eine Wirklichkeit zu sensibilisieren, die verdammt subtil, zerbrechlich und auf Dauer, überfordernd ist. Direkte Warnungen werden eh gerne überhört, und in den Wind geschlagen ! Wie der Text der Autorin Ursula Ott beweist. " Macht Euch ja keine Sorgen." Früher sagten die heute Alten, die Schläge ihrer Eltern hätten ihnen nicht geschadet ! Heute wissen wir es aber besser ...Vielleicht fehlt dem Hirnforscher nur die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, was die kindgemässe Kommunikation mit seinen Kindern sehr einschränkt ? Man könnte zu ergründen versuchen, welche Auswirkungen im Einzelnen, mit "dick und dumm und aggressiv" im Detail , gemeint sind ? Aber eines ist sicher: die Kommunikationsfähigkeit eines Wissenschaftlers scheint sehr einseitig ausgebildet, und das religiöse Pathos bildet offensichtlich eine Art Brücke zum Empfänger . "Liebe Tochter, schlagen Sie also, bitte, nicht achtlos, seine Worte in den Wind ! "

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Sehr geehrte Frau Ott,

in Ihrem Artikel "Frau Otts endgültige Ablage. Diesmal: aufgeblasene Phrasen" schreiben Sie, Ihre Kinder hätten Sie gefragt, warum "Nazis" im Stadtrat der Stadt sitzen würden, in der Sie offenbar wohnen. Meine Kinder haben mich das noch nie gefragt.

Vielleicht sollten Sie Ihre Kinder einmal aufklären, wie Demokratie funktioniert: Menschen sitzen in Parlamenten, weil sie in Ausübung eines demokratischen Grundrechts durch mündige Bürger in Parlamente gewählt wurden. Egal ob sie links- oder rechtsextrem ausgerichtet sind oder religiösem Wahn aufsitzen.

Meinen Kindern ist das klar. Die stellen andere Fragen. Zum Beispiel: Warum ist Religion Opium fürs Volk und wie kommt es, dass die "Dealer" dieser Ware anders behandelt werden als die, welche für den Opiumhandel ins Gefängnis kommen? Oder: In Deutschland gibt es, dem Herrgott sei Dank, preiset den Herrn, keine Staatskirche. Wie kommt es, dass der deutsche Staat für die Kirche und, glaubt man dem Pontifex auch für die religiöse Vereinigung, für die Sie hier schreiben, die "Kirchensteuer" eintreibt? Oder: In Deutschland werden bekanntermaßen christliche Kirchen vom Staat aus Steuermitteln bezuschusst. Mit welcher Begründung finanzieren u. a. Nicht-Kirchenmitglieder, Millionen in Deutschland lebende Muslime, Kommunisten und Sozialisten einen Kirchenbetrieb und damit letztendlich auch einen Teil des Lebensunterhaltes seiner Angestellten, mithin auch den Ihren?

Und, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, wer legt eigentlich fest, wer ein "Nazi" ist? Wird das neuerdings von der Kanzel aus bestimmt? Oder legen gleich Sie selbst das fest? Ist es in Deutschland schon wieder so weit? Geht es wieder los, muß man sich vor dem Blockwart schon wieder fürchten?

Ein Anraten noch, beantworten Sie keine Fragen Ihrer Kinder mehr, ohne dass Sie sich selbst zuvor auf den Hosenboden und die Schulbank gesetzt haben und fleißig studierten. Nicht in den Psalmen und Versen. Wie wäre es mit dem Freiheitsbegriff nach Rosa Luxemburg? Dann geht es auch besser, wenn Sie Ihre Kinder nach den Umgang mit Andersdenkenden fragen.

Und was Ihr "Buch der Bücher" anbelangt, auch da scheinen mir auffrischende Studien Ihrerseits keine Eulen nach Athen zu sein. Wie wäre es mit etwas Demut und christlicher Nächstenliebe?

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Sehr geehrte Frau Ott,

Der Kommentar zu Ihrem Artikel steht unmittelbar darunter bei Hempel: "Umgekehrt wird ein Schuh daraus".

Denn Spitzer – und vielen anderen – geht es nicht um die Mittelstandsmami, deren Kinder sich um die Nazis im Stadtrat sorgen und nicht verstehen, warum wir immer noch Tiere essen. Ihm geht es um Kinder, die überhaupt nicht fragen. Die zu fragen nicht gelernt haben, weil die Eltern nicht mit ihnen reden. Die schon im Kleinkindalter vor dem Fernseher abgesetzt werden, stundenlang sich selbst überlassen bleiben und später kein anderes Leben kennen als das vor dem Bildschirm. Es sind die Kinder, aus denen sich die 20 Prozent Schulversager rekrutieren, aus denen nicht Fachkräfte werden, die uns Wertschöpfung einbringen (und Steuern), denen wir vielmehr einmal Hartz IV, wenn nicht gar ihren Knastplatz werden finanzieren müssen. Es geht auch nicht um Fingerspiele sondern darum, dass in Familien überhaupt gespielt wird. Spielen ist Kommunikation, an der es mangelt und die nicht einmal in allen Mittelstandsfamilien gut funktioniert.

Und weil sonst keiner zuhört, und weil auch die Politik taube Ohren hat, braucht es drastische Worte. Eben solche wie die von Spitzer

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Zitat aus dem Artikel: "Das empfiehlt der Professor ernsthaft, und das geht schon in Ordnung. Aber was soll dieses Pathos?" _________________________________ Wenn die Verdammung aller Bildschirme von der Sache her in Ordnung geht, braucht mich das Pathos nicht zu stören. Wenn der Irrtum aber in der Sache liegt, wird es auch nicht besser, wenn auf lächerliches Pathos verzichtet wird. Pathos ist eine Form, in der ein Inhalt vorgetragen wird. Man kann grundsätzlich nicht an der Form entscheiden, ob der Inhalt was taugt oder nicht. Insbesondere kann in einem nüchternen, sachlichen und freundlichen Rede- oder Schreibstil der gefährlichste Unfug verzapft werden. Das ist heutzutage und hierzulande sogar der Normalfall.

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Werner Toporski schrieb am 16. November 2012 um 12:19: "Es sind die Kinder, aus denen sich die 20 Prozent Schulversager rekrutieren" ________________________ Die Vorstellung, Fernsehen und Computer seien Schuld am Schulversagen, ist ein Irrtum. Schulversager gibt es, weil die Schule eine Sortieranstalt ist, die auf jeden Fall Versager produziert. Selbst wenn alle moderne Technik verschrottet würde oder erst ab dem 25. Lebensjahr benutzt werden dürfte, gäbe es nicht einen Schulversager weniger als heute. ____________________________ Zitat: "die uns Wertschöpfung einbringen (und Steuern)" Also mir bringt keine Fachkraft Mehrwert oder Steuern. Der Mehrwert geht an die Eigentümer der Firma, in der der Nichtschulversager malochen darf und die Steuern kassiert der Staat. Grundsätzliche und verbreitete Irrtümer darüber, wie eine Gesellschaft funktioniert, sind übrigens ein guter Nährboden für die immer wieder in der Geschichte auftauchenden Kreuzzüge gegen neue Techniken.

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Sehr geehrte Frau Ott,

ich verfolge zu wenig die Medien, um beurteilen zu können, ob Prof. Dr. Spitzer zu massiv die populistische und ggf. auch kommerzielle Anti-Welle reitet, seine Thesen erscheinen aber wissenschaftlich fundiert und es schadet meinen drei Sprösslingen sicher nicht, dass diese Bücher verschlingen und sich viel bewegen und wenig mit elektronischen Material unterwegs sind. Nur mit der Welle gibt es eine Chance, dass seine Thesen Gehör finden. Ihre Kolumne enttäuscht mich erstmals!

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