Tim Wegner
23.02.2012

Neulich im Gottesdienst. Nein, es war weder ein Kindergottesdienst noch ein extra gekennzeichneter „in einfacher Sprache“ für Menschen mit geis­tiger Behinderung. Und trotzdem wurde alles, alles angekündigt, als sei der Mensch am Sonntagmorgen, biorhythmisch bedingt, extrem schwer von Begriff. „Wenn es Ihnen möglich ist, bitte ich Sie, jetzt aufzustehen“, „Wir reihen uns jetzt ein in die Tradition der Christenheit und sprechen das Glaubensbekenntnis. Dafür bitte ich Sie, sich zu erheben“, „Um den Segen Gottes zu erlangen, wollen wir jetzt aufstehen“. Und man sitzt da und denkt: „Mach doch einfach! Singe! Bete! Gib deinen Segen!“

Im Gottesdienst ist es fast schon wie am Hauptbahnhof

Schon klar, warum Pfarrerinnen und Pfarrer das machen, alles an­moderieren. Weil sie sich nicht mehr darauf verlassen können, dass wir Gottesdienstbesucher wissen, wann was dran ist. Früher wussten wir, wann wir aufstehen sollen und warum. Die nächste Generation wusste schon nicht mehr warum – aber sie stand im richtigen Moment auf. Und jetzt trauen uns die Pfarrerinnen und Pfarrer offenbar gar nichts mehr zu. Sie werden ihre Gründe haben. Aber wenn sie gut sind, nehmen sie uns trotzdem mit, mit ausgebreiteten Armen, einem Kopfnicken, souveräner Körpersprache. Und wenn sie richtig ungeschickt sind, machen sie eine Durchsage nach der anderen. Das hört sich im schlimmsten Fall an wie auf Gleis 11 am Hauptbahnhof: „Der ICE 520 Hildegard von Bingen trifft voraussichtlich fünf Minuten später ein.“ Funktioniert schon. Ist aber nicht schön.

Die Unsitte beschränkt sich natürlich nicht auf die Kirche. Man hat das auch in Seminaren und Vorträgen. „Ich sag jetzt mal was ganz Ketzerisches“ – anstatt es einfach zu tun. Noch schlimmer: „An dieser Stelle mache ich gern den Witz...“ – wenn der Witz gut wäre, könnte man ihn doch einfach erzählen. Es ist dann ähnlich wie in der Kirche: Man traut der Kraft seiner Geste nicht, weder dem Vaterunser noch dem Witz, noch dem, huiuiui, ketzerischen Gedanken. Große Gesten stehen für sich. Jesus hat ja auch nicht angekündigt, dass er Wein in Wasser verwandelt.

Als Pfarrerin konnte ich Ihre Abneigung der Anmoderation lange Jahre gut verstehen. Es ist oft zuviel Wort drum herum, dass wir weitergeben. Doch als theologische Referentin des Dachverbandes der evangelischen Blinden- und evangelischen Sehbehindertenseelsorge (DeBeSS) muss ich Ihnen nun energisch widersprechen. Für blinde und sehbehinderte Menschen sind diese Anmoderationen im Gottesdienst nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Sie können nicht sehen, ob die Pfarrerin oder der Pfarrer vorn eine kleine Geste macht. Auch dem Ablauf der Abendmahlsliturgie folgen sie besser mit diesen kleinen Worten. Weiterhin helfen genaue Ortsbeschreibungen den betroffenen Menschen, z.B. wo das Kirchenkaffee stattfindet, während der Sehende denkt, das ist doch klar zu erkennen. Also bitte einmal nachdenken, was Menschen mit anderen Bedürfnissen und Ressourcen helfen kann und dafür eine kleine Unannehmlichkeit in Kauf nehmen!

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Zitat aus dem Artikel: "Im Gottesdienst ist es fast schon wie am Hauptbahnhof" Wirklich? Mindestens 99% der von der Bahn angekündigten Züge kommen tatsächlich an, wenn auch manche mit Verspätung. Das im Gottesdienst regelmäßig angekündigte Reich Gottes bringt es meiner Kenntnis nach nicht auf solche Trefferquoten. Da dürfte es eher so sein, dass die Ankündigung das Ereignis ersetzt. Ist selbstverständlich auch eine Sorte von Kundendienst......

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