Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon
Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon
Foto: Katrin Binner
Muster
chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott musste einsehen, dass ihr Leben doch nicht so spontan ist - sagt ihr Handy
Tim Wegner
16.04.2016

Ich hielt mein Leben bislang für wild und spontan. Ich habe zwei Wohnsitze, fünf Patchworkkinder, nutze eine Bahncard, ein Privatauto, ein ­Car2go, zwei Privaträder, ein Bahnrad, und manchmal fahre ich bei einem netten Kollegen mit, der morgens sein Kind zur Schule in meiner Nachbarschaft bringt. Manchmal weiß ich selber morgens nicht, wo ich grade aufgewacht bin. Kein Mensch, vor allem auch kein Einbrecher, so war ich bislang ­sicher, würde jemals ein Muster in meinem ­crazy Wochenablauf erkennen. Bis mein Handy mir an einem Freitagmorgen erklärte, der Weg mit meinem Auto zur Firma sei heute staufrei in 21,5 Minuten zu absolvieren. Und: Es stimmte. Woher, verdammt, konnte das Handy dies wissen? Hatte der Mitfahrkollege bei Google gepetzt? War ich auf der A 661 gefilmt worden? Ist Car2go mit Apple verheiratet?

Ganz normal, sagt unsere Onlineabteilung, die sich gerade mit Big Data beschäftigt. Der Mensch sei halt auch nur ein Datenpunkt. Viele Datenpunkte ergeben ein Muster. Bei der Polizei heißt das „predictive policing“, also vorausschauende Polizeiarbeit. Wer sich in den USA zu lange vor einem Regierungsgebäude aufhält, ist verdächtig. Passt nicht ins Passantenmuster. Wer bei ­Walmart Windeln kauft, kriegt daneben Bier angeboten – weil das Papamuster sagt: Windeln kaufen ist panne, mit Bier läufts leichter. Und Kreditkartenfirmen wissen angeblich früh, wann sich jemand scheiden lassen will – wenn einer von beiden viel Schmuck kauft. Schmuck macht bei der Vermögens­auf­teilung weniger Streit als Bargeld.

Traurige Erkenntnis: Unser Leben ist nicht crazy. Sondern langweilig und vorhersehbar. Schwere narzisstische Kränkung. Vielleicht sollte ich – ohne den Umweg mit den Windeln – eine Lage Bier kaufen und mich sehr lange vor ein Regierungsgebäude stellen. Im blödesten Fall werde ich­vorsorglich erschossen. Im besten Fall kommt der nette Kollege vorbei und fragt, was ich hier mache und ob meine Ehe gefährdet ist. Dann nimmt er mich auf der A 661 mit ins Büro. Hauptsache, ich trickse das Muster aus.

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Das klingt so, als hätte Frau Ott "Google now" nicht deaktiviert. Fehler.

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