Cornelia Coenen-MarxPrivat
15.11.2010

Müssen wir unsere Kinder strenger erziehen? Zehnjährige um sieben ins Bett schicken, das Taschengeld auf fünf Mark die Woche begrenzen, damit sie lernen, mit ihrer Zeit und ihrem Geld zu haushalten? Seit "Bild" mit Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf die Debatte eröffnete, ist Erziehung zu einem Lieblingsthema der Medien geworden. Kinder brauchen Grenzen, heißt es allenthalben, und: Erwachsene brauchen Mut zur Erziehung. Sie müssten lernen, Grenzen zu setzen und Werte zu vermitteln. Das finde ich auch. Nur: Die entscheidenden Werte wie Eigenverantwortung und Disziplin, Hilfsbereitschaft und Verlässlichkeit lassen sich nicht wie Schulstoff vermitteln. Denn das Vorbild der Erwachsenen prägt mehr als jede pädagogische "Maßnahme".

Die Diskussion um Grenzen und Werte in der Erziehung wirkt gespenstisch, wenn man sie im politischen Kontext sieht. Grenzenlos entwickeln sich die Märkte. Forschung und Wissenschaft, Schulabschlüsse und Sozialeinrichtungen stehen im internationalen Wettbewerb und mit ihnen die Wertsysteme, die sie tragen. Wir spüren das an den Debatten um Gentechnik und Sterbehilfe. Und auch Jugendliche sehen, wie schwer wir uns tun, die Grenzen des Erlaubten zu bestimmen. Da fallen Tabus und wir ringen um Werte: die Unverfügbarkeit des Lebens, menschenwürdige Pflege, die Grenzen des Anstands im Showbusiness und um Bildungschancen für die nächste Generation. "Der Ball kommt zurück", schreiben die Autoren der Shell-Studie "Jugend 2000". Einen Werteverfall unter Jugendlichen können sie nicht feststellen, wohl aber deren Einschätzung: "Erwachsene verkünden Werte, die sie nicht praktizieren."

"Je schlechter die Wirklichkeit, desto mehr bedarf es der Werte", stellt der Pädagoge Hartmut von Hentig fest. So gesehen wirft die Erziehungsdebatte ein kritisches Licht auf unsere überalterte Gesellschaft, in der Kinderfreundlichkeit nicht gerade groß geschrieben wird. Es gibt Nachholbedarf nicht nur beim Kindergeld oder bei der digitalen Vernetzung von Schulen. Die nächste Generation ist schon längst mit Grenzen konfrontiert: mit den Grenzen des Sozialstaats zum Beispiel, mit den Grenzen der Umweltbelastung von Luft und Meeren. Es liegt an uns, diese Grenzen zu respektieren und die Wunder der Schöpfung zu achten, wenn wir unseren Kindern eine Zukunft eröffnen wollen.

Die Lieblingsbücher und -sendungen dieser Generation, Harry Potter und die Pokémons, drehen sich um den Kampf zwischen Gut und Böse. Die Autorin von Harry Potter, Joanne K. Rowling, bezeichnet sich selbst als Moralistin. Ja, Kinder brauchen Werte und Grenzen, um Orientierung zu finden. Aber im Alltag, wenn der Zauber verfliegt, brauchen sie Eltern, die sich nicht über Konflikte wegmogeln, Erzieher, die mit der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit leben können. In einer Zeit, in der jedes dritte Kind in einer neu zusammengesetzten Familie aufwächst und ebenso viele ihr eigenes Fernsehgerät im Kinderzimmer haben, lässt sich ein Schonraum für Kinder nicht mehr abstecken. Sie sehen unsere Erwachsenenwirklichkeit und ziehen ihre eigenen Schlüsse daraus.

Das Beste, was wir ihnen geben können, ist gemeinsame Zeit. Für ehrliche Gespräche, gemeinsames Lernen und neue Entdeckungen. Ein guter Vater zu sein sei mehr wert als ein guter Finanzminister, hat der SPD-Politiker Oskar Lafontaine neulich gesagt. So dick muss man nicht auftragen. Aber ein bisschen davon könnte unser Wertgefüge ins Gleichgewicht bringen. Cornelia Coenen-Marx

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Motorrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.