15.11.2010

Besuch im Bundestag. Amerikanische Studenten diskutieren mit mir über Religion und Politik. Zum dritten Mal bezeichnet einer der Studenten die Evangelische Kirche in Deutschland als Staatskirche. Ich halte dagegen, nun zum dritten Mal. Ich merke: Die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bei uns sind für sie nicht leicht zu verstehen.

Die Staatskirche wurde 1919 mit der Verfassung der Weimarer Republik abgeschafft. Sind wir demnach ein laizistischer Staat, ein Gemeinwesen, in dem Staat und Kirche strikt voneinander getrennt sind? Mancher auch in unserem Land - selbst in höchsten Richterkreisen - missversteht unsere Ordnung so.

Keine strikte Trennung von Staat und Kirche

Dabei wollte die Weimarer Verfassung, deren staatskirchenrechtliche Bestimmungen unser Grundgesetz ausdrücklich fortgelten lässt, dies gerade nicht. Die Mitglieder der Nationalversammlung hatten Verfassungen mit einer strikten Trennung von Staat und Kirche vor Augen: in Frankreich, in den USA oder in der Sowjetunion, wo die Staatsmacht diese Trennung zu brutaler Verfolgung missbrauchte. Doch in Deutschland entschied man sich anders auch, weil das Volk es so wollte! Als es im revolutionären Umbruch des Jahres 1919 Bestrebungen gab, die Schule von der christlichen Tradition zu trennen, wurde eine dagegen eingebrachte Petition von sieben Millionen Menschen unterschrieben. Und so kennen die Weimarer Verfassung und ihr folgend unser Grundgesetz den konfessionell verantworteten Religionsunterricht, theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, die Anstaltsseelsorge und die Einziehung der Kirchensteuer durch die staatliche Finanzverwaltung. Auch in den Jahren 1948/1949 diskutierten die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat kontrovers über den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen - und entschieden sich für seine Verankerung im Verfassungstext.

Der Staat und die Kirchen: Unsere Verfassung trennt diese Bereiche klar - und garantiert Räume eines partnerschaftlichen Miteinanders. So nehmen die Wohlfahrtsv erbände der beiden großen Volkskirchen, aber auch jüdische und freikirchliche Einrichtungen wichtige Aufgaben im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich wahr. Der Staat unterstützt sie dabei im eigenen Interesse und achtet ihr Recht, den konfessionellen Charakter dieser Einrichtungen zum Beispiel durch die Auswahl ihres Personals zu sichern.

Laizistische Ordnungen kennen kein partnerschaftliches Miteinander

Laizistische Ordnungen kennen dieses partnerschaftliche Miteinander nicht. Die strikte Trennung von Staat und Kirche wurzelt in Frankreich in den entsprechenden Auseinandersetzungen der Revolutionszeit, in den USA in den Erfahrungen verfolgter christlicher Minderheiten, die in dieser Trennung Schutz vor staatlichen Einflüssen suchten und fanden. In der Türkei läuft die laizistisch genannte Ordnung auf eine Staatsverwaltung der muslimischen Mehrheitsreligion hinaus, was zahlreiche rechtliche und tatsächliche Schikanen für die christliche Minderheit zur Folge hat. So verbot das Oberste Berufungsgericht der Türkei im Sommer dieses Jahres dem orthodoxen Ökumenischen Patriarchen die Führung seines Titels und verneinte eine eigene Rechtspersönlichkeit des Patriarchats. Dieser staatliche Eingriff stieß international auf Empörung. Da lässt es aufhorchen, dass das Moskauer Patriarchat das deutsche Staat-Kirche-Verhältnis beim Petersburger Dialog auch für Russland als Modell empfahl: keine staatliche Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten, keine klerikale Bevormundung der Politik. Ein partnerschaftliches Miteinander zum Wohle der Menschen. Gut, wenn dies Schule macht.

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