Russland: Erzieherin auf der Krim lebt zwischen Krieg und Geldsegen

"Traue nichts und niemandem"
Militärische Ausbildung von Schulkindern in Sewastopol, Krim

STR/Gettyimages

Militärische Ausbildung von Schulkindern in Sewastopol, Krim.

Schoolchildren wear gas suits during a training in the military-patriotic program "School of Future Commanders" in Sevastopol on October 28, 2023. The training conducted under the guidance of military personnel include disciplines such as multi-sport racing, tactical medicine, and weapons handling. (Photo by AFP) (Photo by STR/AFP via Getty Images)

Seit fast zehn Jahren besetzt Russland die Halbinsel Krim. Der Wohlstand hat zugenommen, doch der Preis dafür ist hoch, berichtet die Erzieherin Emma und nimmt dafür ein großes Risiko auf sich. Für das folgende Protokoll haben wir uns über einen Messengerdienst ausgetauscht

Mitten in diesem Krieg wirkt die Krim wie eine Insel der Seligen. Russland pumpt seit der Besetzung viel Geld her. Wir haben höhere Löhne, Renten, Sozialleistungen und bessere medizinische Versorgung. Neue Straßen, neue Häuser. Wir bekommen leichter Darlehen, Hypotheken, Jobs, einen Studienplatz an der Universität (obwohl die allgemeine Schulbildung niedriger ist!). Unser Leben ist besser geworden.

Der Preis ist unsere Identität. Wir sollen sie verkaufen.

Unser Leben ist schlechter geworden.

Der Schatten des Krieges taucht alles in Schmutzgrau. Die Regierung spricht von "Befreiungsaktion", aber alles erinnert uns daran, dass wir an der Front und unter Kriegsrecht leben: fast täglich Fliegeralarme, Luftabwehr, überall stehen Militärfahrzeuge mit dem Z-Symbol. Wer das fotografiert oder auch nur von "Krieg" spricht, bekommt Ärger. Den Mund dürfen wir nur aufmachen, um unsere Regierung zu loben. Meine Freunde, die so mutig waren, ihre Meinung zu sagen, mussten die Krim schon 2014 verlassen. Für sie wurde das Leben hier unmöglich. Bei jeder Gelegenheit nahm die Polizei sie mit. Es war furchteinflößend!

Emma

Emma, 1980er Jahrgang, ist auf der Krim geboren und aufgewachsen und arbeitet dort als Erzieherin. Um sie vor möglichen Repressalien zu schützen, haben wir ihren Namen geändert.

Seit der Annexion haben wir die russische Staatsbürgerschaft. Wer die Regierung kritisiert, verliert sie und wird verschleppt.

Die Internetverbindung ist eingeschränkt. In manchen Teilen von Sewastopol, der größten Stadt auf der Halbinsel, gibt es gar kein Internet mehr. Obwohl mich Politik nicht interessiert, versuche ich informiert zu bleiben, über unabhängige Kanäle auf Telegram. Das ist gefährlich. Spitzel sollen kursieren. Ich traue nichts und niemandem mehr, nur meiner Mutter. Aber auch mit ihr kann ich nicht über meine Gefühle sprechen. Sie schaut viel Fernsehen, glaubt alles: "Die werden uns retten!"

Ich liebe meine Heimat! Die Natur ist weit, wild, sie lässt einen nie mehr los. Doch ich überlege oft, wegzugehen. Seit 2014 war ich an keinem Tag froh. Ich quäle mich pausenlos mit Fragen wie: Wie konnte es dazu kommen? Die wahren Gründe werde ich nie erfahren. Ich fühle mich belogen, von allen Seiten. Es ist, als wäre mir mein Zuhause gestohlen worden. Ich fühle, wie die Ukrainer uns hassen, ich sehe, wie die Gehirnwäsche der Propaganda unsere russischen Leute in dumme, herzlose Kreaturen verwandelt. So viele glauben, die Regierung wisse, was sie tut. Sie feiern die Soldaten, "die die Welt von den ukrainischen Nazis befreien". In der Schule schreiben meine Nichten Dankesbriefe. Ihre Mutter postet sie stolz in den sozialen Medien.

Vor einem Jahr löste der Angriff auf die Brücke zum russischen Festland Panik aus. Die jüngste ukrainische Offensive auf unsere Küste haben wir gesehen, gehört. Niemand regt sich mehr auf. Viele zischelten, wie grausam diese ukrainischen Nazis seien.

Ich will, dass der Hass aufhört

Beim Schreiben bekomme ich Atemnot. Wie können Menschen das sagen? Erinnert sich keiner, wie es war, als Russland die Krim annektiert hat? Wie die ganze Gesellschaft, wie wir unter Schock schwankten, weil zwischen uns und den Freunden und Verwandten auf dem ukrainischen Festland plötzlich eine Grenze war? Wir waren ein kleines, kosmopolitisches Land. Ob ukrainische Wurzeln oder russische, alle sprachen beide Sprachen, pflegten die eigenen Traditionen und nahmen an denen der anderen teil. Viele waren stolz darauf, weltoffen zu sein. Leider nicht alle. Jetzt redet die Mehrheit gegen die Ukraine.

Auch wenn die Krim zurück an die Ukraine gehen sollte: Für die Menschen hier wird es in jedem Fall schrecklich werden, egal was sie jetzt denken. Ich will, dass der Krieg aufhört, dass keine Menschen mehr sterben, dass der Hass aufhört. Ob das nach diesen Jahren möglich ist? Ich habe die Hoffnung aufgegeben.

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