"Da kommt auch: 'Depressive sind einfach nur faul'
"Da kommt auch: 'Depressive sind einfach nur faul'
Henrik Sorensen
Da kommt auch: "Depressive sind einfach nur faul"
Die Krisen der vergangenen Jahre haben bei jungen Menschen Spuren hinterlassen. Die Soziologin Britta Schilhanek besucht Schulklassen, um zu informieren und Fragen zu beantworten
Tim Wegner
05.05.2023

chrismon: Wie brechen Sie das Eis, um mit den Jugendlichen das Thema psychische Gesundheit zu sprechen? Das ist ja auch durchaus schambehaftet ...

Britta Schilhanek: Wir machen eine interaktive Übung: "Stellt euch vor, ihr müsstet zwischen zwei Krankheiten wählen. Einem Herzinfarkt, an dem ihr nicht sterben, aber an dessen Folgeeinschränkungen ihr leiden werdet. Oder eine Depression." Die Jugendlichen sollen sich dann in unterschiedlichen Ecken im Stuhlkreis aufstellen. Und dann reden wir drüber. Dabei legen wir großen Wert darauf, dass das Gespräch auf Augenhöhe stattfindet und wir nichts verurteilen. Wir sind an den Vorstellungen und dem Interesse der Jugendlichen interessiert.

Tim Wegner

Monja Stolz

Monja Stolz ist Volontärin beim GEP. Zuvor hat sie Journalismus in Mainz und Allgemeine Rhetorik und VWL in Tübingen und Kanada studiert. Sie arbeitete unter anderem beim Regionalteil der FAZ und schrieb Porträts für den Tagesspiegel Background. Während des Studiums engagierte sie sich in verschiedenen Bereichen für Menschenrechte und sie hat eine Liebe für Serien, Filme, Literatur und Hörspiele für Kinder.

Britta Schilhanek

Britta Schilhanek ist Landeskoordinatorin »Verrückt? Na und!« Baden-Württemberg.

Was antworten die Schüler*innen?

Es kommen auch mal Kommentare wie: "Depressive sind einfach nur faul." Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil die Jugendlichen es so aus ihrem Umfeld oder aus Medien aufgenommen haben. Erst mal gibt es dabei kein Richtig oder Falsch. Wir wollen, dass sie alles sagen können. Später klären wir natürlich auf.

Gehen Sie näher auf spezifische Erkrankungen ein?

Im zweiten Block steigen wir tiefer in die Themen ein. Wir erklären, warum manche Menschen psychisch erkranken, andere aber nicht. Danach teilen wir die Klasse in Kleingruppen auf, die sich mit spezifischen Themen wie Selbstverletzung oder Essstörungen auseinandersetzen. Wir erläutern zwar nicht jede einzelne Erkrankung, stellen anschließend aber Sachen richtig und beantworten noch mal viele Fragen.

Erzählen die Schüler*innen auch von sich?

Viele Jugendliche öffnen sich in der Klasse und berichten von Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen aus ihrem eigenen Umfeld. Beispielsweise von der Psychose der Mutter, der Alkoholsucht des Vaters oder der eigenen Essstörung.

Legen Sie den Jugendlichen nahe, ab welchem Punkt Hilfe von außen nötig ist?

Wir wollen ihnen unbedingt den Gedanken nehmen, dass jemand bestätigen muss, dass es ihnen "schlecht genug" geht. Wenn es ihnen schlecht geht, ist das immer ein Grund, sich Hilfe zu suchen. Das muss nicht gleich professionelle Hilfe sein, sondern kann auch erst mal ein Gespräch mit einer Person des Vertrauens sein. Zudem geben wir Broschüren mit, wo erste Anlaufstellen für das jeweilige Problem gelistet sind.

Sie besuchen die Schulklassen zusammen mit einer Person, die von eigenen Erfahrungen berichtet …

Die persönlichen Expert*innen haben selbst schon eine psychische Krise gemeistert und erzählen davon. Der Fokus liegt aber ganz stark darauf, was ihnen geholfen hat, gesund zu werden. Dabei betonen sie, dass es wichtig ist, das Leben nach eigenen Maßen und Standards zu leben und nicht immer das zu machen, was andere von einem verlangen. Das soll Leistungs- und Vergleichsdruck abbauen und Betroffenen Hoffnung geben. Danach können die Schüler*innen noch persönliche und allgemeine Fragen stellen.

Was sind das für Fragen?

"Warum haben dir deine Eltern nicht geholfen?" oder "Hast du heute noch Kontakt zu deinen Eltern?". Die Schüler*innen fragen auch oft, was in der Therapie gemacht wird oder was in Kliniken passiert, inwiefern Medikamente helfen können und ob die persönlichen Expert*innen Rückfälle erlebt haben. Außerdem wollen die meisten Jugendlichen wissen, wie sie damit umgehen sollen, wenn einer ihrer Herzensmenschen eine psychische Krise hat.

Das Projekt gibt es in Stuttgart schon seit 2007. Was hat sich verändert?

Vor allem durch die sozialen Medien sind psychische Belastungen und Erkrankungen stärker ins Bewusstsein gerückt. Auf der einen Seite trauen die Jugendlichen sich, eher über ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen zu sprechen. Auf der anderen Seite wird über soziale Medien viel Halbwissen verbreitet, dass durchaus auch Gefahren mit sich bringt.

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Vor fünfzehn Jahren war es noch schwierig, in die Schulen reinzukommen, weil teilweise noch angenommen wurde, dass, wenn wir heute über Depressionen sprechen, nächste Woche die halbe Klasse depressiv ist – die Bedenken und Vorurteile waren größer. Das ist mittlerweile anders. Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind sichtbarer. Damit ist das Bewusstsein größer, dass psychische Krisen ganz normal sind und zum Leben dazugehören und dass es Hilfen gibt, diese gut zu meistern. Schüler*innen melden sich selbstständig bei uns und fragen das Präventionsprogramm an. Inzwischen bekommen wir an allen Standorten in Baden-Württemberg mehr Anfragen, als wir bedienen können. Vor allem durch die Corona-Krise ist der Bedarf noch einmal gestiegen.

Ist auch der Krieg in der Ukraine spürbar?

In manchen Klassen sind sowohl ukrainische als auch russische Geflüchtete, die den Konflikt zwischen ihren Heimatländern auf dem Schulhof austragen. Inzwischen ist das deutlich besser geworden. Die Kinder haben verstanden, dass sie eine ähnlich schwierige Situation durchleben. Sie unterstützen sich mittlerweile gegenseitig und helfen sich beispielsweise beim Übersetzen.

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