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Auf einer Pressekonferenz in der St.-Thomas-Kirche am Mariannenplatz läutete die "Letzte Generation" ihre Proteste für mehr Klimaschutz in Berlin ein
Aimee van Baalen (l-r), Irene von Drigalski, Carla Hinrichs, Raphael Thelen und Lina Johnsen von der Klimaschutzgruppe die "Letzte Generation", bei einer Pressekonferenz in der St. Thomas-Kirche am Mariannenplatz. Die Klimagruppe Letzte Generation will versuchen, Berlin mit neuen Protestaktionen auf unbestimmte Zeit lahmzulegen. Zunächst seien von Mittwoch an Störungen im Regierungsviertel geplant, erklärte die Gruppe in Berlin. Ab kommendem Montag sei geplant, "die Stadt friedlich zum Stillstand zu bringen". 800 Aktivisten hätten sich dafür gemeldet. Der Protest soll erst enden, wenn die Bundesregierung auf die Forderungen der Gruppe eingeht.
Im Kirchenschiff der St.-Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg hallen die Worte einer Sprecherin der "Letzten Generation" nach. Hier wird kein Gottesdienst gefeiert, die Klimaaktivisten haben zu einer Pressekonferenz geladen. "Wir wissen, dass die Kirche in der Geschichte des Widerstandes eine sehr wichtige Rolle gespielt hat", sagt sie. Und stellt die Aktivistin Carla Hinrichs vor. "Sie ist 26 Jahre alt und hat ihr Jurastudium kurz vor dem Staatsexamen auf Eis gelegt, um in den Widerstand zu gehen."
Nils Husmann
Am Dienstag war das, die "Letzte Generation" präsentierte ihren Plan, wie sie das Leben in Berlin ab Montag friedlich zum Stillstand bringen will, "damit die Regierung sich bewegt". Die Forderungen der "Letzten Generation": ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen, ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket und ein Gesellschaftsrat, dessen Mitglieder – gelost und repräsentativ zusammengesetzt – beraten soll, wie Deutschland bis 2030 ohne Kohle, Öl, Gas, Benzin und Diesel auskommt. Der Wandel soll sozial gerecht gestaltet werden. Über die Ideen des Gesellschaftsrates soll der Bundestag abstimmen. Wenn ein Rat Gesetze entwirft, laufe der Einfluss von Lobbygruppen im Gesetzgebungsprozess ins Leere, so die Überlegung der "Letzten Generation". "Wir werden unseren Protest beenden, sobald die Bundesregierung einen Gesellschaftsrat einberuft", sagte eine andere Sprecherin.
Die Ziele der Gruppe gehen oft unter im allgemeinen Geschrei, das anschwillt, wenn es um die "Letzte Generation" geht. Und dieses Geschrei wird heute wieder laut werden, wenn Aktivisten in Berlin protestieren – und auch Straßen blockieren. Die Empörung wird groß sein. Und die Bilder drastisch. Schon am Donnerstag zerrten wütende Autofahrer Aktivisten von der Straße. Auch der Vorwurf der Polizeigewalt steht im Raum, Aufnahmen zeigen, wie ein Beamter sehr massiv gegen einen Aktivisten vorgeht.
Zweifel sind angebracht, ob die "Letzte Generation" mit Straßenblockaden das richtige Mittel wählt. Die Aktivistin Aimée van Baalen, die im November auch auf der EKD-Synode sprach, beklagte das "ewige Gegeneinander" in der Gesellschaft. Aber mit Blockaden – und, auch das gehört zur Wahrheit, der absehbaren hypernervösen, oft klickheischenden Berichterstattung über Staus und hupende, wütende Fahrer – wird das Gegeneinander nicht weniger werden. Die Aktivisten sollten ihre Mittel überdenken, sich an historischen Beispielen orientieren.
Dass die Kirche der "Letzten Generation" Räume zur Verfügung stellt, hat sofort für Empörung gesorgt. Aber was heißt das, "die Kirche"? In diesem Fall sind es der Evangelische Kirchenkreis Berlin Stadtmitte und eine Gemeinde in Kreuzberg, die den Aktivisten Räume überlässt. Man teile das Ziel, aber nicht unbedingt die Mittel der "Letzten Generation", heißt es auf der Internetseite des Kirchenkreises. Und weiter: "Wir stellen unsere Räume zur Verfügung, damit hier gesellschaftliche Fragen diskutiert werden können. Das haben wir schon öfters so praktiziert, etwa bei der Friedlichen Revolution 1989. Wir sehen uns in der Rolle, Safe Spaces zu bieten, also Schutzräume für Diskussionen, aber auch für Seelsorge und Zur-Ruhe-Kommen und dafür, dass beide Seiten im Frieden bleiben können. Wichtig ist uns: Wir öffnen die Räume für alle, nicht nur für die Letzte Generation."
Die Offenheit des Kirchenkreises ist riskant. Wohl keine Gruppe polarisiert derzeit mehr als die "Letzte Generation". Martin Fiebig, Vorsitzender des Gemeindekirchenrates der Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg, zu dem die St.-Thomas-Kirche gehört, berichtet am Telefon von einem "Shitstorm". Wie es denn sein könne, dass die Kirche für "Klimafaschisten" geöffnet werde?, sei er in Mails gefragt worden. Damit hatten sie in Kreuzberg gerechnet - und sich dennoch für Offenheit entschieden. "Auch wenn wir ihre Mittel kritisieren: Ist das ein Grund, einem in der Sache berechtigten Jugendprotest grundsätzlich die Tür zu weisen?", fragt Fiebig. Beschwert hätten sich vor allem ältere Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet, nicht aber aus der Gemeinde, wo der Beschluss, die Kirche zu öffnen, diskutiert und begründet worden sei.
Die Kirchengemeinde in Kreuzberg hat einen mutigen Schritt getan - und einen klugen. Denn die Stimmung heizt sich immer mehr auf. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz etwa bezeichnet die Aktivisten als "kriminelle Straftäter", der Bundesjustizminister zieht Vergleiche zu Straßenkämpfen im Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Manch einer mag sich zur Selbstjustiz berufen fühlen.
Ruheräume können helfen, dass Menschen wieder runterkommen. Klug ist auch, dass die Kirche in Berlin zu Gesprächen einladen will und damit alle Menschen anspricht – auch Gegner der Aktivisten. Ja, die Sprache der "Letzten Generation" ist oft voller Furor. Manchmal wirkt sie auch gefährlich. "In den Widerstand gehen" – aus so einer Haltung kann Ungutes entstehen. Erst recht, wenn man nicht im Gespräch mit den Menschen bleibt, die diese Haltung haben.
In Kreuzberg, erzählt Martin Fiebig, habe es am vergangenen Mittwoch geklappt, in Kontakt zu kommen. Viele Aktivisten hätten das Mittagsgebet mit Orgelmeditation verfolgt. Die Pfarrerin habe sich offen, ehrlich und auch kritisch zu den Mitteln der "Letzten Generation" geäußert, ohne dafür Ablehnung zu erfahren. Am kommenden Mittwoch und am 3. Mai kommen die Aktivisten wieder zum Frühstück in die Kirche - zu Vorträgen und Beratungen über ihre Protestaktionen. Niemand kann wissen oder gar garantieren, ob die Aktivisten von Straßenblockaden absehen und sich neuen Mitteln für ihren Protest zuwenden, nur weil sie in einer Kirche brunchen. Aber reden und zuhören ist immer besser, als übereinander zu urteilen. Und dafür gibt es wohl keinen besseren Ort als eine Kirche.
Die Kirche könnte es sich leicht machen und die "Letzte Generation" geißeln. Wie es fast alle machen. Aber das tut sie nicht. Sie hört zu. Und sie öffnet auch andernorts in Berlin Räume, damit Menschen miteinander ins Gespräch kommen können über ein Thema, das uns so sehr überfordert. Das Klima auf der Erde erwärmt sich. Rapide. Das gefährdet Natur, Artenvielfalt und uns Menschen. Das wird noch immer verdrängt. Die Aufgabe, das Schlimmste zu verhindern, ist riesig.
Sie wird nicht kleiner, wenn wir so tun, als sei dieser riesige Elefant im Raum gar nicht da.
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Lesermeinungen
Charlotte Horn | vor 1 Monat 4 Tagen Permanenter Link
Pressestatement Kirchenleute 29.4.2023
Presseerklärung zur Straßenblockade von Kirchenleuten in Solidarität mit der „Letzten Generation“ am 29.04.2023
NEIN und AMEN
Unser Glaube lässt uns hoffen, dass eine solidarische und gerechte Welt möglich ist. Deshalb beziehen wir Stellung:
1. Wir sagen ein klares NEIN zur Zerstörung der Lebensgrundlagen. Wir sagen ein klares JA zum Gesellschaftsrat Klima.
2. Wir bekennen, dass die Glaubwürdigkeit unserer Kirchen auf dem Spiel steht, wenn wir uns angesichts der Klimakrise ausweichend oder untätig verhalten.
3. Wir appellieren an unsere Kirchen, sich an die Tradition der biblischen Propheten zu erinnern und daher noch wirksamer und „störender“ für Klimagerechtigkeit aktiv zu werden.
4. Wir appellieren an die politisch Verantwortlichen unseres Landes, die dafür dringend notwendigen Entscheidungen umgehend zu treffen und umzusetzen, um die Nutzung fossiler Rohstoffe bis 2030 zu beenden.
5. Wir erkennen unsere Mitverantwortung an, ein ungerechtes und ausbeuterisches Wirtschaftssystem zu beenden, das schon heute Millionen Menschen hier und im Globalen Süden ins Elend und in die Flucht treibt.
6. Wir solidarisieren uns mit den Opfern der Klimakrise – weltweit und hier bei uns.
7. Wir solidarisieren uns mit denen, die wegen ihres Klimaaktivismus bedroht, gefangen genommen oder getötet werden.
8. Wir fordern die politisch Verantwortlichen unseres Landes auf, Klimapolitik sozial gerecht zu gestalten und diejenigen zu unterstützen, die arm sind und damit am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben – hier und weltweit - und die Reichen hierfür angemessen in die Pflicht zu nehmen.
9. Wir glauben an die Schönheit und Würde jedes Lebens, das uns geschenkt ist, und treten ein für das Recht auf Schutz und Schadensersatz der schon heute von der Klimakrise betroffenen Menschen sowie das Recht unserer Kinder auf eine lebenswerte Zukunft.
10. Wir handeln aus Liebe zum Leben gewaltfrei im Sinne Jesu.
11. Deshalb entscheiden wir Kirchenleute uns für den zivilen Ungehorsam in Solidarität mit der „Letzten Generation“ und ihren Anliegen.
12. Wir ermutigen alle, solange nicht aufzugeben und sich auch für unbequeme Wege des Widerstands zu entscheiden, bis entscheidende politische Schritte für eine lebenswerte Zukunft umgesetzt werden.
Kontakt: vernetzung@letztegeneration.de oder +49 176 55110526 (Pfarrerin Andrea Rückert) und +49 176 43329856 (Sonja Manderbach, Kirchenmusikerin)
Fritz Kurz | vor 1 Monat 2 Tagen Permanenter Link
Gewissen redet Gewissen ins Gewissen
Die "Letzte Generation" und deren Sympathisanten gelten als scharfe Kritiker der Verhältnisse. Besteht diese Einschätzung zu Recht?
In den Abweichlerverdacht sind die Kleberfreunde geraten, weil ihre Protestformen sich nicht an das gute Benehmen demonstrierender freier Bürger halten. Wenn der anständige Bürger sich schon mal zu einer Demo aufrafft, lässt er sich von Gesetz, Anmeldebehörde und Polizei den Demonstrationsweg vorschreiben, die Größe der Stangen, an denen die Transparente hängen, die Tragerichtung der Transparente, die Wortwahl auf den Transparenten, die Bekleidungsfrage im Kopfbereich und vieles mehr. Letztgenerationsler nehmen Klebstoff mit, auch wenn die Behörde es verboten hat.
Wird dieser Ungehorsam flankiert von einem Ungehorsam in Gedankenangelegenheiten? Nein, leider überhaupt nicht.
"Wir appellieren an die politisch Verantwortlichen unseres Landes, die dafür dringend notwendigen Entscheidungen umgehend zu treffen und umzusetzen" An die politisch Verantwortlichen zu appellieren heißt, die Macht, die die Machthaber haben, anzuerkennen. Hier wendet sich das gute Gewissen der Demonstranten an das mindestens ebenso unerschütterlich gute Gewissen der Verantwortlichen. Damit ist von vornherein klar, wie das ausgeht.
Diese garantierte Harmlosigkeit des Protestes schützt die Demonstranten freilich nicht vor Knast und Geldstrafen, ja nicht einmal vor Terrorismusverdacht. Das könnte erneut Anlass sein, die Auffassung zu überprüfen, der Herrschaft sei mit moralischen Vorwürfen zu begegnen.
Fritz Kurz
Reinhard Mawick | vor 1 Monat 1 Woche Permanenter Link
Safe spaces
Ein sehr guter Kommentar. Punkt. Nun wollen wir hoffen, dass die Letzte Generation aber doch wieder zu "sozialverträglicheren" Protestformen kommt, denn so sanft sie sich auch geben. Nötigung ist auch Gewalt. Punkt.
Aul | vor 1 Monat 1 Woche Permanenter Link
Sie können sich nicht
Sie können sich nicht verbiegen und müssen bevormunden8. Im Glauben geht es ja auch nicht anders, als dass die, die glauben, höhere Einsichten zu haben, alle anderen, die nicht so gut "beleumundet" sind, versuchen zu bevormunden. Davon lebt nunmal die Organisation. Dass dann aber die Bevormundung auch noch ausgedehnt wird auf Zeugung (Rom), Körper, Liebe. Gesundheit (vegan, keine Leberwurst auf der Synode), Politik (Wohlwollen für die "Kleber"), Klima und Sprache/Schrift ( Gender), wird immer unerträglicher. Wenn vermutlich der Glaube nicht mehr genug Daseinsberechtigung hergibt, sind neue Spielwiesen gefragt. Ist diese Entwicklung systemimmanent ( > naturgesetzlich?). Vermutlich ja. Irgendwann werden ja wohl hierzu die Philosophen, Historiker, Gesellschaftswissenschaftler, Romanciers und Zukunftsdeuter eine Antwort finden. So orientierungslos wie jetzt kann es ja nicht weitergehen. Die Theologen werden sich wohl kaum bemühen, denn sie leben ja vom grossen Geheimnis, dass sich "Zukunft bis ins Paradies" nennt.
J. Jasmin | vor 1 Monat 2 Wochen Permanenter Link
2 Seiten eine Medaille.
Ja, wenn man sich unter Verwandten wähnt. Beide Parteien gehen im Prinzip von der gleichen Situation aus. Sie wünschen sich, was von Natur aus gut sein sollte. Beide haben in den menschlichen Schwächen den gleichen unüberwindlichen Feind. Die einen wollen diesen Feind nicht wahr haben und betrachten ihn als Fremdkörper wider die Natur, die Anderen haben ihn als gottgegeben verinnerlicht und er ist für sie als Erbsünde existentiell. Nur die Zielerwartung für den "Sieg" über den Feind ist zeitlich versetzt. Die Einen wollen alles sofort und noch mit Taten erleben, die Anderen begnügen sich mit schönen Worten und freuen sich auf das Paradies, dass niemand kontrollieren kann. Alle haben ein gutes Gewissen und konsumieren unbeirrt weiter. Eben mal kurz hier kleben bleiben und dann ins fernöstliche Paradies, wo man seine Billigheiner hat.