"Menschen zu helfen, ist doch kein Verbrechen!" Sara Mardini stammt aus einer Familie von Leistungssportlern in Damaskus. 2015 flüchtete sie mit ihrer Schwester Yusra nach Europa
"Menschen zu helfen, ist doch kein Verbrechen!" Sara Mardini stammt aus einer Familie von Leistungssportlern in Damaskus. 2015 flüchtete sie mit ihrer Schwester Yusra nach Europa
Mindjazz Pictures
"Menschen zu helfen, ist doch kein Verbrechen!"
Sie ist aus Syrien nach Berlin geflohen und hat auf Lesbos Flüchtlingen geholfen. In Griechenland ist Sara Mardini jetzt angeklagt – ihr drohen 20 Jahre Haft. Der Dokumentarfilm "Sara Mardini - Gegen den Strom" erzählt ihre Geschichte.
Tim Wegner
17.04.2023

Sara Mardini, geboren 1995, wurde mit 20 schlag­artig berühmt. Gemeinsam mit ihrer Schwester ­Yusra versuchte sie 2015, auf der Flucht aus Syrien von der Türkei nach Lesbos überzusetzen. Der Motor des viel zu kleinen Schlauchboots fiel aus. Die Menschen drohten zu ertrinken. Sara und ihre Schwester, Leistungsschwimmerinnen, sprangen ins Meer und hielten das Boot über drei Stunden auf Kurs, bis sie das rettende Ufer von Lesbos erreichten.

Die Geschichte sorgte für Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Yusra konnte in Berlin, wo die beiden nach ihrer Flucht landeten, wieder trainieren und nahm bei Olympischen Spielen 2016 und 2020 im Team der Flüchtlingsathleten teil. Sara musste wegen einer Verletzung das Leistungsschwimmen aufgeben. Sie ging 2016 zurück nach Lesbos, um Geflüchteten zu helfen.

2018 wurden sie und andere Freiwillige verhaftet. Die griechischen Behörden werfen ihnen schwere Straftaten vor, darunter Spionage und Geldwäsche. Sara blieb über drei Monate in Haft, danach wurde sie aus Griechenland ausgewiesen. Sie will ihre Unschuld beweisen – aber der Prozess wird nicht terminiert.

Über vier Jahre lang hat die Filmemacherin Charly Wai Feldman Saras Kampf um Gerechtigkeit begleitet. Der Dokumentarfilm "Sara Mardini – Gegen den Strom" läuft seit 23. März in den deutschen Kinos.

Tim Wegner

Konstantin Sacher

Konstantin Sacher ist Redakteur bei chrismon und verantwortet die Bereiche Theologie, Philosophie und Literatur. Zusammen mit Michael Güthlein schreibt er die Kolumne "Väterzeit". Im Podcast "Über das Ende" spricht er alle zwei Wochen mit interessanten Menschen über den Tod. Zuvor hat er als systematischer Theologe an verschiedenen Universitäten gelehrt und geforscht. Er interessiert sich besonders für Theologie und Philosophie des Todes, Literatur und wie Religion darin vorkommt. 2018 veröffentlichte er seinen Debütroman "Und erlöse mich" bei Hoffmann & Campe. 2021 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. 2023 erschienen seine Bücher "Zwischen Todesangst und Lebensmut" und "Dorothee Sölle auf der Spur". Außerdem hat er ein Buch zur Zukunft der Kirche und eines zur modernen Theologie des Todes herausgegeben.

chrismon: Frau Mardini, Sie saßen in Griechenland im Gefängnis, Sie werden dort angeklagt, der Film zeigt Sie an vielen unterschiedlichen Orten in Europa. Wo er­reichen wir Sie denn jetzt gerade?

Sara Mardini: Ich bin wieder in Berlin, nachdem ich ­einige Monate für eine Auszeit in Spanien war. Im Moment ­suche ich eine eigene Wohnung und werde dann wohl ein ­Studium aufnehmen.

Sind Sie schon richtig angekommen?

Berlin habe ich mir nicht ausgesucht. Als ich damals aus dem Gefängnis in Griechenland entlassen wurde, ­hatte ich keine Zeit, etwas zu planen. Also ging ich hierher zurück. Nun muss ich hierbleiben, um meine deutsche Staats­bürgerschaft zu bekommen, den Sprachtest zu ­machen und das alles. Das macht es sehr schwierig, ­Berlin als ­Zuhause anzusehen. Aber ja, in gewisser Weise ist es ein Zuhause geworden. Vor allem, wenn ich dann eine ­Wohnung gefunden habe. Aber die drohende Verurteilung macht alles schwieriger.

Im Film erfährt man, dass die griechischen Behörden den Gerichtstermin für Ihre Verhandlung seit Jahren ­herauszögern.

Ja, das belastet mich sehr. Alles, was ich tue, ist vorläufig. Mir drohen 20 Jahre Haft wegen Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche, Betrug und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das sind natürlich alles falsche Anschuldigungen! Der Film zeigt meinen Struggle über die letzten Jahre. Es geht um meine psychische Gesundheit und die Probleme, die ich bekommen habe, weil ich mich für etwas eingesetzt habe, für das ich Leidenschaft empfinde. Menschen zu helfen, ist doch kein Verbrechen.

Der Film zeigt Sie sehr ehrlich, von Ihrer verletzlichen Seite. Wie ist es für Sie, sich dabei zuzuschauen?

Ich kann feststellen, dass ich mich weniger weiterent­wickelt habe, sondern aufgrund des Stresses eher Rückschritte gemacht habe. Es war wie in einem Tunnel. Als ich darin gesteckt habe, habe ich gar nicht gemerkt, was passiert. Menschen, die mich kennen und den Film sehen, sagen: "Ah, deswegen hast du dich so verhalten." Sie können mich jetzt besser verstehen. Der Film zeigt, was falsche Anschuldigungen mit einem jungen Menschen machen können, besonders mit einem Menschen mit Fluchtgeschichte.

"Erst als wir verhaftet ­wurden, hat die Presse eine Aktivistin aus mir gemacht"

Als Sie 2015 in Deutschland angekommen sind, wurden Sie unter anderem mit einem Bambi in der Kategorie "Stille Helden" ausgezeichnet. Haben Sie sich geehrt gefühlt oder eher benutzt?

Wie gesagt, ich war damals in einer Art Tunnel. Vieles ist einfach passiert, ohne dass ich viel darüber ­reflektieren konnte. Ich habe mich auf Lesbos auch nie als Aktivistin verstanden. Ich war einfach eine Freiwillige, die ­Menschen helfen wollte. Man kann sagen, erst als wir verhaftet ­wurden, hat die Presse eine Aktivistin aus mir gemacht. Dann brauchten wir Hilfe, wegen unserer Anklage. Ich musste viele Hände schütteln, viele Menschen treffen, weil die mir vielleicht helfen konnten. Und viele haben auch geholfen! Ich war niemals auf all die Aufmerksamkeit aus. Aber sie hat uns geholfen, aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden.

Im Film sagen Sie einmal: "Wir haben keine Zeit für Hoffnung, wir müssen handeln." Was meinen Sie damit?

Dabei geht es mir darum, dass die Menschen jetzt Hilfe brauchen und nicht irgendwann vielleicht einmal. Es hilft nicht zu sagen, ich hoffe, morgen wird es besser. Es hilft auch nicht, etwas auf Instagram zu liken und dann wieder zu vergessen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen auf der Flucht ertrinken und wir selbst machen dann einfach so weiter, als wäre nichts. Mit Hoffnung ­meine ich ein passives Warten und Hoffen. Dafür haben wir keine Zeit. Denn die Menschen ertrinken jetzt.

Was sollen die Menschen konkret machen?

Vier Dinge sind besonders wichtig. Zuerst müssen wir wirklich zuhören und wirklich verstehen wollen, was in dieser Welt geschieht. Zweitens müssen die Menschen wählen gehen und dafür sorgen, dass menschliche Kräfte an der Macht sind. Es hilft nichts zu sagen, die Politik ist schuld. Hier in Europa sind es die Menschen, die diese Politik durch ihre Wahl beeinflussen können. Drittens müssen wir unsere Stimme erheben, wenn wir etwas sehen oder mitbekommen, was schlecht läuft. Viertens: freiwillige Arbeit leisten und nicht passiv und nur hoffend auf dem Sofa sitzen.

Oft wird argumentiert, es sei wichtig, Menschen auf­zunehmen, aber man könne ja nicht alle aufnehmen. Verstehen Sie Menschen, die so etwas sagen?

Vor einigen Jahren hätte ich gesagt: Nein. Aber heute kann ich das verstehen. Ich mache niemandem einen ­Vorwurf, es ist nicht selbstverständlich, Menschen aus völlig ­anderen Gegenden der Welt willkommen zu heißen. Das ist mit viel Angst verbunden. Für die Menschen, die ankommen, genauso wie für die Menschen in den Aufnahmegesellschaften. Die Menschen sprechen eine andere Sprache, sie sind ein bisschen dunkler . . . ich kann das also verstehen. Jetzt kommt das Aber. Die Menschen dürfen nicht nur willkommen sein, wenn sie Geschichten haben wie ich. Das darf kein Kriterium sein.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Fahrrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.