Armut in der Stadt: Eine obdachlose Frau schaut sich das Schaufenster von Gold City an
Armut in der Stadt: Eine obdachlose Frau schaut sich das Schaufenster von Gold City an
Wolfgang Maria Weber/imago images
Gegen den "Immerschlimmerismus"
Vor fünf Jahren war für den Journalisten Walter Wüllenweber klar: Die Menschen waren noch nie so gesund, so reich, so sicher und so gebildet. Zeit für ein Update: chrismon-Redakteur Konstantin Sacher hat ihn gefragt, ob die Krisen der letzten Jahre etwas an seiner Haltung verändert haben.
Tim Wegner
22.03.2023

"Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer." Stimmt das?

Der erste Teil stimmt, der zweite nicht. Auch die Armen werden reicher, wenn auch nur in homöopathischen Dosen. Dass die Schere zwischen Arm und Reich dennoch sehr weit auseinandergeht, liegt am anderen Ende: Der Reichtum der extrem Reichen ist in den letzten Jahrzehnten explosionsartig gewachsen. Die leben nicht von Arbeit, sondern vor allem von Kapitaleinkünften, die deutlich schneller wachsen als das Einkommen durch Arbeit. Unsere Gesellschaft, vor allem unser Steuerrecht, privilegiert das Eigentum stark. Nehmen wir BMW. Hier gehören die Arbeitnehmer zu den Gutverdienern. Deren Einkommen ist in den letzten Jahrzehnten überdurchschnittlich gewachsen. Aber die Einkünfte der Eigentümer, wie der Familie Quandt, sind in der gleichen Zeit um ein Vielfaches gewachsen. Und die Quandts zahlen einen deutlich geringeren Steuersatz als die Arbeiter am Band.

Es ist doch gut, wenn alle reicher werden.

Der Kuchen ist insgesamt größer geworden, das ist gut. Doch beim Verteilen haben sich die Superreichen nicht lediglich ein größeres Stück gesichert, sondern gleich mehrere. Das ist nicht nur ungerecht, sondern verursacht Folgeprobleme. Das viele Geld muss auch angelegt werden. So kaufen die großen Kapitaleigentümer gerne Immobilien, die damit zum Spekulationsobjekt werden, und das führt dann dazu, dass sogar die Gutverdiener bei BMW Probleme haben, bezahlbare Wohnungen zu finden.

Foto von Walter Wuellenweber, chrismon Mai 2019Roman Pawlowski

Walter Wüllenweber

Der stern-Journalist Walter Wüllenweber hat 2018 das Buch "Die frohe Botschaft" veröffentlicht. Er hat darüber auch in chrismon geschrieben (https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2019/44104/die-welt-steht-nicht-am-abgrund-wie-populisten-behaupten).
Tim Wegner

Konstantin Sacher

Konstantin Sacher ist Redakteur bei chrismon und verantwortet die Bereiche Theologie, Philosophie und Literatur. Zusammen mit Michael Güthlein schreibt er die Kolumne "Väterzeit". Im Podcast "Über das Ende" spricht er alle zwei Wochen mit interessanten Menschen über den Tod. Zuvor hat er als systematischer Theologe an verschiedenen Universitäten gelehrt und geforscht. Er interessiert sich besonders für Theologie und Philosophie des Todes, Literatur und wie Religion darin vorkommt. 2018 veröffentlichte er seinen Debütroman "Und erlöse mich" bei Hoffmann & Campe. 2021 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. 2023 erschienen seine Bücher "Zwischen Todesangst und Lebensmut" und "Dorothee Sölle auf der Spur". Außerdem hat er ein Buch zur Zukunft der Kirche und eines zur modernen Theologie des Todes herausgegeben.

Wer gilt eigentlich als arm?

Als absolut arm gilt heute jemand, der weniger als 2,15 Dollar pro Tag zur Verfügung hat. Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg muss man davon ausgehen, dass etwa 90 % der Menschen absolut arm waren. Das heißt: Sie mussten jeden Tag ums Überleben kämpfen. Das hat sich im 20. Jahrhundert dramatisch verbessert. Heute geht die Weltbank davon aus, dass etwa acht Prozent der Menschen absolut arm sind.

Gibt es in Deutschland dann überhaupt Arme?

Es geht hier nicht um diese absolute Armut, sondern um relative Armut. Dieser Begriff definiert sich über Teilhabe an der Gesellschaft. Wer nicht genug Geld hat, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, gilt als relativ arm. Ich finde es unpassend, den gleichen Begriff zu verwenden wie für Menschen, die weniger als zwei Dollar am Tag haben. Das ist zum einen eine Verharmlosung der absoluten Armut. Aber noch viel schlimmer ist, dass damit so getan wird, als ob wir die Probleme "der Armen" in Deutschland mit Geld bekämpfen könnten.

Hilft ihnen mehr Geld denn nicht?

Geld lindert die Benachteiligung, aber beseitigt sie nicht. Ändert sich die Lebenssituation von Hartz-IV-Empfängern fundamental, wenn der Betrag um ein paar Euro erhöht wird? Oder hilft es, wenn wir massiv ins Bildungssystem investieren? So können die Kinder dieser Menschen sich künftig selbst ein besseres Leben erarbeiten. Geld verteilen ist eine billige und wirkungslose Methode gegen die Benachteiligung.

Haben Sie eine konkrete Idee?

Ich bin beispielsweise für eine Kindergartenpflicht ab zwei Jahren. Das wäre ein Gesetz, das die Unterschicht im Blick hat. Denn die meisten Menschen schaffen es natürlich, ihre Kinder zu Hause so zu erziehen, dass sie von klein auf ein Teil dieser Gesellschaft werden. Aber die, die es nicht schaffen, fallen im Moment durchs Raster. Ein solches Gesetz würde dazu beitragen, gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern und damit die relative Armut in Deutschland abzubauen. Die Eltern der Mehrheitsgesellschaft müssten dann mehr abgeben als Geld.

Die Menschen waren noch nie so gesund, so reich, so sicher und so gebildet, haben Sie 2018 geschrieben. Haben die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die Inflation etwas an Ihrer These verändert?

Die Grundthese, dass die vergangenen Jahrzehnte unvorstellbar positiv waren, bleibt richtig. Aber wenn ich ehrlich bin, würde ich das Buch so heute nicht mehr schreiben. Womöglich war der Höhepunkt der positiven Entwicklung 2018, als das Buch erschien, schon überschritten. Ich habe ja auch im Buch schon beschrieben, dass es Anzeichen dafür gibt, dass wir den Rückwärtsgang eingelegt haben – da hatte ich Trump oder den Brexit vor Augen. Vor allem der Krieg in der Ukraine hat aber gezeigt, dass wir uns tatsächlich auf manchen Gebieten zurückbewegen und das Erreichte verspielen. Trotzdem sehe ich auch weiterhin positive Beispiele.

Welche?

Die Aufnahme der Flüchtlinge. Im vergangenen Jahr sind mehr Geflüchtete nach Deutschland gekommen als 2015, aber es gibt kein Pegida. 2015 musste ich laufend über brennende Asylbewerberheime schreiben. CDU-Chef Friedrich Merz versucht zwar wieder, aus der angeblichen Gefahr durch Flüchtlinge politisches Kapital zu schlagen. Genau wie 2015. Aber mit viel geringerem Erfolg. Generell sind wir da als Gesellschaft heute einfach weiter. Das gilt übrigens auch für die staatlichen Institutionen. Die meisten Bürgermeisterinnen und Landräte bekommen die Aufnahme der Geflüchteten ohne großes Aufsehen ganz solide hin.

Haben Sie trotz Ihres Eintretens für die frohen Botschaften auch manchmal das Gefühl, die Welt wird immer schlimmer?

Manchmal schon. Und in manchen Bereichen ist es ja auch objektiv richtig. Den Klimawandel bekämpfen wir mit viel weniger Entschiedenheit und mit weniger Erfolg, als ich das 2018 erwartet hätte. Wir dürfen die Augen nicht vor dem verschließen, was uns als Gesellschaft misslingt, damit wir aus Fehlern lernen können. Wir müssen aber auch das Gelingen sehen, um aus Erfolgen zu lernen. Wenn wir zu negativ auf unsere Gesellschaft blicken, führt das zu einer Abwärtsspirale. Ich nenne das "Immerschlimmerismus". Gerade war ich auf Recherche in Mecklenburg-Vorpommern. Dort haben mir die Menschen berichtet, dass sie Angst haben vor der Kriminalität und vor den Flüchtlingen. Ich sage dann: "Aber Leute, ihr wisst schon, dass die Kriminalität extrem zurückgegangen ist, dass ihr im sichersten Deutschland der Geschichte lebt." Die Menschen haben mich angeschaut, als hätte ich gesagt, die Erde ist eine Scheibe. Und diese falsche Annahme führt dann dazu, dass die Menschen Angst haben vor Flüchtlingen und dazu, dass die Flüchtlingspolitik nicht so gut ist, wie sie sein könnte.

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