Eine Frau füttert Tauben im Stadtteil Saltiwka/Charkiw
Eine Frau füttert Tauben in Saltiwka. Kurz nach Kriegsausbruch wurde dieser nördliche Stadtteil von Charkiw von russischen Angriffen stark zerstört, die Front war im Sommer 2022 nur 12 km entfernt
Mustafa Ciftci/AA/picture alliance
Ein Jahr Ukrainekrieg: Bischof Shvarts berichtet aus Charkiw
"In Charkiw kehrt ein bisschen Leben zurück"
Manchmal habe man Angst und Hoffnung zugleich, schreibt Bischof Pavlo Shvarts - und wünscht sich weitere Waffenlieferungen.
Privat
22.02.2023
3Min

Mir geht es wie vielen Menschen hier in Charkiw. Ich musste mich an die neue Realität gewöhnen, in der jeden Moment eine russische Rakete mein Haus treffen und ich sterben kann. Glücklicherweise sind Raketenangriffe momentan eher selten. Im Frühjahr und Sommer 2022 war es viel schlimmer.

Ende Mai haben wir jeden Abend um 23 Uhr auf die Raketenangriffe gewartet. Tag für Tag. Danach sind wir ins Bett gegangen. In die Stadt Charkiw mit ihren rund eineinhalb Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern kehrt nun ein bisschen Leben zurück. Die Situation ist zurzeit ziemlich stabil.

In den vergangenen Wintermonaten habe ich Gemeinden in der Ostukraine und in anderen Regionen im Land besucht. Es ist mir sehr wichtig, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten - und ihnen so zu helfen, damit sie in dieser schwierigen Zeit unabhängig bleiben. Jeder fühlt anders in diesem Krieg. Manchmal kommt es nicht auf den Ort an, sondern darauf, was im Herzen eines Menschen ist. Ob er von Angst überwältigt ist oder Hoffnung in sich trägt. Man kann in einem abgelegenen, verhältnismäßig sicheren Ort hier im Land leben und Panik verspüren. Oder man lebt nah an der Front und ist innerlich vielleicht viel ruhiger.

Privat

Pavlo Shvartz

Pavlo Shvartz ist Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine und lebt in Charkiw. Als Pastor ist er für mehrere Gemeinden in der Ostukraine zuständig. Um den Menschen im Land zu helfen, reist er seit Kriegsausbruch an viele verschiedene Orte.

An meine letzte Reise in den Osten der Ukraine erinnere ich mich besonders stark. Ich habe eine Ärztin getroffen, die noch voller Energie war. Sie war tief ergriffen von dem Wunsch, den Menschen zu helfen. Manche Menschen verlieren ihre Kraft und Hoffnung nicht. Das ist so wertvoll. Ich sehe eine meiner Aufgaben als Bischof gerade darin, Menschen zu inspirieren, damit sie anderen helfen wollen.

Ich bin auch Direktor der Diakonie Ukraine. Wir arbeiten mit verschiedenen Organisationen zusammen, aber auch mit Kirchen in Polen, der Slowakei, in Estland, in der Schweiz oder den USA. Besonders die Gemeinden in Chemnitz und in Dresden haben uns sehr geholfen. Nach einem Jahr Krieg zählt für uns mehr denn je, dass wir systematisch und langfristig zusammenarbeiten.

In meinem nahen Umfeld habe ich erlebt, dass Menschen ihre Lieben verlieren und ihr Zuhause von jetzt auf gleich zerstört wurde. Das erschüttert mich zutiefst. Auch ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Familie. Bisher habe ich noch niemanden aus meiner Familie oder meinem Bekanntenkreis im Krieg verloren.

Tod und Leben liegen so nah beieinander, manchmal hat man Angst und zugleich Hoffnung, und so bleiben viele Menschen hier. Aber einige Gemeindemitglieder sind in sicherere Gebiete der Ukraine oder andere Länder geflohen. Zugleich kommen neue Menschen in die Stadt und in die Gemeinde.

Die Menschen wünschen sich Frieden, dauerhaften und gerechten Frieden. Und grundlegende Dinge zum Überleben: Arbeit, Unterkunft, Essen, Medizin. Bevor wir als Kirche über Frieden und Vergebung sprechen können, muss die Gewalt beendet werden. Sonst hört sich das wie ein grausames Moralisieren an. Es gibt keine einfache Lösung, um den Krieg zu beenden. Er kann mit einem Sieg einer der Parteien enden. In diesem Fall hoffe ich auf einen Sieg der Ukraine. Oder mit einem Waffenstillstand. Dann aber steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein neuer Krieg ausbricht.

Um zu überleben, braucht es ein Recht auf Selbstverteidigung

Wir sind weiterhin auf Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft angewiesen - ja, auch durch Waffen. Erst damit können wir uns verteidigen. Menschen, die uns Ukrainerinnen und Ukrainern das Recht absprechen, uns selbst zu verteidigen, verstehen wahrscheinlich nicht die Konsequenzen - anhaltende Besatzung, Versklavung, Folter, Gewalt und der Einsatz von Gefangenen für weitere Kriege durch Russland. Für einen naiven Pazifisten ist es vielleicht bequem, weit weg vom Krieg in einem Land mit einer starken Armee zu leben.

Für mich war es ein ermutigender Tag, als die russischen Truppen, die in Charkiw einmarschiert waren, besiegt wurden. Diese Hoffnung, dass wir aufstehen und frei bleiben würden! Es gab viele solche Momente. Du lebst, und dafür lohnt es sich, Gott zu danken und weiter durchzuhalten.

Spendeninfo

Die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine (DELKU) von Bischof Pavlo Shvartz bildet derzeit 10 Mitarbeitende in psycho-sozialer Arbeit in Zusammenarbeit mit der Katholischen Universität Charkiw aus. Zudem beschafft sie medizinisches Material und hilft auch dabei, Wohnraum für Geflüchtete innerhalb der Ukraine herzurichten, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit.

Das Gustav-Adolf-Werk unterstützt die Arbeit der DELKU und bittet um Spenden:
Spendenkonto: IBAN: DE42 3506 0190 0000 4499 11, BIC: GENODED1DKD
Stichwort: Ukrainenothilfe

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