Ein unbetrauerter Verlust
"Vielen Menschen im Osten ist die Würde genommen worden."
Flügelwesen / Photocase
Ostdeutsche Lebensgeschichten
Ein unbetrauerter Verlust
Vor über 30 Jahren ist die DDR untergegangen. Der Therapeut und Autor Udo Baer erklärt, warum sie trotzdem noch nachwirkt
Tim Wegner
16.01.2023
3Min

chrismon: Kann ein Land, das es nicht mehr gibt, Biografien beeinflussen?

Udo Baer: Ja, rund 90 Prozent der Menschen mit pädagogischen ­Berufen sind nach 1989 weiterbeschäftigt worden. Ihr Erziehungsstil ist geblieben. Auch die Eltern haben versucht, so weiterzuleben, wie sie es kannten. Und über allem steht: In der DDR gab es kein 1968.

Warum betonen Sie das so?

1968 war in Westdeutschland ein Aufbegehren, das die Elterngeneration infrage gestellt hat. Das war wichtig, denn Eltern geben ihre Erfahrungen an die nächsten Generationen weiter, mit Worten – oder durch Schweigen.

Privat

Udo Baer

Udo Baer, Jahrgang 1949, ist Pädagoge, Therapeut und ­Autor. Er wurde in der Niederlausitz ge­boren und floh kurz vor dem ­Mauerbau in den Westen. Heute lebt er in Berlin. Baer ist Autor des Buches "DDR-Erbe in der Seele. Erfahrungen, die bis ­heute nachwirken".

Inwiefern?

Je länger über ein Trauma geschwiegen wird, desto stärker wird es an die nächste Generation weiterge­reicht. Kinder wollen ihre Eltern retten. Sie spüren: Da ist Kummer. Und in diese Richtung lauschen sie, fragen nach. Und wenn sie keine Antworten bekommen, ist die Trauer wie ein schwarzes Loch, das Energie raubt. Ich kenne viele Familien, in denen verschwiegen wurde, dass der Onkel wegen Fluchthilfe im Gefängnis war oder die Oma im Krieg vergewaltigt worden war. Je weniger über solche Erfahrungen geredet wird, desto mehr setzt sich das Trauma in den folgenden Generationen fort.

Viele Menschen glaubten an die DDR. Kann diese Erfahrung auch ein Trauma begründen?

Zu unserer Identität gehören auch unsere Werte. Die sind bei manchen Menschen durch ihren Glauben bestimmt, bei anderen durch eine Utopie. Manche hatten ein Leben lang gekämpft, dass ihre Utopie in der DDR Realität wird. Denen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen.

Lesen Sie die über den Regisseur Jonas Ludwig Walter und seinen Film "Tamara", der das Aufwachsen im Osten und die Prägung thematisiert

Erklärt das auch die Wut, die uns heute oft in Ostdeutschland auf Demonstrationen begegnet?

Dafür gibt es nicht eine Ursache, die für alle gilt. Aber vielen Menschen im Osten ist die Würde genommen worden. Ihnen wurde das System aus dem Westen übergestülpt. Ich hätte es für richtig gehalten, den Palast der Republik in Ostberlin nicht einfach abzureißen. Oder die Polikliniken zu erhalten. Geblieben ist das Ampelmännchen, aber das reicht nicht.

Denken Sie auch an eine neue, gemeinsame Verfassung oder an eine gemeinsame Nationalhymne?

Ja, denn es fehlt an Symbolen – und auch am Willen, die Lebensleistung der Menschen im Osten zu achten. Das hat zu einem Gefühl der Wertlosigkeit geführt. Und dieses Gefühl kann sich in Wut entladen.

Udo Baer 'DDR-Erbe in der Seele. Erfahrungen, die bis heute nachwirken.', gebunden, 235 Seiten, Beltz Verlag

Wie können die Kinder, die um 1990 herum geboren sind, mit ihren Eltern ins Gespräch kommen?

Reden, reden, reden! Es geht nur über den Dialog. Und der braucht Zeit. Wenn Kinder merken, dass nichts kommt, können sie sagen: "Du willst nicht reden, aber sobald du es willst, bin ich da, ich habe Interesse an dir!"

Sollten sich Westdeutsche mehr für den Osten interessieren?

Unbedingt! Es gibt über drei Mil­lionen Menschen, die aus der DDR in den Westen gegangen sind, in der Mehrzahl Frauen und junge ­Menschen. Auch sie brauchen Dialog. Und die Kinder von damals – ja, vor allem die Kinder!

Warum?

Eine Frau berichtete mir vom letzten Schultag vor den Ferien. Alles war wie immer. Sie trug das blaue Halstuch der Pioniere. Nach den Ferien gab es das alles nicht mehr. Sie hatte neue ­Bücher, der Geschichtsunterricht war anders, die Lehrer hatten keine Ahnung. Es gab den Pudding nicht mehr. Das war aufregend für die Kinder – aber auch ein unbetrauerter Verlust.

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Ich kenne das Buch von Herrn Baer nicht, möglicherweise hat er seine Überlegungen da differenzierter ausgeführt.
Aber in seinem Interview ist einiges klarzustellen:
- Natürlich kannte die DDR ein 1968 - nämlich der Einmarsch der Sowjetarmee in der Tschecheslowakei und damit das Ende vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz".
- Ob der ganze Palast der Republik erhaltenswert ist, darüber kann man streiten, aber der Teil, in dem die Volkskammer saß, war es bestimmt. Dort tagte nämlich die erste freigewählte Volkskammer, die überhaupt den Weg zur Einheit erst hat freigemacht.
- Damit bin ich beim Dritten Punkt: Man hat den Eindruck - je länger je mehr - , dass in der Öffentlichkeit die Initiative und der Wagemut der Ostdeutschen, der SED-Führung die Macht zu entwinden und damit auch den Fall der Mauer ausgelöst zu haben, kaum (noch) gewürdigt wird. Bestes Beispiel: In Berlin wurde nicht etwa der 17. Juni oder der 9. November zum Feiertag ausgerufen, sondern der 8. März. Ein Feiertag, den es auch in Rußland, Weißrussland und Nordkorea gibt. Darauf können nur Wessis kommen.

ich gehöre zu den Jahrgängen, die das Enstehen der DDR seit Anbeginn miterlebt haben durch Schule, Zeitgeschehen, Medien usw. Von Anfang an sind wir als Kinder, Jugendliche aufgewachsen im Bewußtsein, daß innere und äußere Widersprüche diesen Staat umgaben und andere Stimmen als die offiziellen nicht gern gehört wurden. Daß Deutschland als Gesamtstaat zerschlagen und geteilt wurde, hat meine Generation nachhaltig geprägt. Mein Eindruck bis heute ist, daß dies in der alten BRD kaum bis nicht so war, sondern diese alte BRD im Denken der Westdeutschen so etwas war wie ein Gesamtrestdeutschland und konsequent hierzu die DDR ein Quasi-Ausland. Die Politik der DDR hat dieses westdeutsche Denken kräftig mitgeprägt. Ich war einmal 1988 Zuhörer einer Bemerkung einer (westdeutschen) Besucherin kurz vor ihrer Rückfahrt: Heute gehts zurück nach DEUTSCHLAND. Meine Reaktion: Liebe...Sie sind hier in Deutschland!. Erschreckte Antwort: Ach ja! Die Wunde der Trennung und Teilung hat mich bis zur unerwarteten Herstellung der verlorenen Einheit geschmerzt. Nach 1990 bin ich viele Male auf dem ehemaligen Grenzstreifen entlanggegangen, habe die Teilung "niedergetreten" und jetzt abgeworfen, Gottseidank.

So ist es!
Die Demos in Leipzig wurden von der EKD mit Zwiespalt wahr genommen. Mit Wohlwollen ob der überraschenden "revolutionierenden" Kraft der Ostkirchen, die man hier immer noch sucht.. Mit Skepsis wegen der Aussicht, dass es dort so wird wie bei uns, dem Land und dem Sinnbild der Abwertung. Damals!! Die Wiedervereinigung war kein ev. JUBELAKKORD! Man war sich mit Rom einig. Aber nur deshalb, weil in Preussen die kath. Kirche keine nennenswerte Bedeutung hatte und hat. Das nennt man Arbeitsteilung. Sylvester läuten die Glocken. Warum? Für die Wiedervereinigung habe ich noch keine offiziell gehört. Im übrigen waren sich Linke und EKD einig, dass wir auf keinen Fall für den Osten ein Muster sein können. Die politische und die christliche Nächstenliebe sind nahe preussische Verwandte. Weit hergeholt aber nahe dabei.

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Ein unbetrauerter Verlust!! Gibt es auch einen Verlust, den man nicht betrauert, bedauert, gleichgültig oder erfreut? Diese Formulierung ist ein Indiz dafür, dass der Autor den Verlust (als DDR) noch nicht verkraftet hat. 1989/1990 wollte die EKD ja auch nicht die jetzige Wiederverenigung. Allenfalls in Form eine Kooperationsfunktion mit einer demokratischen DDR. Bisher wurde m. W. mit ROM- u. EKD-Segen auch noch nie eine Glocke für die Wiedervereinigung geläutet.

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