Kranke Kinder: Ein Vater rastet aus
Ein Baby auf der Kinderintensivstation des Universitätsklinikum Essen
Insa Hagemann/laif
Es trifft ja nur die Kinder (und die Eltern)
Viren setzen den Jüngsten zu, machen sie krank. Einmal mehr zeigt sich: Die Kleinen sind der Politik ziemlich egal
Tim Wegner
30.11.2022

In den Notaufnahmen liegen Kranke auf Bänken. Krankenhäuser melden, dass Operationen verschoben werden müssen. Es sind kaum mehr Betten frei, in einigen Regionen auch gar keine mehr.

Kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? Genau, klingt ja auch wie Nachrichten aus finsteren Corona-Zeiten. Ist aber leider aktuell. Eigentlich müsste so eine Art Lockdown-Stimmung in der Luft liegen, im TV müsste Sondersendung auf Sondersendung folgen. Und in den Talkshows müssten Virologinnen und Infektiologen mit Gesundheitspolitikern diskutieren, was nun zu tun sei.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann hat drei Kinder, zum Glück sind derzeit alle drei gesund. Bei Freunden und Nachbarn sieht es anders aus. Er hofft, dass sich kein Kind verletzt und auf ein Bett im Krankenhaus angewiesen ist.

Passiert aber nicht. Warum? Achtung, Zynismus:

Diesmal trifft es ja nur die Kinder.

Eine beispiellose Krankheitswelle rauscht durchs Land, verursacht vor allem durch das Respiratorische Synzytialvirus (RSV) und die Grippe. Während das RSV bei Älteren einen lästigen Infekt oder Schnupfen auslöst, können Säuglinge und Kleinkinder sehr schwer daran erkranken. Einige müssen sogar beatmet werden.

Auch das erinnert an Corona. Nur war es bei SARS-CoV-2 bis zur flächendeckenden Impfung und Durchseuchung umgekehrt: Kinder erkrankten meist nur mild, wenn überhaupt. Ältere waren in Gefahr. Also mussten auch Kinder Masken tragen, durften sich nicht treffen, Schulen und Kitas schlossen für Wochen und Monate (in Deutschland übrigens länger als in den meisten Nachbarländern). Heute ist wissenschaftlich belegt: Das war ein Fehler. Hat dafür eigentlich schon mal jemand bei den Kindern und Familien um Entschuldigung gebeten?

Die üblen Nebenwirkungen der harten Corona-Maßnahmen

Die harten Corona-Maßnahmen entfalten nun eine üble Nebenwirkung, den so genannten Rebound-Effekt: Jetzt holen viele Kinder auf einmal eine Infektion nach, weil sie "immunnaiv" gegenüber einem Erreger sind, der in der Bevölkerung kursiert, dem RS-Virus. Eine Krankheitswelle türmt sich auf.

Und wenn nur einige Kinder so krank werden, dass sie in Krankenhäuser müssen, ist das Personal in den Kliniken überfordert. Zumal: Die Zahl der Intensivbetten in den Kinderkrankenhäusern ist viel zu niedrig. Eine neue Entwicklung? Ein böses Schicksal? Einfach nur Pech? Ist Corona schuld? Nein! Bereits 2018 - vor vier Jahren! - hatte eine Umfrage unter Kinderintensivstationen in Deutschland gezeigt, dass rund 20 Prozent der möglichen Intensivbetten wegen fehlender Pflegekräfte gesperrt waren.

Vor vier Jahren! Das ist beschämend. Seitdem wurden Milliarden Euro an Corona-Hilfen ausgeben, die Bundeswehr darf für 100 Milliarden Euro aufrüsten und selbst hochvermögende Menschen durften sich im Sommer über einen Tankrabatt freuen, wenn sie mit ihrem SUV zur Tanke fuhren. Aber in all der Zeit fehlte es offenkundig am politischen Willen, die Situation auf Kinderintensivstationen zu verbessern? Man möchte vor Wut in die Tischkante beißen, und das mitten in der besinnlichen Adventszeit, in der wir uns - Ironie dieser Zeiten - auf die Ankunft eines Kindes freuen.

Die Misere trifft übrigens nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch die Kinderärztinnen und -ärzte in den Praxen. Eltern finden keine mehr für ihre neugeborenen Kinder. Manche Praxen bieten nur offene Sprechstunden an, weil sie nur langfristig Termine vergeben können, aber kurzfristige Hilfe gefragt ist. Und dann hocken Eltern mit hoch fiebernden Kindern dicht an dicht im Wartezimmer, denn Fiebersaft ist vielerorts nicht mehr zu bekommen. Wo leben wir denn?

Macht Lauterbach noch etwas anderes als Corona?

Es liegt nahe, die Wut bei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach abzuladen. Er ist qua Amt zuständig. Aber viele Versäumnisse haben eine längere Geschichte. Und unter Aussitzkanzlerin Angela Merkel war das Gesundheitsressort in Unionshand, Jens Spahn war zum Beispiel verantwortlich, Sie erinnern sich? (Lauterbachs Partei, die SPD, war freilich mit an der Bundesregierung beteiligt.)

Nun will der Bundesgesundheitsminister immerhin schnell dabei helfen, den Engpass bei Medikamenten wie eben Fiebersaft zu beseitigen. Und am Donnerstag kündigte er im Bundestag an, die Regierung werde bald schon eine bessere Vergütung der Kinderkliniken beschließen. Ich habe nachgezählt, Lauterbachs Rede bestand aus 1389 Worten. Das Wort "Kinder" kam zwei Mal vor. Man wird das Gefühl nicht los, dass der Mann von Corona besessen ist und andere Themen aus dem Blick verliert.

Von Elternseite hat die Politik ja auch wenig Druck zu befürchten. Viele Mütter und Väter sind immer noch geplättet von der Pandemie, in der sie überaus solidarisch mit den vulnerablen Gruppen waren und ihre Kinder zu Hause bespaßt und beschult haben - neben der Arbeit, versteht sich. Manche dürften sich dieser Tage an diese Zeit erinnert fühlen. Sie sind mit kranken Kindern zu Hause - und arbeiten natürlich trotzdem weiter. Oder sie müssen die Kinder früher als sonst abholen, weil die Kita ihre Öffnungszeiten verkürzen musste - Personalmangel.

Es ist allerhöchste Zeit, dass die Familien wütend werden, Kinder wie Eltern. Denn unser Umgang mit der aktuellen Krankheitswelle zeigt einmal mehr: Kinder sind ziemlich vielen Menschen und großen Teilen der Politik leider ziemlich egal. Sieht man übrigens auch in der Klima- und Energiepolitik.

Wut allein hilft nicht, sie muss wirksam werden. Hier ein paar Ideen, wie das klappen könnte:

  • Eltern könnten mit Streik drohen, damit sich auch die Wirtschaft, die in Zeiten des Fachkräftemangels auf jede Mutti und jeden Papi angewiesen sind, für Kinder einsetzt.
  • Eltern könnten sich für ein Wahlrecht ab 16 Jahren einsetzen, damit die Jugendlichen schneller eine Stimme bekommen.
  • Verfassungsrechtlich sicher heikel, aber wie wäre es damit, wenn Eltern bei Wahlen für ihre Kinder mitwählen dürfen? Wer zwei Kinder hat, hat drei Stimmen. Es käme sicher einiges in Gang, was zukunftsträchtig ist. Wäre doch mal eine interessante Forderung.
  • Und: Alle könnten sich gegen die Grippe impfen lassen, damit wenigstens ihr Anteil an der Krankheitswelle bricht.

Bis dahin erst mal allen eine gute Besserung, in jederlei Hinsicht!

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