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Hesther Ng / Imago Images
Heilsame Trauer für das britische Volk
Aus aller Welt reisen Menschen nach Großbritannien, um der Queen die letzte Ehre zu erweisen. Ungeachtet der Krisen, die diesen Winter bevorstehen, sind die Menschen in ihrer Trauer vereint. Pfarrerin Kerstin Othmer berichtet aus Cambridge.
Kerstin OthmerPrivat
23.09.2022

Der Tod der Queen nimmt viel Platz im öffentlichen Leben in Großbritannien ein – die Medien sind voll, es wird Tag und Nacht gezeigt. Die Zeremonien sind überall präsent. Es gibt eine perfekte Inszenierung, eine tolle Choreographie, ein wahres Theater, die in einer Welthierarchie gezeigt werden. Und die Leute reisen von überall her an. Ich habe solche Paraden bisher nur in den Ländern China und Russland gesehen und bei Auftritten des Papstes. Durch eine deutsche Brille geschaut wirken solche prunk- und protzvollen Veranstaltungen nicht echt und glaubwürdig. Aber Zeremonien können unglaublich echt sein. Und ästhetisch und berührend.

Die Queen und die königliche Familie sind für viele Briten und Britinnen Teil der Familie, also Angehörige. Sie sind Projektionsflächen – und da werden auch verschiedene Generationskonflikte dargestellt und stellvertretend genannt. Denn in der englischen Kultur haben die Prinzen mit ihren weißen Rössern und die vielen Cinderella-Träume einen festen Platz. Die britischen Royals erfüllen eine wichtige öffentliche Funktion. Ohne sie würde das Netz der gemeinnützigen Organisationen vermutlich zusammenbrechen. Die königliche Familie hält die Wohlfahrt in diesem Land hoch. Es gibt, abgesehen von den kirchlichen Trägern, nur eine bescheidene staatliche Versorgung auf karitativer, diakonischer Ebene. In 70 Jahren Leben für die Krone hat Elizabeth II. unermüdlich eine Vielzahl an wohltätigen Projekten und Organisationen in Großbritannien und im Commonwealth unterstützt. Damit hat sie einen Maßstab in der Monarchie gesetzt.

Kerstin OthmerPrivat

Kerstin Othmer

Kerstin Othmer ist Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche deutscher Sprache in Ostengland mit Sitz in Cambridge.

Was mit dem Tod von Elizabeth II. wegbricht, ist eine Vertrauens- und Identifikationsfigur. Das bewegt mich. Sie war und ist eine "Very Important Person". In ganz Großbritannien liegen an vielen öffentlichen Orten, etwa Universitäten, anglikanischen Kirchen oder Schulen, Kondolenzbücher aus, um Menschen die Gelegenheit zu geben, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Diese Reichweite im Land sucht ihresgleichen.

Trauer kann etwas Selbstbezogenes haben – es ist niemand mehr da, der sich um mich kümmert, ähnlich wie bei einem Todesfall in der eigenen Familie. Die Trauer, der Abschied und die Trennung müssen begriffen und verarbeitet werden. Es gibt eine Ebene, auf der ich Anteil nehmen kann, Empathie zeigen und mitleiden darf. Die Tränen dürfen fließen. Eine kollektive Trauer, die Heilsames birgt.

Und doch empfinde ich Ambivalenzen. Die Trauer lenkt auch von der Krise ab, die uns im Winter bevorsteht. Die Zeremonie kostet den Steuerzahler enorm viel Geld und ist medial extrem gehypt. Die Spaltung geht durch das Volk, durch Nachbarn und Familien. Durch den Tod der Queen sind keine politischen Lager vereint. Genau wie beim Brexit, wo sich Freunde und Verwandte überworfen haben. Ist es der falsche Zeitpunkt, die Monarchie infrage zu stellen oder über Veränderungen dieser Struktur nachzudenken? In dieser Zeit sind viele behutsam mit Kritik, Probleme rücken in den Hintergrund – denn man kann grundsätzlich die Monarchie und ihren historischen Kontext kritisieren, aber gleichzeitig genauso trauern und das Leben der Queen würdigen.

In der deutschsprachigen Kirche in Ostengland haben wir einen angemessenen Raum geschaffen für Würdigung, Gebet und Stille. Es beschäftigt die Gemeindeglieder. Gleichwohl geht das Leben weiter. Auch nach dem Tod einer so starken und unerschütterlichen Frau.

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