Wegen antisemitischer Darstellungen verhüllt: Installation auf der documenta 2022
Heiko Meyer/laif
Antisemitismus, Identitätspolitik und die Documenta
"Die Sorge um die Palästinenser ist vorgeschoben"
Judenfeindschaft hat immer etwas mit uns selbst zu tun, sagt der Antisemitismusforscher Klaus Holz, denn auch die christliche Identität basiert auf Abgrenzung zum Judentum
Tim Wegner
12.08.2022
6Min

chrismon: Sie haben mit dem Soziologen Thomas Haury eine umfangreiche Studie über israelbezogenen Antisemitismus vorgelegt. Ihre zentrale These ist: Antisemitismus ist immer Identitätspolitik. Was meinen Sie damit?

Klaus Holz: Antisemitismus wertet Jüdinnen und Juden ab. Diesem negativen Bild entspricht immer ein positives Selbstbild. Zum Beispiel davon, wer wir Christen sind oder wir Deutschen.

Peter van Heesen

Klaus Holz

Klaus Holz, geboren 1960, ist Soziologe, Antisemitismusforscher und Autor. Bis zum Frühjahr 2023 leitete er als Generalsekretär die Geschäftsstelle der Evangelischen Akademien. Zuvor hat er das Evangelische Studienwerk e.V. Villigst geleitet. Im Oktober 2021 veröffentlichte er zusammen mit Thomas Haury das Buch "Antisemitismus gegen Israel". Hamburger Edition. 424 Seiten, 35 Euro. Holz hat sich u.a. als Mitglied im Hochschulbeirat der EKD, im Vorstand der FEST in Heidelberg und im Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestags einen Namen gemacht.

Auf die Juden wird alles projiziert, was dieses Wir stört?

Nehmen Sie zum Beispiel die antisemitische Identifikation der Juden mit Geld: Juden stecken angeblich hinter der Börse, hinter dem unmoralischen Finanzkapitalismus, beuten andere aus. Dem entspricht auf der anderen Seite das Selbstbild eines deutschen Volkes, das sich durch ehrliche, gemeinsame, produktive, schaffende Arbeit erhält. Gute Arbeit versus schlechtes Geld, wobei das Geld die Arbeit ausbeutet und "unsere gute Ökonomie" zersetzt.

Ein weiteres Beispiel für diesen Gegensatz?

Auf der einen Seite die nationalistische Vorstellung: Würden die Juden uns lassen, wären wir eine gute Volksgemeinschaft, die moralisch integriert ist, keine schwerwiegenden Konflikte hätte, einer goldenen Zukunft entgegengehen würde. Alles, was diese nationale Ordnung vermeintlich gefährdet, wird im Juden verkörpert: Internationalismus, Kommunismus, Liberalismus, Finanzkapital, Universalismus, heute der Globalismus.

Passt dazu, dass Verschwörungsgläubige die Juden auch für Corona verantwortlich machen?

Ja. Im rechten und rechtsextremen Spektrum hat sich international die Leitidee durchgesetzt – das gilt für die AfD in Deutschland, für Orbán in Ungarn, für die rechtsextreme Szene in den USA –, dass durch die Konflikte in der Welt und durch die Pandemie Migrationsströme entstehen. Die Rechten sind Rassisten und lehnen Migranten ab. Aber sie gehen noch weiter und behaupten, dass eine internationale Kraft diese Migrationsströme absichtlich verursacht und steuert, um uns durch die "Völkervermischung" auszulöschen. Diese universalistische, treibende Kraft wird wieder im Juden verkörpert.

"Die Psalmen bleiben jüdisch"

Warum immer die Juden?

Entscheidend dafür sind 2000 Jahre christlicher Antijudaismus.

Die christliche Identität basiert auf der Abgrenzung zu den Juden.

Das Christentum entsteht als Strömung innerhalb des Judentums und versteht sich im ersten Jahrhundert als Teil des Judentums. Dann tritt die Frage in den Vordergrund: Ist Jesus der Messias, ja oder nein? Entlang dieser Frage verläuft die Abgrenzung zum Judentum. Die ersten Christen gingen ja davon aus, dass der Messias noch zu ihren Lebzeiten wiederkehrt. Als das nicht passierte, brauchte es eine Erklärung, warum nicht und wie es weitergeht. Diese Erklärungen formten aus einer jüdischen Sekte eine eigenständige Religion mit einer eigenen Struktur, einer eigenen Identität. Zugleich bleibt das Christentum auf das Judentum verwiesen und versteht sich als das "neue Bündnis" im Gegensatz zum "alten Bündnis", das man abwertet.

Ist christliche Identität dann überhaupt möglich ohne Antijudaismus?

Ich hoffe es. Aber dafür müssen wir Christen das Jüdische im Christentum als Jüdisches akzeptieren. Die typisch christliche Antwort war ja: Wir nehmen bestimmte Teile aus dem Judentum weg – die Zehn Gebote, die Psalmen, das Versprechen des Messias - und erklären sie zum Eigenen, weil es die Juden angeblich verwirkt haben. Nein, die Psalmen bleiben jüdisch, auch wenn ich sie als Christ gut finde. Das heißt aber letztlich, wir müssen als Christen eine ambivalente Identität akzeptieren.

Lesen Sie hier, was Judenhass mit Antisemitismus zu tun hat.

"Man behauptet, die Opfer seien zu Tätern geworden"

Nach 1945 haben die Kirchen ihre Schuld im Nationalsozialismus anerkannt und öffentlich bekannt. Auch theologisch wurde viel aufgearbeitet. Aber Umfragen ergeben, dass Kirchenmitglieder genauso antisemitisch sind wie konfessionslose Deutsche. Wie erklären Sie das?

Christen und Christinnen haben ja nicht nur religiöse Vorurteile, sondern sind auch ganz normale Zeitgenossen. Ich kann als Christ verstanden haben, dass es Quatsch ist zu denken, die Juden hätten Jesus ermordet. Und trotzdem dem Verschwörungsglauben anhängen, die Juden steckten hinter dem Finanzkapital oder hinter der Corona-Pandemie.

1945 war allen klar: Die Juden waren Opfer der Nationalsozialisten. Warum hatte sich der Antisemitismus damit nicht erledigt?

Die deutsche Seite war in der Täterposition. Die ist unangenehm, die will man loswerden. Das geht am einfachsten, wenn man behauptet, dass die Opfer zu Tätern geworden sind. Das häufigste antisemitische Vorurteil heute in Deutschland ist: Was die Juden mit den Palästinensern machen, ist genauso schlimm wie das, was die Nazis mit den Juden machten. Das nennt man in der Forschung Täter-Opfer-Umkehr. Da muss ich den Holocaust gar nicht leugnen, sondern erkläre ihn einfach für irrelevant für die Gegenwart und die Zukunft.

Gerade erst habe ich von meinem Friseur gehört: An Israel sieht man ja, dass die Juden nichts gelernt haben aus ihrer Geschichte …

Man kann viel an der israelischen Besatzungspolitik kritisieren, aber sie mit Auschwitz gleichzusetzen, ist so offensichtlich falsch! Das zeigt, dass die Sorge um die Palästinenser vorgeschoben ist. Eigentlich geht es um die Entlastung der eigenen Position.

Lesen Sie hier, wie Sie antisemitische Aussagen erkennen können.

Woher wollen Sie das wissen?

Weil es überhaupt kein Problem ist, sich mit Palästinensern und Palästinenserinnen zu solidarisieren und die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten zu kritisieren, etwa die unzureichende Wasserversorgung, die Lebenserwartung - ohne einen derart absurden Vergleich zu ziehen, dass die Situation dort den Vernichtungslagern oder Todesmärschen entspräche.

"Eine vereinfachte Gegenüberstellung führt zu Verzerrungen"

Auch in der evangelischen Kirche ist die Solidarität mit den Palästinensern groß, besonders mit den palästinensischen Christen. Das ist ja erst mal gut, oder?

Die Empathie für leidende Menschen ist zu begrüßen. Das will ich auch niemandem absprechen oder schlechtreden. Problematisch wird es, wenn man sich der Komplexität des Nahostkonflikts verweigert. Eine vereinfachte Gegenüberstellung von Unterdrückten und Unterdrückern führt zu Verzerrungen.

Inwiefern?

Israel ist Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten. Zugleich waren der Zionismus und die Gründung des Staates eine Reaktion auf den fortdauernden Antisemitismus in Europa. Und insbesondere eine Reaktion auf den Holocaust. Dazu kommt, dass nicht nur Israel den Nahostkonflikt verursacht hat. Auch die umliegenden arabischen Staaten waren beteiligt, etwa der Iran, Syrien, Ägypten, auch die internationalen Mächte, die Sowjetunion, die USA. Dass es besetzte Gebiete gibt, ist Resultat des Sechstagekrieges, den nicht Israel angefangen hat. Die ganze Konfliktkonstellation ist sehr komplex. Man darf auch nicht vergessen, dass alle arabischen Nachbarländer seit 1948 den geflüchteten Palästinensern und Palästinenserinnen in ihren Ländern die Bürgerrechte verwehren. Sie halten absichtlich das Flüchtlingsproblem wach, indem sie die Menschen nicht integrieren! Das alles muss man mit ins Bild nehmen. Dazu kommen Hamas und Hisbollah als terroristische Organisationen, die zugleich innerpalästinensisch antidemokratisch und gewalttätig sind. Das entschuldigt nicht alle israelische Politik, aber es erklärt, warum der Konflikt sehr komplex ist.

"Wer echter Antirassist ist, muss gegen Israel sein?"

Warum dreht sich auch in der globalen antirassistischen Debatte so viel um Israel?

Durch den Antisemitismus fällt auf alles Jüdische eine größere Aufmerksamkeit. Deshalb war auch der Nahostkonflikt von Anbeginn an etwas Besonderes. Außerdem lässt sich an diesem Konflikt etwas Prinzipielles festmachen: Ist die Kritik an Kolonialismus und Rassismus ein universaler Ansatz? Ist die Kolonialismus- und Rassismuskritik tatsächlich das große entscheidende zeitgenössische Narrativ, mit dem sich die Welt in Gut und Böse ordnen lässt? Anhand von Südafrika und anderen Ländern lässt sich relativ einfach klären, wer die Unterdrückten und wer die Unterdrücker waren. Mit Israel ist das schwieriger. Und so wird ausgerechnet Israel zu dem Land, an dem sich festmacht, ob man wirklich Antirassist ist oder nicht. Wer echter Antirassist ist, muss gegen Israel sein. Oder andersrum: Dass ich gegen Israel bin, beweist, dass ich Antirassist bin. An Israel zeigt sich, ob ich wirklich konsequent bin. Auch das ist Identitätspolitik.

Lesen Sie hier ein Interview über die Lage im Gazastreifen mit einem deutschen Arzt, der nach dem 7. Oktober vor Ort war.

Es war also kein Zufall, dass dieser Konflikt auf der Documenta eine solche Bedeutung bekommen hat?

Nein, das war kein Zufall. Das hätte man vorher wissen können. Dass die Documenta eine rassismuskritische, kolonialismuskritische Position starkmachen will, ist ja ein sehr guter Ansatz. Indem man das aber so fahrlässig machte, ist dieser ganze Ansatz diskreditiert. Und dann war auch noch das Konfliktmanagement mies. In den Stellungnahmen heißt es immer wieder, man wolle "keine Gefühle verletzen". Es geht nicht darum, keine Gefühle von Juden zu verletzen.

Sondern?

Antisemitismus ist eine menschenverachtende, über Jahrtausende in der Kultur verankerte Ideologie der Ungleichheit und verdient prinzipielle Verurteilung. Wir müssen auch wegkommen von der Opferkonkurrenz. Weg von dem Entweder-oder, entweder Antisemitismuskritik oder Rassismuskritik. Wir brauchen dringend beides. Und beides verweist aufeinander. Auch wenn sich die Widersprüche zwischen beiden nicht in Harmonie auflösen lassen. Wir müssen mit den Widersprüchen leben lernen.

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Es ist richtig, nicht "Die Juden" haben Christus ermordet. Es waren Personen die dort lebten. Auch andere Ethnien konnten beteiligt gewesen sein. Leider taten sie das angeblich im göttlichen Auftrag. So wurde geschrieben und wird es bis heute gesagt. Ohne den Tod Jesu gäbe es das Christentum nicht. Einen Mord im Auftrag Gottes als Religionsstiftung! Und noch verwirrender: Gäbe es überhaupt so lange das Volk der Juden mit ihrer Religion ohne das Christentum? Könnte es auch sein, dass der christliche Antisemitismus (spätesten an jedem Karfreitag erneuert) mit seinem Zwang zum Überleben der Juden in der Diaspora erst die Kräfte zur behaupteten Überlegenheit frei setzte? Dieser "Mummenschanz" (oder besser Schatz?) an verwirren Behauptungen, auch noch mit Latein als Geheimsprache zelebriert, war der Nährboden für den Antisemitismus. Es wäre geradezu paradox, wenn erst das Schlechte dem Besseren (wer hat Wüsten grün gemacht und Nobelpreise erhalten?) zum erfolgreichen Überleben verholfen hat? Das in den Köpfen von Rom, und der Vatikan stürzt ein. Nicht nur der.

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"Alles, was diese nationale Ordnung vermeintlich gefährdet, wird im Juden verkörpert: Internationalismus, Kommunismus, Liberalismus, Finanzkapital, Universalismus, heute der Globalismus."

Nein, es wird in der systemrationalen Konfusion / dem "gesunden" Konkurrenzdenken des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs eingesetzt - Der Kreislauf / der "Tanz um den heißen Brei" des imperialistisch-faschistischen Erbensystems mit stets heuchlerisch-verlogener Schuld- und Sündenbocksuche, nicht erst seit Jesus, sondern seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies", in die Möglichkeit als Mensch ganzheitliche Eigenverantwortung gottgefällig zu entwickeln!).

Jesus hat versucht dem jüdischen Volk in Erinnerung/Bewußtsein zu rufen, warum sie das auserwählte Volk sind / welches Verantwortungsbewusstsein das instinktive "Individualbewusstsein" und den geistigen Stillstand / die "göttliche Sicherung" vor dem Freien Willen von Mensch auflöst und global/international geistig-heilend selbst- und massenbewusst wirken kann/soll.

Eine gesetzmäßige Agenda für GeschäftsUNsinn/"Bewusstseinsentwicklung" durch rationales Wirtschaften hat die Schöpfung nie formuliert!!!

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