Als Soldat kämpfen oder Kriegsdienst verweigern?
Buttons der Friedensbewegung aus den 1980er Jahren
picture alliance/Federico Gambarini
Kriegsdienstverweigerung
Würden sie es wieder tun?
Fünf Männer über ihre Kriegsdienstverweigerung in den 80er und 90er Jahren – und was sie heute davon halten.
Tim Wegner
22.07.2022
14Min

"Heute würde ich wieder verweigern"

Manfred, 62:

Alle Jungs um mich herum gingen ­ zum Militär, auch die auf dem Gymnasium. Das war so ein Männer- und Waffending. Ein Cousin zum Beispiel ­hatte das Projektil einer Panzerfaust auf dem Schrank stehen; und mein alter Grundschulfreund war geradezu stolz darauf, geschliffen zu werden. Ich empfand die Gesellschaft Ende der 70er Jahre als militarisiert. Ich wollte nicht dazugehören, zu diesen waffenbegeisterten jungen Männern, die sich einfach bedenkenlos der Armee anschlossen.

Denn mir war klar, dass Soldaten ein Werkzeug sind, das von Menschen eingesetzt wird, deren Werkzeug ich nicht sein wollte. Wir hatten keinerlei Zutrauen zu diesen Leuten. Wir, das waren vor allem Mitschüler aus der B-Klasse. Und zwei Freunde im Dorf.

Dass Deutschland friedlich geworden sein soll innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten nach dem Faschismus, also praktisch über Nacht, glaubten wir keine Sekunde. Wir sahen ja, dass die Typen von dazumal noch in großer Zahl die Schlüsselstellen besetzten. Deswegen sind wir davon ausgegangen, dass die Bundeswehr keine reine Verteidigungsarmee ist.

Wir hatten einen Sportlehrer, der war wahrscheinlich kein Nazi, aber er liebte den militärischen Drill. Augen rechts – in Riegen- ordnung mussten wir durch die Turnhalle traben. Der hatte sichtlich Freude daran, dass er da eine kleine Kompanie kommandieren konnte. Was hat das im Sportunterricht zu suchen? Der hat auf seine Weise die Haltung des Verweigerns bestärkt.

"Ich war nicht überzeugend genug als Weichei mit Knacks"

Ich rasselte durch beide Anhörungen, Anfang der 80er war das. Politisch durfte man eh nicht argumentieren, das wussten wir, aber man konnte sich auch nicht einfach nur auf sein Gewissen berufen. Man musste als psychisch angeknackst performen. Und das vor Kommissionen, die sich oft kaum für uns Verweigerer interessierten. Bei der ersten Anhörung las ein Beisitzer demonstrativ Zeitung.

Die wollten einfach ein Schlüsselerlebnis hören. Das beliebteste war der Waldspaziergang. Ich ging durch den Wald, und plötzlich wurde mir klar: die Natur und dieses Gefühl des Einsseins mit allem – ich kann nicht töten. Für diese Typen in den Kommissionen war dann klar, okay, das ist einer mit Knacks.

Man musste den Gesamteindruck eines ­unmännlichen, hilfsbereiten, sensiblen Geschöpfes erwecken. Ich erwähnte zum Beispiel, dass ich mich seit vielen Jahren um einen spastischen Gelähmten aus dem Dorf kümmere. Eigentlich war das nichts, dessen man sich rühmen könnte, deshalb schäme ich mich noch heute für das Beispiel. Er kam halt gern zum Teetrinken vorbei, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, und ich hab dann ein Stündchen mit ihm Tee getrunken. Allein dafür kann man diese ganze Institution hassen, dass sie einen zwang, so rumzuschleimen.

Ich war trotzdem nicht überzeugend genug als Weichei mit Ditsche. Erst vor dem Ver­waltungsgericht wurde ich anerkannt. Aber auch nur mit Hilfe meiner Anwältin.

Heute würde ich wieder verweigern. Weil sich im Prinzip nichts geändert hat an der damaligen Einschätzung. Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, dass die Bundeswehr auch international "Verantwortung übernehmen" muss. Die Bundeswehr wurde zu einer Interventionsarmee umgebaut, zum Teil jedenfalls. Intervention aber ist keine Selbstverteidigung. Was hatten wir in Afghanistan verloren?

In der Ukraine dagegen geht es eindeutig um Verteidigung. Dann, finde ich, kann man auch Teil einer Armee sein. Aber es muss auch dann das Recht geben, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Weil es Leute gibt, die das tatsächlich nicht können. Außerdem kann man sich auch auf andere Weisen bei der Verteidigung einsetzen, zum Beispiel an Sabotageaktionen mitmachen.

Ich würde mich vielleicht heute anders entscheiden, wenn ich wüsste, dass ich Teil eines friedlichen Staatswesens bin, das konstitu­tionell gar nicht mehr fähig ist, zum Beispiel irgendwelche Rohstoffinteressen in Afrika oder sonst wo zu verteidigen. Dann würde ich sagen: Okay, Selbstverteidigung möchte ich auch lernen, bildet mich bitte an der Waffe aus, sonst stelle ich mich am Ende noch blöd an, wenn es drauf ankommt. Aber von der ­Situation sind wir weit entfernt.

Ein Pazifist bin ich nicht. Ich sage nicht, dass Waffengewalt die Welt immer nur schlechter machte. Der Krieg gegen Nazideutschland war mit Sicherheit gerecht. Da hätte ich kein Pazifist sein wollen.

In der Bundesrepublik ist Kriegsdienstverweigerung ein Grundrecht: "­Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Aber ihre "Gewissensnot" mussten Kriegsdienstverweigerer bis in die 80er Jahre in einer mündlichen Verhandlung nachweisen. Daran gab es früh Kritik, auch vonseiten der Kirchen: Eine Gewissensentscheidung könne nicht objektiv überprüft werden. Später reichte eine schriftliche Begründung.

"Ich bekenne meine Ratlosigkeit"

Tobias, 62:

Meine Entscheidung, den Dienst mit der Waffe zu DDR-Zeiten abzu­lehnen, hing wie bei vielen (nicht allen) ehemaligen Bausoldaten mit dem christlichen Glauben zusammen. ­"Schwerter zu Pflugscharen" waren für mich keine ­leeren Worte, sondern Lebenseinstellung. ­Darüber hinaus: Sollte ich im Ernstfall auf meine ­geschätzte Verwandtschaft im Westen ­schießen? Absurd.

Wer den Dienst mit der Waffe ­verweigerte, wurde von einem Tag auf den anderen zum "Staatsfeind". Man musste mit allen möglichen Einschränkungen leben, konnte beruflich nicht das werden, was man eigentlich wollte. Und man stand natürlich auch im ­Fokus der Stasi.

Ich war von November 1985 bis April 1987 Bausoldat in Prora auf Rügen, in einer ­riesigen Kaserne der Nationalen Volksarmee. Ich wurde beim Bau des militärstrategischen Hafens Mukran eingesetzt. Am Anfang musste ich Kabelgräben ausschachten. Manchmal wurden die Gräben anschließend von einer Planierraupe wieder zugeschoben. Dann arbeitete ich lange beim gefährlichen Verladen der großen unförmigen Felsbrocken, die zum Befestigen der Mole gebraucht wurden. Und im Winter mussten wir aus vereisten Kohle­bergen Brocken heraushacken für marode Heizkessel.

"Ich litt unter Alpträumen"

Ich litt regelmäßig unter Alpträumen. Manchmal schrie ich das rauschende Meer an: "Ich will hier raus!" Die Schinderei. Dazu die dauernden Erniedrigungen. Zum Beispiel musste ich im Rahmen einer dreitägigen Arreststrafe für einen heimlichen Gottesdienstbesuch in der Kaserne der Grenz­truppen eine Nacht lang mit einer Rasierklinge die Pinkelbecken von Urinstein befreien.

Ein kleines Mittelwellenradio mit Ohr­hörer half mir, den grauenvollen Alltag in Prora besser zu überstehen, ich trug es gut versteckt direkt am Leib. So etwas war eigentlich streng verboten. Ich hörte vor allem Deutsche Welle und Deutschlandfunk. Ich nannte das Radio "Helmut", weil ich die Stimme von Helmut Kohl öfter hörte. Und stundenlang Bundestagsdebatten. Das half mir später, in der Wendezeit, manches schneller zu verstehen.

Lesen Sie hier, ob die christliche Friedensethik überholt ist

Auch am letzten Tag wurden wir um vier Uhr geweckt. Wir mussten alles reinigen, auch die Spinde in die Mitte des Zimmers ­rücken, um dahinter zu bohnern. Wir schrieben bei dieser Gelegenheit an die Rückwand des Spindes eine Nachricht für unsere Nachfolger: "Haltet durch. Gott segne Euch." Dann durften wir die zivile Kleidung anziehen. Ich sah meine ehemaligen Leidensgenossen wie bunte Schmetterlinge, die sich aus der graugrünen Hülle befreiten und davonflogen.

"Ist Pazifismus noch zeitgemäß?"

Die aktuellen Ereignisse bewegen mich sehr. Ist Pazifismus im Blick auf den Ukraine­krieg noch zeitgemäß? Ich habe für mich persönlich noch keine Antwort gefunden. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Ich ­bekenne meine Ratlosigkeit.

Aus meiner Sicht ist es jetzt erst mal wichtig, den Menschen zu helfen, wo immer das möglich ist. Und nach wie vor ist es wichtig, für den ­Frieden zu beten.

In der DDR gab es kein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung, aber es gab die gesetzliche Möglichkeit, "aus religiösen Gründen" den Dienst mit der Waffe zu verweigern und einen waffenlosen Ersatzdienst innerhalb der ­Nationalen Volksarmee abzuleisten, als "Bausoldat". Etwa ein Prozent der Wehrpflichtigen verweigerte pro Jahr. Die Bausoldaten bauten zum ­Beispiel militärische Standorte mit auf. Einen zivilen Ersatzdienst wie in der BRD gab es nicht. Wer sich für den Bausoldatendienst entschied, konnte in der DDR meist nicht studieren, außer Theologie. Viele ehemalige Bausoldaten engagierten sich in oppositionellen Gruppen und wirkten bei der Revolution 1989/90 mit.

"Unbekannte Leute einfach so abknallen - Wahnsinn"

Sebastian, 60:

Ich war gerade vier geworden, als im ­Januar 1966 mein Vater starb. An Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte waren der Meinung, dass das eindeutig Folge der Mangelernährung in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen ist. Er war ja erst 1949 aus der Gefangenschaft heimgekommen. Die Ärzte rieten, meine Mutter solle ihren Mann obduzieren lassen. Wenn dann klar geworden wäre, dass er an den Folgen des Kriegs oder der Gefangenschaft gestorben ist, hätte ­meine Mutter eine Zusatzrente bekommen und ich wäre freigestellt worden vom Wehrdienst. Aber meine Mutter wollte ihren Mann nicht "zerschnippeln" lassen.

Ich hab 1979 verweigert und bin durch die Anhörung gefallen. Als ich vom Tod meines Vaters berichtete, sagte der Vorsitzende ganz süffisant: "Nicht Ihr Vater verweigert, ­sondern Sie." Zack. Das hat mich fast umgehauen. Ich konnte meine eigentliche Argumentation gar nicht mehr vorbringen.

Du durftest damals ja nicht aus politischen Gründen verweigern, sondern es hieß ­"Gewissensprüfung". Die fragten immer Notwehr und Nothilfe ab: Baumlanger Kerl im Wald will deine Freundin vergewaltigen, zufällig hast du eine Maschinenpistole dabei, und natürlich schießt du, alles andere wäre ja unglaubwürdig. Aber du musstest glaubhaft machen, dass du schweren seelischen ­Schaden davontragen würdest. Nur, wie willst du das nachweisen, am grünen Tisch, wenn du noch niemanden getötet hast?

"Baumlanger Kerl will deine Freundin ..."

Die haben mich auch die ganze Zeit nicht mal angeschaut. Danach bin ich mit meiner Vespa auf eine Wiese oberhalb vom Dorf gefahren, das war meine Trauerwiese, auch bei unglücklicher Liebe, und hab erst mal geflennt. Vor der zweiten Verhandlung hatte ich anwaltliche Beratung und bin dann auch anerkannt worden.

Kurios war, dass der Vorsitzende der zweiten Verhandlung ein Admiral a. D. oder so was war, ein älterer, humorvoller Herr mit Fliege, der mir sehr zugewandt war, keine Ahnung warum. Irgendwann kam die übliche Nothilfe­frage: "Was würden Sie machen, wenn Sie mit Ihrer Freundin im Wald . . ." Ich hob gerade an mit meiner Antwort: "Ich würde natürlich schießen . . ." Da unterbrach er mich, nahm mir den Rest ab und diktierte in sein Aufnahmegerät: "Der Antragsteller betont, dass er Not­hilfe leisten würde, allerdings NICHT OHNE SCHWEREN SEELISCHEN SCHADEN davonzutragen." Ich war schwer beeindruckt.

Mich regt dieser Krieg gegen die Ukraine auf. Am Anfang dachte ich kurz: Ich geh da jetzt hin und verteidige europäische Werte. Dann geht es halt nicht anders als mit der Waffe. Die Alten könnten ja zugunsten der Jungen, ich hätte zumindest schon 60 Jahre Leben gehabt. Aber ich weiß gar nicht, wie man so ein Scheißmaschinengewehr bedient. Dumm gelaufen.

Dagegen weiß ich seit meinem Zivildienst, wie man querschnittgelähmte junge und alte Männer kathetert, wie man ihnen ein Kondom mitsamt Schlauch zum Ablauf der ­flüssigen Ausscheidungen an den Penis klebt, wie man ihnen tat­kräftig beim Abführen hilft, wie man bei all dem die Peinlichkeiten von ­Gefühlen und Gerüchen überspielt, und wie man vor allem ihr Leid mitträgt, wenn sie nachts ­leise ­weinen. Aber was nützt mir das alles in ­dieser jetzigen Weltsituation. Vielleicht hätte ich ­damals, vor 40 Jahren, eben doch einfach schießen lernen sollen.

"Ich müsste nur rattatatatt machen"

Ich läge da in einem Graben, da hinten ­wären russische Leute, ich müsste nur rattatatatt machen, und dann würde ich bestimmt vier erwischen. Als ich mir das vorstellte, ist mir sofort wieder dieser ganze Wahnsinn gekommen: unbekannte Leute einfach so abknallen. Und es danach bedauern.

Meine Mutter erzählte oft, wie es meinem Vater nachgegangen ist, dass er ganz am Anfang 1939 in Frankreich einen jungen Franzosen erschossen hat. Die beiden standen sich plötzlich auf einer Lichtung gegenüber, und mein Vater hat wohl schneller geschossen. Das hat er meiner Mutter erzählt, immer wieder.

Es gibt noch die Handschuhe, mit denen mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist. Ich kann die nicht wegschmeißen. Aber wie soll ich jemanden erschießen können, wenn’s mir schon schwerfällt, irgendwelche Dinge wegzuschmeißen, weil ich weiß, das ist dann weg?

"Mein hauptsächliches Gefühl derzeit ist Ohnmacht"

Nils, 46:

Ich hab schon bei der Musterung gesagt, dass ich verweigern möchte, dann kam ein Post-it auf die Akte. Da stand drauf: beabsichtigt zu verweigern. Danach waren sie gleich unfreundlicher. Als ich in das letzte Zimmer kam – an der Wand hing ein Foto des Bundespräsidenten, 1995 war das Roman Herzog – saß da so ein dekorierter Typ in Uniform. Der sagte, als ich reinkam: Es tut mir so leid für Sie! Ich dachte: Super, die haben irgendwas gefunden, dass ich untauglich bin.

Er sagte: "Ja, Sie sind einige wenige Zentimeter unter Gardemaß, sonst hätten Sie Tauglichkeitsstufe 1 bekommen und Sie könnten ins Wachbataillon. Aber Sie können außergewöhnlich gut hören und haben gute Englischnoten, wenn Sie nicht verweigern, dann setzen wir uns dafür ein, dass Sie Funker werden und die Fachausbildung ist nach drei Monaten Grundausbildung auf Malta. Überlegen Sie es sich noch mal!" So meine ich das zu erinnern.

Im Pflegeheim, im Krankenhaus oder in Kitas –
Zivis waren überall gefragte Helfer
Aber meine Erziehung war stark von Werten wie Gewaltverzicht und Nächsten­liebe geprägt. Mein Vater war bei Kriegsende sieben, er hat uns oft erzählt, was sich ihm eingebrannt hat. Die Tieffliegerangriffe zum Beispiel. Und der glühend rote Himmel über Hamburg 1943, als die Stadt brannte, in der sein großer Bruder krebserkrankt im ­Krankenhaus lag.

Mein Vater sagte immer: Bloß nie mehr so was wie Krieg!

Und sie hatten einen französischen Kriegsgefangenen auf dem Hof, der hieß André. Mein Opa hat den André so behandelt, dass der wie mit der Familie lebte. Das war verboten. Immer wenn es klopfte, haben sie schnell sein Geschirr vom Tisch weg- und woanders hingestellt. Dieser Kriegsgefangene hat meinen spielenden Vater auch mal vom Feld geholt, als sich Tiefflieger näherten. Mein Vater versuchte bis in die 70er Jahre, ihn zu finden.

Mein Vater sagte immer: Wenn bloß nie mehr so was wie Krieg kommt! Es hat meine Eltern immer sehr beschäftigt, wenn im Fernsehen in Nachrichtensendungen geschossen wurde, beim Falklandkrieg zum Beispiel, Iran / Irak . . . Meine Eltern waren eher unpolitisch, aber dass Gewalt nicht weiterführt, das meinten sie wirklich ernst.

Ich hatte als Kind große Angst vor einem Atomkrieg. Ich hab wohl ein paar Filme gesehen, unbemerkt, ich hab mich oft in eine Ecke verkrochen, so dass die Eltern nicht sahen, dass ich noch kucke. Zum Beispiel "Das Boot" und später "The Day After". Das hat mir echt Angst gemacht.

Ich wurde anerkannt als Kriegsdienstverweigerer. Allein aufgrund meiner schriftlichen Begründung. Es war damals extrem unwahrscheinlich, dass man sich einer mündlichen Verhandlung stellen muss. Es gab ­militärisch auch gar nicht den Bedarf.

"Ey, ich bin dafür nicht gemacht!"

Und jetzt frage ich mich, was ist, wenn das komplett eskaliert? Wenn der Krieg überschwappt? Lass ich mich ausbilden, um meine Familie und mein Land zu verteidigen? Ey, ich bin dafür überhaupt nicht gemacht! Wahrscheinlich bin ich allmählich auch zu langsam. Ich glaube, es ist jetzt wirklich unsere Pflicht, uns einzusetzen für eine Friedensordnung, die Fragen von ­Energie umfasst. Ich trage gern dazu bei, dass wir energieunabhängig werden. Ich weiß, kurzfristig nützt das nichts.

Ich glaube, ich würde mich fürs Abhauen mit Familie entscheiden. Das ist doch furchtbar, dass die ukrainischen Männer an der Grenze zurückgewiesen werden! Als Mieter könnten wir schnell abhauen. Ich werf noch die Kündigung in den Briefkasten, überweise drei Mieten, und dann kucken wir mal, wie weit wir kommen. Aber wo soll man denn hin? Ich seh mich schon an der Landspitze von Portugal, und dann geht es nicht mehr weiter. Mein hauptsächliches Gefühl derzeit ist Ohnmacht.

Bis 1983 verweigerten etwa zehn Prozent eines Musterungsjahrgangs. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiedervereinigung wurden immer ­weniger Wehrdienstleistende gebraucht. So leisteten von den Männern des Jahrgangs 1983 nur noch 15 Prozent Wehrdienst und 23 Prozent Zivildienst, rund 62 Prozent dagegen leisteten gar keinen Dienst, etwa Ausgemusterte.

"Ich möchte niemanden erschießen"

Felix, 40:

Mein 40. Geburtstag war ein super Tag: der 24. Februar. Ich hatte ­Corona, der Hals war entzündet, der Geschmack weg. Ich geh in die Dusche, mach das Radio an und höre vom Kriegs­beginn. Alle schrieben mir nur: Alles Gute, sorry, dass das heute ist . . .

Mit 18 wurde ich gemustert, mit einer A2, weil meine Augen nicht so gut sind. Mir war schon seit einigen Jahren klar, dass ich verweigern werde. Dass ich keine Waffe in die Hand nehmen will. Ich will nicht in die Lage kommen, auf wen schießen zu müssen.

Von zu Hause kam das nicht. Mein Vater hat sich nach der Hauptschule zum Steuerfachgehilfen hochgearbeitet, hat "Bild"-Zeitung ge- lesen. Demos oder Friedensbewegung – das war bei uns kein Thema. Als Kind, so mit zehn, hatte ich Bundeswehrposter im Zimmer, ich fand das cool: Wir sind auch mit Holzgewehr durch den Wald gerannt, in ausgemusterten Bundeswehrpullovern, bei Räer gekauft. Ich glaub, mir ist das über Bücher klar geworden, über Klassiker wie "Im Westen nichts Neues".

Für die Verweigerung musste man was schreiben. Ich hab die Verweigerung mit dem Wert des Lebens an sich begründet. In meinem Freundeskreis wurde jeder anerkannt, der das fristgerecht eingereicht hat.

"So gut wie jeder hat eine Tötungshemmung"

Eigentlich hat so gut wie jeder Mensch ­eine Tötungshemmung, das ist der Stand der ­Wissenschaft. Man weiß, dass in Kriegen oder bei Erschießungssituationen Leute ihre Gewehre nicht abgefeuert oder bewusst danebengeschossen haben. Darum trainieren Armeen ja ihre Soldaten, weil man die Tötungshemmung ein Stück weit überwinden muss, deshalb haben die fürs Üben irgendwann Zielscheiben in Menschenform aufgebaut. Der Drill soll automatisieren, dass Soldaten schießen. Bei der Bundeswehr gibt es natürlich Einsatzregeln dazu, wann man was darf. Ich weiß so was, weil ich mich beruflich mit der Bundeswehr beschäftige, als Journalist.

Aber ob man schießt oder nicht, aus so einer Situation kommt keiner ohne Schuld raus. An diesem Problem sind deutsche Soldaten zerbrochen, etwa in den Balkankriegen. Haben sie in Notwehr geschossen, hat sie das hinterher enorm belastet. Konnten oder durften sie in einer Situation nicht zum Schutz von Zivilisten eingreifen, hat sie das ebenfalls belastet, "Moral Injury" nennt sich das. Du kommst immer mit Konflikten aus so einem Einsatz nach Hause.

"Gleichzeitig bin ich froh über die Bundeswehr"

Meine Grundeinstellung, dass ich niemanden erschießen möchte, steht nach wie vor. Gleichzeitig bin ich froh über unsere Bundeswehr. Auch das war schon immer so. Ich hab mich nie drüber lustig gemacht. Dass man leider Streitkräfte braucht, weil wir nicht Costa Rica sind oder Panama – das seh ich schon so.

Ich würde auch heute noch verweigern. Aber ich könnte mir vorstellen, im zivilen Bereich zu helfen. So wie es jetzt teilweise in der Ukraine gemacht wird: Leute, die nicht militärisch ausgebildet sind, arbeiten in Super­märkten, weil die Mitarbeiter der Supermärkte nun Soldaten sind.

Klar, ich mache es mir ein bisschen einfach, wenn ich sage, ich will keinen erschießen. Ich denke aber auch, dass das, was ich kann, im Verteidigungsfall woanders besser eingesetzt wäre als an der unmittelbaren Front. Ich könnte als Journalist Kommunikation für die Bundeswehr machen. Das fände ich denkbar, weil die Bundeswehr eine Parlamentsarmee mit klaren Regeln und Kontrollen ist.

2011 setzte die CDU-geführte Bundesregierung die Wehrpflicht aus. Vor allem, weil die Bundeswehr als Berufsarmee effizienter funktionieren würde. Eine Berufsarmee sei auch volkswirtschaftlich günstiger, als jedes Jahr Hunderttausende junge Männer von Ausbildung und Beruf abzuhalten.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das LKW aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.