Passionsspiele - Interview mit Christian Stückl
Passionsspiele - Interview mit Christian Stückl
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"Gewaltlosigkeit war schon immer naiv"
Ändert der Krieg den Blick auf Jesus? Festspielleiter Christian Stückl über Wut und warum ihm Judas gerade nähersteht.
Tim Wegner
10.05.2022

chrismon: Im Februar hat Russland die Ukraine angegriffen. Hat der Krieg die Passionsspiele verändert?

Christian Stückl: Ich habe den größten Teil des Stücks vor 2020 geschrieben. Da gab es auch schon genug Kriege, in Afghanistan, in Syrien, im Jemen. Nur bemerken wir den Krieg offenbar immer erst, wenn er in unserer Nachbarschaft stattfindet. Ich habe nicht versucht, jetzt noch die Ukraine in das Stück reinzuholen, genauso wenig, wie ich die Pandemie reingebracht habe.

Was für einen Jesus präsentieren Sie 2022?

Ich habe zwei Jesus-Darsteller, die sehr unterschiedlich sind. Der eine ist 26, der andere 42. Der Jüngere hat eine viel größere Wut, ist viel lauter. Das entspricht im Augenblick auch eher meinem Empfinden: Ich möchte in die Welt hineinschreien, weil einfach nichts besser wird. Vor zwanzig Jahren war mein Jesus ein Revoluzzer. Damals dachte ich noch, man kann die Welt verändern. Vor zehn Jahren hatte ich das Gefühl, der Jesus muss ruhig sein und konsequent. Der muss genau wissen, was er will und tut, in welcher Form er redet und in welcher Form er diskutiert. Diesmal will ich vor allem zeigen, wie stark der Jesus am Rande der Gesellschaft unterwegs war, er ist ein Freund der Zöllner und Huren, ein Freund der Flüchtlinge. Wie oft taucht in der Bibel das Wort "Armut" auf! Er klagt an: Ich bin nackt, und ihr kleidet mich nicht. Er sieht, dass die Reichen nichts tun, damit die Welt besser wird.

"Vielleicht brauchen wir die Naivität?"

Wäre Ihnen manchmal lieber, der Jesus der Bibel wäre kämpferischer gewesen?

Jesus sagt: "Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen." Wenn ich das höre, bin ich unsicher, ob und was wir in der jetzigen Situation daraus lernen können. Es hilft der Ukraine nicht, wenn wir zaudern und zögern. Aber hilft es uns, wenn wir weiter in den Krieg investieren?

Christian StücklMonika Höfler

Christian Stückl

Christian Stückl, geboren 1961, ist seit 1987 Spielleiter der Passionsspiele in Oberammergau und seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheaters. Er wuchs in Oberammergau auf, ging im Benediktinerkloster in Ettal zur Schule und baute schon 1981 eine eigenen Theatergruppe in Oberammergau auf.
Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Jesu Weg der Gewaltlosigkeit wird von vielen im Moment als naiv abgetan.

Ich habe gerade einen ganz tollen Kreis von 20-Jährigen, die die Apostel spielen. Die können gut diskutieren und wissen genau, was sie wollen. Die können mit Jesu Satz über das Schwert wenig anfangen. Der Weg der Gewaltlosigkeit war schon immer naiv. Aber vielleicht brauchen wir die Naivität? Vielleicht ist es doch das Richtige, auch die rechte Wange hinzuhalten? Ich weiß es nicht.

Judas möchte Jesus anstiften zum Kampf gegen die Römer. Können wir von Judas lernen?

Judas hat die ganz klare Hoffnung, dass der Messias kommt und das Land von den Römern befreit. Wir hoffen ja auch, dass jemand kommt, der Putin in seine Grenzen weist. Der Judas ist uns gerade viel näher.

Ist Judas ein Verräter?

Nein, und ich tue alles, damit auf der Bühne klar wird, dass Judas aus Überzeugung handelt, weil er glaubt, dass der Messias schneller kommt, wenn Jesus gedrängt wird, sich in seiner Macht zu offenbaren. Bei uns im Stück bekommt der Judas auch keine 30 Silberlinge.

Sie haben viel versucht, um den Text und die historisierenden Kostüme der Passionsspiele von antijüdischen Klischees zu befreien. Coronaleugner haben in den vergangenen zwei Jahren die übelsten antisemitischen Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt. Frustriert Sie das?

Ich bin total entsetzt und fassungslos. Wenn sich irgendjemand bei den Passionsspielen antisemitisch äußert, fliegt er oder sie sofort raus. Aber es ist so frustrierend, wenn selbst Leute, die ich kenne, die mit mir zusammenarbeiten, während der Pandemie zu mir sagen: Ich lasse mich nicht durch eine Impfung oder durch Tests zum Juden abstempeln. Da denkt man nur noch: Was ist das, das in uns immer diesen Scheißdreck hochkommen lässt?

Das Passionsgeschehen, wie es die Bibel tradiert, ist mitverantwortlich für den Antijudaismus. Können Sie den römischen Statthalter Pontius Pilatus so inszenieren, dass die Leute begreifen, dass er verantwortlich war für Jesu Tod?

Das werden wir nicht hinkriegen, auch wenn ich alles versuche. Ich habe alles getan, um klar zu machen, dass Jesus ein junger Jude war. Alle im Stück tragen Kippa. Auch der Jesus trägt Kippa. Wir versuchen, Pilatus härter zu zeichnen, als es die früheren Passionsspieltexte taten. Wir haben eine zusätzliche Szene eingebaut: Gleich zu Anfang, als Jesus nach Jerusalem kommt, tritt ihm Pilatus mit Soldaten entgegen und sagt ungerührt: Dieser Typ muss weg. Wenn Jesus fragt: Was ist Wahrheit?, schlägt ihm Pilatus ins Gesicht und sagt: Das ist Wahrheit. Aber ich habe die Befürchtung, dass die Legende, dass angeblich die Juden Jesus verraten hätten, so tief in unserer Kultur verwurzelt ist, dass du es nicht aus der Welt bringst. Vor 20 Jahren haben wir Pilatus’ Satz, "Ich wasche meine Hände in Unschuld", weggelassen. Ich habe nur die Hände waschen lassen. Danach sagten Leute zu mir, dass sie den Satz noch nie so toll gehört hätten. Diese Sätze sind so tief in uns drin, dass du sie hörst, auch wenn sie gar nicht da sind.

"Es gibt noch Karten"

Eigentlich hätten die Passionsspiele 2020 stattfinden sollen. Wegen der Pandemie mussten Sie die Aufführungen um zwei Jahre verschieben. Haben Sie in der Zeit weitergeprobt?

Nein, wir haben im Januar wieder angefangen zu proben, zuerst in kleinen Gruppen, und alle mussten sich jeden Tag testen.

In zwei Jahren kann viel im Leben passieren. Sind Schauspieler abgesprungen?

Drei Hauptdarsteller haben aufgehört. Einer wegen Krankheit, zwei Studenten haben gesagt, sie können nicht noch ein Semester freinehmen. Insgesamt sind fast 400 Mitwirkende abgesprungen. Macht aber nichts, wir haben immer noch sehr viele.

Beim letzten Mal, 2010, kam ein Viertel des Publikums aus den USA. Wie läuft diesmal der Kartenverkauf dort?

Nicht ganz so gut. Unsere Fans sind älter geworden. Viele denken auch, der Ukraine-Krieg ist nah an Oberammergau dran. Wir sind im Moment bei einer Auslastung von 75 Prozent. Das ist nicht das, was wir wollen. Die gute Nachricht: Wer kommen will, kann kommen. Es gibt noch Karten.

Am14. Mai ist Premiere. Was ist für Sie der aufregendste Moment an einem solchen Tag?

Ich hasse Premieren! Weil ich an diesem Tag loslassen muss, ich habe keinen Einfluss mehr auf die Darsteller. Manchmal fällt das sehr schwer. Ich bin froh, wenn der Premierentag vorbei ist.

"Mich nervt, wie die Kirche mit Missbrauchsfällen umgeht"

Der Premierentag beginnt mit einem ökumenischen Gottesdienst mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx und dem evangelischen bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Bei der Pressekonferenz vor einigen Tagen sagten Sie, Sie hätten mit einigen Vorkommnissen in der Kirche heftige Probleme. Welche Vorkommnisse meinen Sie?

Mich nervt und ärgert, wie die Kirche mit den Missbrauchsfällen umgeht. Das habe ich auch Kardinal Marx signalisiert. Ich kenne viele katholische Priester, die völlig in Ordnung sind. Da würde ich die Hand ins Feuer legen, dass da nichts passiert. Aber weil die Kirche die Aufarbeitung nicht vorantreibt, schadet sie ihren eigenen Priestern. Die wissen ja gar nicht mehr, wie sie auf Kinder zugehen sollen. Als Ende Januar das Missbrauchsgutachten für die Erzbistum München und Freising vorgestellt wurde, dachte ich, ja mei, da tun sie in der Kirche wieder so, als wäre das jetzt was ganz Neues. Dabei wissen Sie doch längst, was vorgefallen ist.

Hatten Sie das Gefühl, Ihre Kritik kommt bei Kardinal Marx an?

Nein. Die Kirche insgesamt bewegt sich zu wenig. Aber am meisten schaden der Kirche Menschen wie der Kölner Erzbischof Woelki. Da möchte man am liebsten austreten.

Sind Sie ausgetreten?

Nein, das wäre, als würde ich aus meiner eigenen Familie austreten. Ich kann auf Distanz gehen, und so lang ich noch Mitglied bin, kann ich noch mitdiskutieren. Aber in letzter Zeit denke ich immer mehr: Die Diskussionen bringen nichts mehr.

Infobox

Die Passionsspiele in Oberammergau

1633 schworen die Oberammergauer, alle zehn Jahre Passions­spiele aufzuführen, wenn Gott die Ausbreitung der Pest in ihrem Dorf aufhalte. Daraufhin soll sich keiner mehr mit dem Pest­virus infiziert haben. 1634 spielten die Oberammergauer zum ersten Mal das Leiden und Sterben Christi nach. Die Tradition ist nie abgerissen. Jede und jeder Erwachsene darf mitspielen, wenn sie oder er mindestens 20 Jahre in Oberammergau lebt oder dort geboren ist, für Kinder gelten andere Regeln. Alle 21 Hauptrollen sind doppelt besetzt, denn das Spiel ist sehr anstrengend und dauert fünf Stunden.

2020 sollte es wieder so weit sein. Doch dann kam die Corona-Pandemie, weswegen die Passionsspiele auf 2022 verschoben wurden. Am 14. Mai ist Premiere. Bis zum 2. Oktober werden über 2400 einheimische Laiendarsteller, Sänger und Musiker die Passion an über 100 Tagen aufführen.

Regie führt Christian Stückl, der Intendant des Münchner Volkstheaters und selbst Oberammer­gauer. Er hat auch 1990, 2000 und 2010 Regie geführt und das Stück modernisiert.

Die Karten kosten von 30 bis 180 Euro und können über die Buchungshotline +49 (0)8822 835 93 30 von Montag bis Freitag von 9 - 17 Uhr erworben werden. Oder über die Internetseite www.passionsspiele-oberammergau.de.

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Wenn Pilatus dem Jesus wegen der Frage nach Wahrheit ins Gesicht schlägt, dann bezeugt Pilatus die Gewalt, der gleichermaßen unverarbeiteten Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und "Individualbewusstsein" im Konkurrenzdenken.
Er bezeugt, dass Mensch immernoch im geistigen Stillstand seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies") dem Instinkt und nicht der Vernunftbegabung folgt.

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Die Tragik um Jesu Tod ist bekannt. Die entsetzliche Steigerung dieser Tragik liegt darin, dass die Passionsspiele nicht ausverkauft sind. Und wer ist daran schuld? Ja, wer schon? Putin! Der greift glatt die Ukraine an, wo das doch die fest eingeplanten amerikanischen Besucher verschreckt. Das gehört sich nun wirklich nicht!

Max Zirom

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Die Zahl Derjenigen, die versucht haben, die Menschen in ihrem Sinn zu verändern, ist Legion. Im Verhalten vielleicht in Nuancen, aber nicht vererbbar. Und gar noch die Welt verändern. Nur die Naivität ist grenzenlos. Alle Traumtänzer an die ungeladenen Gewehre .Nur wer ohne Gegenwehr stirbt, kann heilig werden.

Wer anderen in der Not, die man selbst nicht erleiden möchte, nicht hilft, erklärt sich selbst zum Heiligen. Ist diese "Unterwürfigkeit" auch noch christlich, wenn damit gemordet wird? Von welchen Sünden werden die Opfer denn durch ihren eigenen Tod erlöst?

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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@Ockenga

Welchen "eigenen" Tod???
Mensch hat doch noch nicht einmal das eigene Leben erlangt!!!

Bisher sind alle "revolutionären" Veränderungsversuche nur zeitgeistlicher Reformismus des imperialistisch-faschistischen Erbensystems gewesen.

Antwort auf von Horst (nicht registriert)

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Na, na Horst! Mit dieser Antwort war nicht zu rechnen, denn wer sich so gut in Glaubensfragen auskennt, sollte wissen, dass von der Kanzel gesagt wird, dass durch Jesus Tod unsere Sünden getilgt werden. Und andernfalls sollten früher die irdischen "Sünden" (Definition wahlweise) mit dem eigenen Tod bestraft werden. Der 2. Absatz entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen. Schade für die Mühe von Horst.

Wer glaubt was von der Kanzel gesagt wird ist auf dem Holzweg.

Der Tod ist die Gnade Gottes, wenn Mensch am Ende der Tage die Überwindung des Schicksals wie vorhergesehen nicht schafft - Sozusagen die Löschung der Festplatten und Arbeitsspeicher, für den Neustart des Projektes Geist - Mensch? - Seele, mit der Energie und dem Bewusstsein der "144000 auf dem Berg Zion"!?

Mensch bedeutet IMMER ALLE, seit dem ersten und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung (den die Geschichte von der "Vertreibung aus dem Paradies" umschreibt). Die Bibeltexte meinen nie einen "einzelnen" / "individualbewussten" Mensch (in diesem Zusammenhang ist Matthäus 21,18-22 besonders merk- und bedenkenswert, was Glaube und Gebet betrifft).

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