Bethel spezial - Ist der Himmel noch drin?
Bethel spezial - Ist der Himmel noch drin?
Christian Protte
Ist der Himmel noch drin?
Fast wäre Herr Steuer obdachlos ­geworden, jetzt guckt er Bundesliga am ­eigenen Fernseher und hat wieder den Überblick über seine Finanzen. Aber die Wohnung ist das ­Wichtigste! Die Mobile Mieterhilfe von Bethel sorgt dafür, dass er sie behalten kann. Eine Reportage der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, erstellt in Zusammenarbeit mit der chrismon-Redaktion.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
27.04.2022

Es gab eine Zeit, da machte Berthold Steuer einfach keinen Brief mehr auf. Könnte ja eine Rechnung drin sein. Ging nicht mehr vor die Tür. Könnten ja Probleme warten da draußen. Irgendwann kam die Kündigung der Wohnung – und die Geschichte könnte jetzt so weitergehen: Wohnung weg, Lebensmut weg. So beginnt tausendfach der Weg in die Obdachlosigkeit.

Aber Berthold Steuer hatte Glück. Sein Vermieter ist die BGW, eine große, ­überwiegend städtische Wohnungsbaugesellschaft, die mit der "Mobilen Mieterhilfe" von Bethel zusammen­arbeitet: Die schickte ihm den Sozialarbeiter Leonhard Wohlfahrt, der den ­säumigen Mieter buchstäblich vor der Obdachlosigkeit rettete.

Besuch in Bielefeld. Leonhard Wohlfahrt will sich einen der beiden Stühle nehmen, aber darauf steht ein Gerät. "Oh, der Receiver, läuft der wieder?" Fast hört man die hochgezogene Augenbraue von Leonhard Wohlfahrt: Himmel, ein Sky-Abo, muss das sein? Es muss sein, denn das war eines der ersten Ziele von Berthold Steuer – nachdem er wieder in der Lage war, in eine Zukunft mit Zielen zu ­gucken. Dabei sein, wenn Arminia Bielefeld spielt oder sein Verein, der SC Freiburg, und hinterher mit einem der wenigen Freunde, die er noch hat, am Telefon das Spiel analysieren.

"Wenn Menschen Schulden haben, schotten sie sich ab"

Jetzt sitzen sich im Wohnzimmer zwei Männer gegenüber, die recht zufrieden sind. Herr Steuer, 70 Jahre alt, chronisch krank, aber das sieht man ihm nicht gleich an, gut geschnittenes weißes Haar und eine ­moderne schwarze Brille. Auf dem Stuhl Leonhard Wohlfahrt, 28 Jahre jung, blond, selbstbewusst. Der Ältere lässt sich vom Jüngeren das Geld zuteilen, und er ist sogar froh drüber.

"Wenn Menschen Schulden haben, schotten sie sich ab", hatte Leonhard Wohlfahrt erzählt. Jedenfalls die Leute, mit denen er es zu tun bekommt. Menschen, die ihre Arbeit verloren, eine Trennung nicht verkraftet haben. Steuer war es gewohnt, mehrmals die Woche essen zu gehen, über den teuren Handy-Vertrag hat er kaum nachgedacht. "Ich wusste nicht mal, was ein Kaffee kostet!"

Ganz früher hatte er mal seinen guten Job als Schlosser in einer Maschinenfabrik gekündigt, weil ihm jemand gesagt hatte: Komm zu uns in die Versicherung, da verdienst du mehr. "Aber das erwies sich als Drückerkolonne." Das Auto wird zu teuer. Die Frau, Hauptverdienerin, verlässt ihn. Steuer erreicht das Rentenalter, will nicht wahrhaben, dass er über seine neuen Verhältnisse lebt. Es folgen Mahnungen, Pfändungen und schließlich die Kündigung der Wohnung.

Impressum:

chrismon Bethel, verantwortlich: Johann Vollmer, v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel, Bielefeld.

Erstellt in Zusammenarbeit mit der chrismon-Redaktion und Verlag.

Dass die Stiftung Bethel sich um Obdach­losigkeit kümmert, hat eine lange Tradition. Seit der westfälische Adlige Friedrich von Bodel­schwingh 1882 die erste ­"Arbeiterkolonie" in Bielefeld-Wilhelmsdorf gründete, sorgt sich Bethel als diakonische Einrichtung um Menschen in persönlichen Notlagen, um die Fortschrittsverlierer. Früher waren es die "Wander­armen", nach dem Krieg die versprengten "Nichtsesshaften" und bis heute die wachsende Zahl der Menschen auf der Straße. Und: Bethel zeigt auch, wie Prävention funktioniert. Wie Wohnungsverlust verhindert werden kann.

Diese beiden Männer kümmern sich, wenn Mieterinnen oder Mieter nicht mehr ein noch aus wissen: Muzaffer Arslan (links) und Leonhard Wohlfahrt haben rund 80 Menschen im Blick

Leonhard Wohlfahrt klingelte bei Herrn Steuer, das war vor vier Jahren. Nicht alle ­seine Klienten kooperieren von Anfang an, sagt der Sozialarbeiter, aber Steuer war damals einfach nur erleichtert. Zusammen öffneten sie die Briefe vom Gerichtsvollzieher, sortierten die Post und die Verpflichtungen. Steuer und Wohlfahrt gelang es, gemeinsam mit dem Vermieter eine passende Wohnung zu finden, die Krankenkasse bezahlt jetzt eine Haushaltshilfe. Wohlfahrt organisierte einen neuen Herd und half dem "älteren Herrn", den Blick nach vorn zu richten, nicht in die Vergangenheit.

Berthold Steuer staunt, wie der Jüngere seine Finanzen regelt. Immer schön in Absprache – auch dass Steuer sein monatliches Budget inzwischen in zwei Raten überwiesen bekommt, damit er sich auch am 31. noch eine Bratwurst am Jahnplatz kaufen kann.

Natürlich findet man auch in anderen Gemeinden Unterstützung, wenn man seine Wohnung nicht mehr bezahlen kann, vielleicht hat man eine Bewährungshelferin, vielleicht kennt man das zuständige Amt. Man muss irgendwo anrufen und einen Antrag stellen. Aber genau das ist das Problem.

"Die Anträge sind kaum zu verstehen, und woher soll man überhaupt wissen, was es alles gibt?"

In Bielefeld zum Beispiel hat die Stadt­verwaltung eine Fachstelle für Wohnungs­sicherung und Wohnungserhalt eingerichtet. Toll für Menschen, die den Weg dahin finden. "Es gibt viele Hilfestellungen für Menschen, die in Not sind", sagt Wohlfahrt. "Aber die Anträge sind kaum zu verstehen, und woher soll man überhaupt wissen, was es alles gibt? Die Leute resignieren."

Die Spezialität der ­Mobilen Mieterhilfe von Bethel ist das "konsequent Aufsuchende", wie Muzaffer Arslan erklärt, der Kollege von Leonhard Wohlfahrt. "Die tausend Menschen, denen in der Stadt Bielefeld Wohnungslosigkeit droht, das sind nicht unbedingt unsere Klienten. Unsere sind die, die sich zurückgezogen haben. Die wir auf­suchen müssen."

Da ist zum Beispiel Ute G., 45. Sie möchte sich und ihren Namen nicht in der Zeitung sehen, aber doch erzählen, wie gut alles für sie gelaufen ist. Nachdem es vorher ziemlich schlecht lief. Der Partner gestorben, Alkohol­probleme, Schulden, Wohnung weg. Keine Wohnung, und das mit halbwüchsigen Kindern! Auf die ist Ute G. jetzt sehr stolz. "Die Große ist in der Ausbildung, der 17-Jährige macht Fachabi, er ist richtig gut in der Schule." Er lebt noch bei ihr. "Der wäre weg gewesen", wenn Muzaffer Arslan und das Hilfesystem nicht eine Wohnung für sie gefunden hätten, schöner als die, aus der sie ausziehen mussten.

Berthold Steuer in seiner neue Wohnung

Die Miete fließt regelmäßig ab, vom Treuhandkonto, das Muzaffer Arslan, 40, für sie führt. Darüber ist sie so froh. Allein, das weiß sie, würde sie es nicht schaffen. Noch nicht!

So weit geht die Unterstützung bei der Stadt nicht. Die "Fachstelle" hat fünf Mitarbeiter für ihre mehr als tausend Fälle im Jahr. "Die schicken einen Brief und laden die Leute ein", erzählt Arslan, der zusammen mit Leonhard Wohlfahrt 80 bis 90 Menschen betreut. "Wir aber können hingehen und klingeln. ­Irgendwann erreichen und gewinnen wir die Menschen."

Und sein Kollege Leonhard Wohlfahrt ergänzt: "Wenn wir so einen Fall bekommen, dann sehen wir erst mal nur: Mietrückstände. Energieschulden vielleicht noch, die Spitze vom Eisberg." Nach ein paar Jahren Erfahrung wissen die Sozialarbeiter: Die volle Wahrheit offenbart sich erst allmählich. In den Kontoauszügen, den Briefen von Gläubigern, vom Gericht, in den Erzählungen. Manche haben eine Missbrauchsgeschichte, manche haben alle Kontakte in die Welt verloren, Sucht, Krankheit, Einsamkeit spielen eine Rolle. Oft sind es alleinerziehende Mütter. Oder ältere Männer, die sich aufgegeben haben. Nach dem Motto: Es interessiert ja niemanden.

Wie gut, dass es aber doch jemanden inter­essiert. Zwei Männer, die empathisch sein und zuhören wollen, die aber auch hart­näckig sind und nichts auf sich beruhen ­lassen. Die auch "auf die Ausgabenseite" gucken beim Finanzcheck. Muzaffer Arslan: "Wenn man wirklich alles aufschreibt, den Tabak, den 50-­Euro-Handyvertrag, dann sieht man schwarz auf weiß, dass das nicht klappen kann." Aber das stimmt doch gar nicht, ­hören sie dann manchmal, das war ich nicht! Da müssen wir Widerspruch einlegen und einen Anwalt einschalten! – In solchen Fällen rät Leonhard Wohlfahrt: Gehen Sie in sich. Wir können ja in zwei Tagen noch mal sprechen.

"Frauen suchen sich vielleicht einen vorübergehenden Unterschlupf. Aber man will nicht wissen, zu welchem Preis . . ."

Die beiden Männer machen für ihre Schützlinge Termine bei der Schuldnerberatung. Oder bei der Suchtberatung, bei der Ein­gliederungshilfe. Sie machen keinen Druck – aber organisieren die Rückkehr in ein ­einigermaßen geregeltes Leben.

Werden Frauen besser fertig mit dem ­Mangel – an Geld, an Möglichkeiten, oh je: an Wohnung? Sie regeln das anders, erklärt Muzaffer Arslan. "Frauen suchen sich vielleicht einen vorübergehenden Unterschlupf. Aber man will nicht wissen, zu welchem Preis . . ."

Wenn es ganz schwierig wird, können Arslan und Wohlfahrt eine befristete ambulante Betreuung anbieten, die das Sozialamt bezahlt. Und wer bezahlt den ohnehin beträchtlichen Aufwand, den Arslan und Wohlfahrt treiben? Angestellt sind sie bei Bethel, mitfinanziert wird die Mobile Mieterhilfe von den beiden gro­ßen Wohnungsanbietern in Bielefeld, BGW und Freie Scholle Bielefeld. Und von Spendern: Ein Bielefelder Bürger bezahlt praktisch zwei Stellen. Weil er die Idee so gut findet. Weil die nämlich funktioniert.

Berthold Steuer meldet sich immer noch einmal wöchentlich bei Leonhard Wohlfahrt. Aber meistens geht’s dann nicht um eine Mahnung, sondern um Wichtigeres – wie den ­drohenden Abstieg von Arminia Bielefeld oder das schönste Tor vom Wochenende.

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