Der Krieg in meiner Küche
Der Krieg in meiner Küche
Nina Kaun
Der Krieg in meiner Küche
Es ist ein großes Zimmer frei in der stillen Wohnung. Und plötzlich stehen sie vor der Tür: eine blasse junge Ukrainerin und ihre beiden Kinder.
06.04.2022

Als ich morgens im Souterrain ein kindliches Wispern hörte, erschrak ich, denn über Nacht hatte ich vergessen, dass ich am Tag zuvor drei ukrainische Flüchtlinge aufgenommen ­hatte: Kariina mit ihren Kindern Natalia und Daniil.* Nun sind sie, nachdem sie sechzehn Tage meine Gäste waren, gestern ausgezogen, und jetzt erschrecke ich aus dem ­gegenteiligen Grund: In meiner Wohnung ist es plötzlich wieder still, beinahe stiller als zuvor – als ich noch eine allein lebende Frau war, in deren Wohnung ein riesiges Souterrainzimmer leer stand.

Gabriele Bärtels

ist Autorin und Fotografin. Sie lebt und arbeitet in Berlin

Während am Berliner Hauptbahnhof die ersten Flüchtlinge aus dem Zug stiegen, postete ich auf der Nachbarschaftswebsite nebenan.de eine Spendenbitte, um diesen Raum für eine Mutter mit bis zu zwei Kindern wenigstens notdürftig einzurichten.

Wie dramatisch sich mein eher stilles, einsiedlerisches Dasein mit diesem Post verwandeln würde, sah ich nicht voraus. Binnen Minuten gingen die ersten Nachrichten ein, die ich ebenso schnell beantwortete. Binnen einer Stunde klingelten die ersten Nachbarn, sie montierten Gardinenstangen, brachten Matratzen, Stühle, Lampen, Decken, Spielzeug, Teppiche. Mit jedem hatte ich ein Gespräch über die aktuelle Lage, wir bedankten uns gegenseitig für die Hilfe, dann piepte schon wieder das Telefon.

Ein türkisches Lehrerehepaar, das fließend Ukrainisch spricht, brachte mir am nächsten Morgen eine blasse junge Frau, gehüllt in einen grauen Wintermantel, behängt mit einem Rucksack, begleitet von zwei Kindern, die ebenfalls Rucksäcke trugen. Kariinas Gesicht mit den gepflegten Augenbrauen war vom Weinen aufgequollen. Die sechsjährige Natalia und der achtjährige Daniil bestaunten mich aus dunklen, neugierigen Augen. Dass ich redete und sie mich trotzdem nicht verstanden, begriffen beide nicht.

Nichts hatte mich auf die Panik vorbereitet

Ich zeigte den dreien die Wendeltreppe ins Souterrain, das helle, geheizte Zimmer dort unten, die Stofftiere auf den bezogenen Betten, den Tulpenstrauß auf dem Tisch. Kariina ließ ihren schweren Rucksack sinken und sagte das, was sie in der kommenden Zeit hundertfach wiederholen würde: "Thank you, thank you." Sie umklammerte ihr Handy fest.

Ihre Kinder stürzten sich sofort auf das Spielzeug. Ich ließ die Familie in Ruhe und verabschiedete das Lehrer­ehepaar, das selbst zwei ukrainische Frauen aufgenommen hatte.

Anstatt abends um neun wie gewöhnlich Teppichgymnastik zu machen, rief ich den kassenärztlichen Notdienst an, denn das kleine Mädchen erbrach sich alle halbe Stunde. Die Mutter stand ängstlich neben mir und versuchte, mir begreiflich zu machen, dass sie einen Doktor nicht bezahlen konnte. Doch der freundliche Arzt wollte keine Versichertenkarte sehen und verteilte Zäpfchen. Es wurde elf, bevor in meinem Haushalt endlich Ruhe einkehrte.

Dass ich von nun an nicht mehr nackt vom Bad ins Schlafzimmer spazieren konnte, war mir klar. Aber nichts hatte mich auf die Panik vorbereitet, die über Kariina zusammenschlug, wenn sie vergeblich auf Nachrichten ihres Mannes, ihrer Schwester, ihrer Eltern wartete, die sie in Irpin bei Kiew zurückgelassen hatte. Wir standen in der Küche, als sie mir auf dem Handy das Video einer Bomben­explosion in ihrem Heimatort zeigte. Es krachte derart, dass ich zusammenzuckte.

Ich hüllte sie in eine Wolldecke

Manchmal hörte ich Kariina durch den Flur huschen und ahnte, sie war auf dem Weg nach draußen, um auf der ­Straße die Tränen zu vergießen, die sie vor ihren Kindern nicht fließen lassen wollte, denn die flehten sie an, bitte nicht mehr zu weinen. Draußen war es bitterkalt, also ­lotste ich sie in mein Wohnzimmer, hüllte sie in eine Wolldecke und versuchte zu verstehen, was sie mir in ihrem furchtbar schlechten Englisch erzählen wollte, während sie schluchzte und ihre angespannten, mageren Schultern bebten. Mein Herz wurde so schwer wie das
ihre, denn wir machten uns beide keine Illusionen.

Daneben gab es praktische Dinge zu erledigen: Dreimal stellte sich Kariina stundenlang vergeblich beim Flüchtlingsamt zur Registrierung an. Niemand konnte mir sagen, wie sie an Geld, Arbeit, Wohnung, deutsche Handy­nummer und Girokarte kommen sollte. Und ich, die sonst manchmal tagelang nur mit dem Hund sprach, forschte im Internet nach gesicherten Informationen, telefonierte mit einem Banksachbearbeiter, Telefonanbieter, Sozialberater, einer Grundschuldirektorin, Sozialamtsgruppenleiterin und dem Deutschen Roten Kreuz.

Überall eröffneten meine Fragen Neuland; zugleich hatte ich derart viel Hilfsbereitschaft, kurze Drähte, entschlossenes Umgehen von Datenschutzbestimmungen in deutschen Organisationen noch nie erlebt. Zwischendurch scannte ich Pässe ein, lehnte weitere Hilfsangebote von freundlichen Nachbarn ab, verabredete ein Ponyreiten für die Kinder, erkundigte mich im Corona-Impfzentrum nach einer Zweitimpfung für Kariina, zeigte ihr den Spielplatz und schickte sie allein einkaufen.

Kariina aß nicht und schlief nicht. "Stop saying ‚thank you‘. Eat!", befahl ich in rudimentärem Englisch. "You must be strong for your children."

Ich ­war auf allen Ebenen erschöpft

Diese Kinder hatte sie sehr gut erzogen. Ihre frischen Gesichter im Türrahmen auftauchen zu sehen, war mir jedes Mal eine Freude. Es tat mir leid, dass wir uns überhaupt nicht miteinander verständigen konnten. Daniil, der zu Hause Kampfsport und Fußball trainiert hatte, platzte vor Energie. Die Kinder brauchten dringend Strukturen. Dass ich es jemals für nötig halten würde, mit dem Vor­sitzenden eines Fußballvereins in Verbindung zu treten, war mir in sechs Jahrzehnten nicht in den Sinn gekommen.

"Der Junge spricht kein Deutsch!", wagte ich zu be­denken.

"Fußball ist eine universelle Sprache", dröhnte es aus dem Hörer. "Schicken Sie ihn ruhig zum Training."

Es ist wunderbar, überall offene Türen vorzufinden, und als Daniil vom ersten Fußballtraining heimkam, sagte er seiner Mutter zehnmal, sie solle mir danken. Ich ­postete auf nebenan.de, dass ich Fußballschuhe in ­Größe 34 brauchte und holte bei einer Nachbarin gleich eine ­komplette Ausrüstung ab.

Nach Tagen in diesem Wirbelsturm schlief ich selbst nicht mehr ein. Ich war auf allen Ebenen erschöpft: von der Konzentration, die es brauchte, um mich mit Kariina englisch oder per Übersetzungsapp zu verständigen, von der ­Organisation einer Flüchtlingsfamilie vorläufig ohne Amtshilfe, vom Geldspenden-Einsammeln bei Freunden und davon, dass die kleine Natalia ständig auf meine Klobrille pinkelte. Weil mich die große Angst umtrieb, dass Kariina aus ihrer Heimat womöglich eine Todesnachricht erreichen könnte, telefonierte ich mit einem Sozial­arbeiter, der Erfahrung in der Flüchtlingshilfe hatte.

Dazwischen normales Familienleben

"Ich habe schon jetzt jeden Abend Kopfschmerzen. Was mache ich, wenn sie mir vollständig zusammenbricht?"

Dazwischen ganz normales Familienleben. In meiner Küche roch es plötzlich nach Gebratenem und Gekochtem. Mir gefiel das nicht immer, doch wer bin ich, einer Frau gegenüber Groll aufkommen zu lassen, deren Zuhause in Schutt und Asche liegt und die sich ganz bestimmt nicht ausgesucht hat, mein Langzeitgast zu werden?

Wenn Kariina die Küche verließ, war alles aufgeräumt. Für jede Wäsche bedankte sie sich überschwänglich. Sie ging nun selbstständig einkaufen und wunderte sich darüber, dass manche Deutsche noch schlechter Englisch sprachen als sie. Als sie den Eierkarton öffnete und feststellte, dass alle Eier bunt waren und hart gekocht, lachten wir uns kaputt. Kariina erzählte mir, dass sie sich kurz vor Ausbruch des Krieges einen Kochautomaten gekauft hatte, dass ihr Mann Programmierer war und sie selbst in einer Bank gearbeitet hatte. Ihre Schwester und ihr Schwager hatten kürzlich ein Reihenhaus finanziert. Nun war es zerstört, aber der Kredit bestand weiter.

Wenn ich heimkam, schaute ich jetzt automatisch, ob die Schuhe der drei ordentlich aufgereiht neben der Tür standen. War Kariina mit den Kindern auf dem Spielplatz, dann hängte ich winzige feuchte Socken auf den Wäscheständer. Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, überraschten mich die Kinder mit bunt bemalten Karten, auf denen in allerschiefsten Buchstaben stand, dass sie mir gratulierten. Sie hatten diese für sie fremden Zeichen aus einer Übersetzungsapp abgemalt.

Zorn zündelte in mir...

Meine Spül- und meine Wasch­maschine ­liefen nun täglich. Zorn zündelte in mir, als ich feststellte, dass Kariina mit ­ihren Kindern ausgegangen war, das Fenster sperr­angelweit offen, die Heizung darunter glühte. Aber früh­morgens, wenn ich mit meinem Hund über die Felder streifte, dachte ich daran, dass ich irgendwann an diese Zeit zurückdenken und froh sein würde, nicht abseits gestanden zu haben.

Jeden Tag sah ich in den Nachrichten, wie viel mehr Ukrainer nach Berlin strömten, und bekam es mit der Angst zu tun. Zwar lief es gut zwischen meiner ukrainischen Familie und mir, doch mir fehlte meine abendliche Ruhe, und zu meiner ­eigentlichen Arbeit kam ich kaum noch. Kariina wiederum wünschte sich sehnlichst ein kleines Appartement, um mir nicht ­länger zur Last zu fallen. Ich konnte mir sehr gut ­vorstellen, wie schlimm es sich für sie anfühlen musste, ein bescheidener, dankbarer Gast zu sein, während das Leben hinter ihr in Trümmern lag.

Unvorstellbar, die junge Frau und ihre Kinder, die mir ans Herz gewachsen waren, in einer Notunterkunftshalle abzuladen, also zapfte ich wieder das Nachbarschaftsnetzwerk an, das sich in den letzten Wochen stark verdichtet hatte. So organisierte das örtliche Deutsche Rote Kreuz ­eine fast ideale Unterkunft: ein leerstehendes Haus in einem Kinderdorf mit neun Schlafzimmern, mehreren Bädern, einer großzügigen Küche und Garten, das von den Mitarbeitern binnen vierundzwanzig Stunden mit Möbeln ausgestattet wurde.

Traurig und erleichtert

Gestern ist Kariina mit ihren Kindern dort ­hingezogen, das Haus liegt gleich um die Ecke. Dort werden sie mit zehn Landsleuten sicher leben können, bis sich ­irgendetwas zum Besseren wendet. Bevor ich sie in ihrem neuen Zuhause verabschiedete, versprach ich, am nächs­ten Tag vorbeizukommen, denn es gibt immer noch viel zu regeln.

Wieder daheim, steige ich die Wendeltreppe ins Souterrain hinab. Das blanke Laminat in dem riesigen Zimmer ­spiegelt das Sonnenlicht wider, nur ein paar ­Kinderzeichnungen liegen noch auf dem Fensterbrett. Während ich den Staub­sauger hole, fühle ich mich verloren und ­traurig und erleichtert.

* Namen der Familie geändert

 

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