"Für uns zählt auch die Feindesliebe"
Grabstein eines Mennoniten auf einem alten Friedhof in Nowhorodske, Ukraine
Gleb Garanich / Reuters
"Für uns zählt auch die Feindesliebe"
Die Mennoniten sind strikte Pazifisten. Auch jetzt, angesichts von Krieg und Vertreibung in der Ukraine?
04.04.2022

Die Mennoniten sind seit fast 500 Jahren eine Friedenskirche und lehnen Gewalt ab. Ist es falsch, dass sich die Menschen in der Ukraine gegen den Angriff Russlands verteidigen?

Fernando Enns: Den verbrecherischen Angriffskrieg der russischen Regierung verurteile ich aufs Schärfste. Allerdings kenne ich keinen Militärexperten, der tatsächlich davon ausgeht, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Russland dagegen kann den Krieg gewinnen, würde aber eine Besatzung des Landes auf Dauer nicht durchhalten. In der Ukraine leben über 40 Millionen Menschen. Eine Gewaltherrschaft, die keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung hat, mag eine Zeit lang funktionieren, aber auf Dauer können Sie 40 Millionen Menschen nicht unterdrücken.

Haben Sie Kontakt zu Mennoniten in der Ukraine?

Ja, natürlich. Persönlich halte ich Kontakt zu zwei Wissenschaftlerinnen, mit denen wir in den vergangenen Jahren ein gemeinsames Projekt verwirklichen konnten. Sie sind keine Mennonitinnen, forschen aber zu der reichen Vergangenheit von Mennoniten in der Ukraine. Darüber hinaus gibt es regelmäßig Kontakte zu der jetzigen kleinen mennonitischen Gemeinschaft. Wir treffen uns regelmäßig zum gemeinsamen Online-Friedensgebet und hören, wie sie aktiv und gewaltfrei den Menschen in Not, weit über die eigene Gemeinschaft hinaus, helfen.

Fernando EnnsPrivat

Fernando Enns

Fernando Enns, Jahrgang 1964, ist Mennonit. Enns lehrt Theologie an der Uni Hamburg. Sein Großvater war als Kriegsdienstverweigerer aus dem kommu­nistischen Russland nach Südamerika geflohen. So wurde Enns in Brasilien geboren und zog als Zehnjähriger nach Deutschland. Er studierte Theologie und promovierte über Friedenskirchen – über Kirchen, die schon seit Jahrhunderten jeden Kriegdienst ablehnen.
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Daniel Friesen

Daniel Friesen, Jahrgang 1998, studiert an der Freien Universität Berlin Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Politikwissenschaft. Parallel lernt er Russisch. Vom 24. Februar bis zum 15. April 2022 hospitiert er in der chrismon-Redaktion.

Wie stehen Sie zu Waffenlieferungen an die Ukraine?

Solange die NATO ein direktes Eingreifen ausschließt, verlängern Waffenlieferungen lediglich den Krieg. Mit Schrecken beobachte ich, wie unsere politische Führung in die Logik des Kalten Krieges zurückfällt. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, das Gleichgewicht des Schreckens habe einen heißen Krieg verhindert. Die Großmächte haben ihre gigantischen Waffenarsenale für Stellvertreterkriege genutzt, in Vietnam und Korea und vielen afrikanischen Staaten. In Brasilien, wo ich geboren wurde, und anderen südamerikanischen Ländern setzten die USA aus Angst vor kommunistischen Regierungen brutale Militärregimes ein, die folterten, unterdrückten und untereinander Kriege führten. In diese Zeit dürfen wir nicht zurückfallen! Wenn ein deutscher Bundeskanzler nun Waffenlieferungen und 100 Milliarden Euro für Aufrüstung verkündet und dies breite Unterstützung findet, erschüttert mich das zutiefst.

Ohne Waffenlieferungen wäre eine diplomatische Lösung wohl noch schwieriger. Die Ukraine wäre gar nicht mehr in der Lage, mit Russland zu verhandeln.

Wenn wir Druck auf die russische Regierung ausüben und sie so zu einer Verhandlungslösung drängen wollen, sollten wir jetzt tatsächlich die Energie-Importe aus Russland einstellen, auch wenn das unsere eigene Wirtschaftsleistung beeinträchtigt. Langfristig müssen wir Sicherheit in Europa endlich mit Russland und nicht gegeneinander denken. Für uns Mennoniten ist nicht nur die Nächstenliebe wichtig, sondern auch die Feindesliebe. Politisch bedeutet das, auch die Interessen und Bedürfnisse der Gegenseite wahr- und ernst zu nehmen. Nur wenn das gelingt, sind Abrüstung und Rüstungskontrolle möglich. Zu glauben, Gorbatschow habe vor 30 Jahren wegen der militärischen Abschreckung den Abrüstungsverträgen und der Wiedervereinigung Deutschlands zugestimmt, ist naiv. Dass Präsident Bush senior die USA nach den schmerzhaften Zugeständnissen Gorbatschows als "Sieger" des Kalten Krieges bezeichnete, war schlicht dumm. Wir müssen von einer Politik der gegenseitigen Provokation und Demütigung zurück zu einer Politik der Verständigung und des Interessenausgleichs finden. Kurzfristig muss es jetzt darum gehen, den Opfern des Krieges humanitär zu helfen.

Der Großvater bewaffnete sich

Wie helfen Mennoniten den Kriegsopfern?

Das deutsche Mennonitische Hilfswerk ist in der Flüchtlingshilfe und der Lieferung von Hilfsgütern in die Ukraine tätig. Hierbei ist die Kooperation mit Partnern wie dem internationalen mennonitischen Hilfsbündnis Mennonite Central Committee, MCC, sehr wichtig. Darüber hinaus gibt es viel privat initiierte Hilfe, vor allem aus den russlanddeutschen Gemeinschaften in Deutschland. Hier bestehen reichlich verwandtschaftliche und freundschaftliche Verhältnisse. Bei einem Besuch an der von Mennoniten gegründeten LCC International University in Klaipeda, Litauen, hat mich bewegt zu sehen, wie viele Studierende aus der Ukraine, aber auch aus Russland und Belarus dort gemeinsam lernen. Diese jungen Menschen verurteilten den Krieg und sind vereint im Beten für eine gemeinsame Zukunft in Frieden, auch für ihre Familien daheim.

Auch Ihre Familie hat Krieg und Vertreibung erlebt.

Meine Großeltern und ihre ersten vier Kinder wurden in der Gegend von Saporischschja und Dnipropetrowsk geboren, also in der heutigen Ukraine. In den 1920er Jahren brachte die unbändige Gewalt des russischen Bürgerkrieges zwischen Unterstützern und Gegnern der kommunistischen Revolution das mennonitische Ethos der Gewaltlosigkeit ins Wanken. Einige Mennoniten, darunter auch mein Großvater, schlossen sich zu bewaffneten Selbstschutzeinheiten zusammen. Schon bei der ersten Auseinandersetzung wurden die ungeübten und unbeholfenen Selbstschützer seiner Einheit entwaffnet und bekamen zu hören: "Wir lassen euch laufen. Wer schnell genug läuft, entkommt unseren Kugeln. Wer nicht schnell genug läuft, wird erschossen." Offenbar war mein Großvater ein guter Läufer. Er zog daraus die Lehre, dass Waffengewalt niemals ein Problem lösen kann – und hat sein ganzes langes Leben lang nie wieder eine Waffe in die Hand genommen.

Letztlich soll der Staat mit Waffengewalt schützen

Die Mennoniten haben in ihrer Geschichte oft staatliche Verfolgung erlebt. Welches Verhältnis haben sie heute zum Staat?

Für die verfolgten Mennoniten vor fast 500 Jahren gab es einen klaren Gegensatz zwischen dem Staat und der Kirche. Der Staat setzt Ordnung mit Zwang und Gewalt durch. Die Kirche hat den Auftrag, die "Perfektion Christi" darzustellen. Hatten die Mennoniten zunächst den reformatorischen Anspruch, die Kirche zu verändern, so ging es ihnen sehr bald darum, selbst der Verfolgung durch den Staat und die Staatskirchen zu entgehen und zurückgezogen ihren Glauben zu leben. Als ihnen in Preußen die Befreiung vom Wehrdienst ermöglicht wurde, wanderten viele dorthin aus. Als in Preußen der Wehrdienst an den Landerwerb gekoppelt wurde, zog es viele weiter ins russische Kaiserreich, das ihnen Sicherheit und Glaubensfreiheit garantierte. Man kann natürlich fragen: Wie glaubwürdig ist unsere Gewaltlosigkeit, wenn wir uns darauf verlassen, dass der Staat mit Waffengewalt schützend eingreift? Gerade in der aufkommenden Sowjetunion wurde der Staat wieder zum Gegner. Stalin ließ Mennoniten aus der Schwarzmeerregion enteignen, deportieren und ermorden. In demokratischen Staaten ist es heute ein wichtiges Anliegen mennonitischer Friedenskirchen, aktiv und verantwortungsbewusst zu gewaltfreien Konfliktlösungen beizutragen.

Sie wurden nicht in der Ukraine, sondern in Brasilien geboren. Wie kam es dazu?

Mit dem Bürgerkrieg begannen im Gebiet der heutigen Ukraine massive Hungersnöte. Mennoniten in Nordamerika, von denen viele ab den 1870er Jahren bereits aus dem Russischen Reich eingewandert waren, riefen das MCC ins Leben und organisierten für ihre notleidenden Glaubensgeschwister Möglichkeiten zur Auswanderung. Da die USA und Kanada ihre Migrationsgesetze zunehmend verschärften, kauften die Mennoniten in Südamerika Land und siedelten die neuen Flüchtlinge dort an. So gelang meinen Großeltern die Flucht nach Paraguay. Später migrierte meine Familie nach Brasilien, wo ich geboren wurde. Dass in genau den Städten der Ukraine, in denen meine Vorfahren so gelitten haben, heute wieder Menschen Opfer von Krieg und Vertreibung werden, ist bestürzend. Ich frage mich: Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt?

Infobox

Die Wurzeln der Mennoniten liegen in der pluralen Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts. Ihr Ziel war es, die Vision einer gerechten Welt im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Sie wurden von Katholiken wie Lutheranern und Reformierten als Sektierer verfolgt. Der niederländische Täufer Menno Simons rückte die Bergpredigt – und damit auch die Gewaltfreiheit – ins Zentrum seiner Lehre. Um sich von anderen, teilweise gewalttätigen Strömungen der Bewegung abzugrenzen, bezeichnete sich der pazifistisch gesinnte Teil bald als "Mennoniten".

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Von Träumen wird man nicht satt. Russland hat schon ganz andere Seiten gezeigt. Jedes Jahr 4 Milionen aus Sibirien umsiedeln und 4 Mio. Ukrainer in den Osten. Nach 5 Jahren ist mit Angst der Austausch zu 50,% erfolgt. Wie in China und früher von Stalin vorgemacht. Die Einen aus der Einsamkeit in die westliche Wärme, die Anderen auf nimmer Wiederkehr ins Kontinentalklima. Das ist eine praktisierte Toleranz der Intoleranz. Wohl bekomm es Euch.

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