Flucht aus der Ukraine
Menschen, die aus dem Krieg kommen, brauchen Verlässlichkeit. Drum ist es wichtig, dass Helfende ihre Zusagen einhalten.
Carol Guzy/ZUMAPRESS.com/picture alliance
Geflüchtete Menschen
"Alle sind massivst belastet"
Was Laien für traumatisierte Geflüchtete tun können und wie sie sich dabei vor Überforderung schützen - das weiß Birgit Kracke, Ärztin für Psychiatrie/Psychotherapie.
Tim Wegner
23.03.2022
7Min

chrismon: Wenn ich mich als Laie um Geflüchtete aus Kriegsgebieten kümmere – worauf sollte ich mich gefasst machen?

Birgit Kracke: Möglicherweise ist mit extremeren Sofortreaktionen zu rechnen als damals bei den Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan. Die hatten eine lange Flucht hinter sich und kamen hier erschöpft an und eigentlich eher betäubt. Bei den Müttern war es oft eine depressive Erschöpfung, bei den Männern häufiger auch eine aggressivere Verarbeitung. Die Flüchtlinge aus der Ukraine dagegen stehen noch unter dem Schock der gerade erlebten Ereignisse.

Und dann kriegt eine gestandene ukrainische Frau in der deutschen Gastwohnung den Kühlschrank nicht auf und den Herd nicht an, obwohl man ihr alles erklärt hat, das habe ich gerade gehört.

Ja, das kann sein, dass Erwachsene auf einmal die einfachsten Sachen nicht behalten können, wenn sie schon länger bombardiert wurden, Tote mitbekommen haben oder gar Verwandte verloren haben. Durch die Stresshormone wird alles abgeschaltet im Gehirn, was man fürs Überleben jetzt nicht braucht, zum Beispiel die Gedächtnisareale im Großhirn. Dann können Sie oft erklären, wie der Herd funktioniert, und es bleibt erst einmal doch nicht im Gedächtnis hängen. Manchmal wird auch die Verbindung zum Sprachzentrum unterbrochen. Deswegen können viele traumatisierte vergewaltigte Frauen, die das Gesicht des Täters genau vor sich haben, ihn trotzdem nicht verbal beschreiben.

"Manche funktionieren wie Roboter"

Wenn Geflüchtete wie betäubt wirken, aber auch aggressiv sind oder überwachsam – das sind doch ganz unterschiedliche Dinge.

Es gibt mehrere mögliche Reaktionen des Gehirns, um das Überleben zu sichern. Zum Beispiel kann das Gehirn versuchen, alle Gefühle zu unterdrücken oder abzuspalten, die an das schreckliche Erlebnis erinnern. Man wirkt dann vielleicht stumpf und gleichgültig, funktioniert wie ein Roboter. Bei anderen Menschen ist das Gehirn lange Zeit immer noch auf akuten Überlebensmodus geschaltet, damit die Person jederzeit in der Lage ist zu fliehen oder zu kämpfen. Dann ist man möglicherweise reizbar, kann nicht schlafen, ist schreckhaft, explodiert leicht.

Privat

Birgit Kracke

Birgit Kracke ist Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie in Solingen. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Arbeit mit traumatisierten Menschen.

Sind alle Menschen, die aus einem Kriegsgebiet kommen, traumatisiert von einer überwältigend furchtbaren Erfahrung?

Ich würde sagen, alle sind massivst belastet. Und ungefähr ein Drittel der Menschen, die aus dem Krieg kommen oder eine Vergewaltigung erleben, entwickeln danach eine posttraumatische Belastungsstörung, also eine seelische Erkrankung. Während es bei Menschen mit einem Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung zehn Prozent sind. Was ein Mensch als traumatisch erlebt, ist aber auch subjektiv. Zum Beispiel kann es für ein Kind traumatisch sein, wenn es nur denkt, die Eltern seien im eingestürzten Haus ums Leben gekommen, auch wenn es die Eltern nach einigen Stunden wiedersieht.

Lesen Sie hier, was Gabriele Bärtels erlebte, als sie eine ukrainische Mutter und ihre beiden Kinder bei sich aufnahm

Wer eine posttraumatische Belastungsstörung hat, erlebt dann zum Beispiel Flashbacks?

Ja, man erlebt innerlich frühere Szenen immer wieder, als würden sie gerade jetzt geschehen. Die Leute stehen wie erstarrt, weil ein Hubschrauber übers Haus geflogen ist. Auch Brandgerüche können zu einem Flashback führen. Oder jemand springt unter den Tisch, weil er einen Flugzeugangriff vermutet – dabei ist ein Zug in der Nähe vorbeigefahren.

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Dann lass ich die Person natürlich nicht allein, spreche sie mit Namen an.

Am besten mit dem Vornamen, das erreicht jemand eher. Reden Sie kontinuierlich mit der Person. Als Verbindung ins Hier und Jetzt. Das ist manchmal wie ein seidener Faden. Immer weiterreden: "Ich weiß gerade nicht, was du hörst, aber du bist jetzt in Deutschland, in Solingen, du bist bei Juliane und Dieter und den Kindern, du bist hier in Sicherheit, guck dich mal um, es ist hell, es ist Tag, riech mal …" Es ist wichtig, dass die Leute ihre Sinne wieder anschalten, denn dann muss das Gehirn so stark arbeiten, dass die ganze Energie, die gerade in der Wiedererinnerung steckt, abgezogen wird. Enorm hilfreich ist dabei auch, sich zu bewegen, um da rauszukommen – vom Sitzen ins Stehen zu kommen oder von der Küche ins Wohnzimmer zu gehen.

Soll man nach der Flucht fragen?

Nein, nicht aktiv fragen. Man kann zur Verfügung stehen, wenn jemand sagt, er will reden. Aber wenn die Person dann ins Detail geht, muss man auf sich selbst aufpassen. Denn wenn Sie sich das dritte Mal anhören, wie beim Bombenangriff das Baby neben der Frau gestorben ist, wenn Sie das Bild dann genauso vor Augen haben und Alpträume bekommen, dann sind Sie sekundär traumatisiert. Das nützt niemandem.

Sie haben auch viele Tipps zur Selbstfürsorge auf Ihrer Webseite. Etwa den, dass man sich, wenn das Gegenüber starke Gefühle zeigt, etwas seitlich dreht, um die Emotionen an sich vorbeiziehen zu lassen.

Das ist eine Technik, die auch wir Therapeutinnen nutzen. Es ist ja genetisch verankert, dass wir mit unseren Spiegelneuronen wahrnehmen, wie unser Gegenüber drauf ist. Je intensiver ich wahrnehme, wie verängstigt mein Gegenüber ist, desto mehr habe ich das Gefühl, das alles selbst zu erleben. So kommt dann auch die sekundäre Traumatisierung zustande. Aber wenn ich mich seitlich setze und der Person nicht direkt in die Augen schaue, bekomme ich nicht die ganze Wucht der Emotion ab.

Wodurch kann ich als Laie Kriegsflüchtlinge seelisch unterstützen?

Vor allem durch Verlässlichkeit. Im Krieg ist ja nichts mehr verlässlich. Das Haus steht nicht mehr, das Land steht nicht mehr, es ist ungewiss, ob die Verwandten noch leben. Da ist es sehr, sehr wichtig, dass Helfende Termine wirklich wahrnehmen, dass sie Zusagen einhalten. Damit die Menschen merken: Da ist irgendwas in meinem Leben, auf das ich mich verlassen kann. Und den Menschen das Gefühl geben, angenommen zu sein, auch wenn sie "komische" Verhaltensweisen zeigen.

Lesen Sie die chrismon-Kolumne der ukainischen Journalistin Tamriko Sholi

Nun bin ich als Helfende ja auch nicht immer gut drauf.

Ja, wir sind auch mal genervt. Vielleicht haben Sie schon zum dritten Mal etwas erklärt. Aber Sie sollten die eigene emotionale Spitze zurücknehmen. Geflüchtete haben, laienhaft ausgedrückt, einen hohen Stresspegel im Blut. Und wenn sie merken, dass wir genervt sind – "Mensch, ich hab's dir doch erklärt, wieso hast du denn jetzt den Herd angelassen, der Topf ist angebrannt" –, dann kommt das bei denen doppelt und dreifach an, weil diese Menschen verletzlicher sind als andere. Also keine Schärfe. Sondern so gelassen wie möglich bleiben.

Auch schwierig: Ich weiß, wie das hier in Deutschland alles läuft. Womöglich sage ich dann zu Geflüchteten: Mach dies, mach das …

Geben Sie den Menschen das Gefühl von Kontrolle und Wahlmöglichkeit. Lassen Sie sie möglichst viel mitentscheiden. Was ein Erlebnis zum Trauma macht, ist die Ohnmacht und Hilflosigkeit. Wenn ich eine Situation ein bisschen beeinflussen kann, ist das gesünder.

"Auf Mitgefühlerschöpfung achten"

Auf welche Warnzeichen sollten Helfende achten, damit sie sich nicht überfordern?

Man muss auf Anzeichen von Mitgefühlerschöpfung achten. Dann lassen uns Schilderungen von schlimmen Erlebnissen zunehmend kalt, langweilen uns, wir reagieren zynisch.

Viele Menschen, die sich 2015 und danach für Geflüchtete engagiert haben, haben mittlerweile wieder aufgehört.

Das ist eine Frage, die mich gerade umtreibt: Wer macht wieder mit und wer macht nicht mit, und warum nicht? Ich vermute, dass viele nicht den Marathon im Blick hatten, der auf sie zukam, sondern dass sie gleich auf den ersten 50 Metern mit voller Power eingestiegen sind und sich verausgabt haben. Aber man muss gucken, dass man nur das tut, was man auf lange Zeit oder sogar dauerhaft durchhalten kann. In der Arbeit mit Flüchtlingen braucht man einen langen Atem. Es ist also besser, nur eine Aktivität regelmäßig durchzuführen, damit man diese dann aber auch langfristig durchhalten kann.

Viele sind auch ausgestiegen, weil sie sich alleingelassen fühlten oder zu wenig Erfolge ihres Engagements sahen …

Supervision wäre prima!

Also dass man unter fachlicher Anleitung bespricht, was man da tut und erlebt?

Ja. Das wird fast nie angeboten von den großen Organisationen, die mit Ehrenamtlichen arbeiten. Ich hatte hier in meiner Praxis auch viele Helfende sitzen, denen ihre eigenen Traumata um die Ohren geflogen sind, von denen sie dachten, sie hätten sie gut weggepackt – etwa erlebte Gewalt in der Kindheit. Man sollte den Helfenden von vornherein eine gute Begleitung anbieten. Das Geld wäre gut investiert, wenn die Leute dann dabeibleiben.

Wie kann ich als Ehrenamtliche noch für mich selbst sorgen?

Halten Sie Kontakt zu Ihren Freunden und Freundinnen. Entlasten Sie sich nach Ihrer Arbeit bei anderen, erzählen Sie dabei aber nicht die schlimmen Details. Machen Sie schöne Dinge, haben Sie Spaß!

Zum Weiterschauen: Birgit Kracke und Christine Holch im chrismon-Webinar über das Helfen

Angenommen, ich hab mich überfordert – ich hab Geflüchtete zu Hause und merke: Es geht nicht länger. Wie kann ich die wieder "ausladen", ohne dass ich sie ein zweites Mal traumatisiere?

Das geht nicht wirklich. Das kränkt. Wenn ich das trotzdem beenden will, sollte ich mit den Leuten, die für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig sind, eine Alternative suchen. Und erst danach mit der Person sprechen und offen sagen: "Ich kann nicht mehr, aber das liegt nicht an dir, sondern das liegt an mir, es ist mein Problem." Eben um so etwas zu vermeiden, sollte man im Voraus genau gucken, was man wirklich leisten kann. Und dann sagen: Ich kann dir das für drei Wochen garantieren. Oder für ein halbes Jahr. Wie ein befristeter Mietvertrag.

Infobox

Weil es nicht genug Praxen für Traumatherapie gibt, hat Birgit Kracke Tipps zur Selbsthilfe für Betroffene wie auch für Ehrenamtliche auf einer Webseite zusammengestellt. Nun möchte sie die Webseite ins Russische und Ukrainische übersetzen, was mit Online-Programmen auch geht, aber überprüft werden muss – dafür sucht sie dringend Freiwillige. Bei Interesse bitte direkt an Birgit Kracke mailen.

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