16.04.2021, Halle, Delitzscher Strasse, Sachsen Anhalt, In der Delitzer Strasse von Halle wurde ein Graffiti von Haendel gesprueht.
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Spiel mit den Geschlechtern
Ja, das gibt’s: Julius Caesar singt Sopran. Seit 100 Jahren sind Händels Opern bei den Festspielen in Halle wieder zu hören. Ein Gespräch mit Intendant Clemens Birnbaum
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
11.03.2022

Für alle, die mit dem Namen ­Georg Friedrich Händel ­wenig anfangen können: Welche ­seiner Werke hat jede und jeder schon mal gehört?

Clemens Birnbaum: Na ja, die­ ­"Wassermusik" und zum Jahresende die "Feuerwerks­musik" – auch wenn sie oft ver­wechselt werden. Fußballfans kennen die Champions-­League-Hymne. Die stammt aus "Zadok the Priest", Händels Krönungsmusik für König ­Georg II. Mit ihr wurden seither alle Könige und Königinnen Englands gekrönt. Und das berühmte Largo aus der Oper "Serse": ­"Ombra mai fu", eine einprägsame Melodie. Das "Halleluja" aus dem "­Messiah" kennt wirklich jeder, auch den Satz von "Tochter ­Zion". Und die Arie "Lascia ch’io pianga" aus dem "­Rinaldo" würden die meisten wieder­erkennen.

Clemens Birnbaum

Clemens ­Birnbaum, 58, ist seit 2009 Direktor der Stiftung Händel-Haus und Intendant der Händel-Festspiele in Halle (Saale).
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Was macht Händels Musik so ­populär und unverwechselbar?

Schwer zu sagen. Händel führt sehr verschiedene Musikstile ­zusammen: italienische Oper, französische Ouver­türe, lutherisch festliche ­Musik mit großen Chören und Orchester­besetzungen, wie er sie in seiner Jugend in ­Halle kennengelernt hat. Händel war ja Lutheraner. Den ansteigenden Klang im "Halleluja" hat er vom römisch-katholischen Kompositionsstil. Und die Anthems, die geistlichen Chorsätze in seinen Oratorien, kommen aus der englischen Tradition. Sängerinnen und Sänger lieben es, Händel mit seinen musikalischen Bögen zu singen. Das ölt die Stimme.

Gehört das Heroische zu Händel? Ihre Festspiele hatten drei Mal "Helden" zum Thema.

2010 fingen wir gleich mit dem Thema "Ritter und andere Helden" an. 2019 war das Thema "Empfindsam, heroisch, erhaben". Da ging es mehr um Heldinnen. Händel gab Frauen sehr dominante Rollen. Das beste Beispiel ist seine Oper "Giulio Cesare in Egitto". Da steht zwar Julius Caesar im Titel, aber ­eigentlich ist er ein relativ einförmiger Held. Nein, es ist Kleo­patra, die sich musikalisch ­ent­wickelt. ­Eigentlich müsste die Oper "Kleo­patra" ­heißen. – Auch die Zauberin Alcina, die Menschen in Tiere verwandelt, dominiert eine ganze Oper, auch wenn sie am Ende alles verliert. 2021 hatten wir das Thema "Helden und Er­löser". Zum Thema "Erlöser", also zu Jesus Christus, ist bei Händel nicht allzu viel zu holen: der "­Mes­siah", die "Brockes-Passion" und "La Resurrezione", ein Oratorium über die Auferstehung. Also haben wir die Helden aus den Opern hinzugenommen. Denn nach barockem Verständnis ist Christus nicht nur der Erlöser, sondern auch der Held über den Tod.

Innerer Sturm der Seele

Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel sind aus einem Geburtsjahrgang. Was unterscheidet sie?

Bach hat viele Orgelwerke, Kantaten und Passionen für den protestantischen Gottesdienst geschrieben. Händel hat hingegen nur wenig gottesdienstliche Musik hinterlassen: die im pro- testantischen Geist fußende "Brockes-Passion", wenngleich sie keine liturgische Funktion hat, ein paar katholische Kantaten in Rom und ein paar Anthems für die anglikanische Kirche. Seine großen Oratorien wurden in Italien in Kardinalspaläs­ten aufgeführt und in London in Theatern. Bach war bei Fürsten oder als Kantor in einer Stadt angestellt, Händel kann man dagegen als interkonfessionellen Komponisten betrachten. Er war zudem freier Unternehmer mit finanziellem Risiko. In England waren Opernhäuser Aktienunternehmen.

Warum war Händel lange nur für Oratorien wie den "Messiah" bekannt, nicht für Opern?

Die Oratorien wurden auch nach Händels Tod immer weiter aufgeführt – anders als bei Bach, dessen große Werke zeitweilig in Vergessenheit gerieten. Händels Opern hat man nicht weiter gespielt, weil sich der Theater­geschmack bereits kurz nach Händels Tod änderte. Ab dem späten 18. Jahrhundert wollte das Publikum dramatische Opern mit einem Fortschritt in der Handlung erleben. Die Barockopern wie die Opera seria ­mussten dabei auf Unverständnis stoßen, denn deren ­Arien sind in der Regel in einer Da-capo-Form angelegt und bringen die Handlung nicht ­voran. Die Arien in den Barockopern ­beschreiben in Metaphern bestimmte Gefühlszustände. So wird beispielsweise der Meeressturm in fast jeder Barockoper in ­einer Arie thematisiert. Diese erzählt aber nicht über den Sturm von außen, sondern über den inneren Sturm der Seele. Ende des 18. Jahrhunderts galten Barockopern – und so auch Händels Bühnenwerke – nicht aufgrund ihrer Musik, sondern aufgrund ihrer Struktur als nicht mehr bühnentauglich.

Countertenöre - wie Star-Kastraten von einst

Und warum hat man 1922, nach dem Ersten Weltkrieg, die Opern wiederentdeckt?

Unter anderem, weil die jüngere Generation alles hinterfragte, was die Vätergeneration gemacht hatte. Nach dem Weltkrieg wollte man mit Wagner, Nietzsche, Hegel und dem ganzen deutschen Idealismus Schluss machen und man schaute: Was war denn davor? So kam man erst auf Mozart, dann auf Händel.

Erst wurden Händel-Opern nur auf Festivals gespielt. Normale Opernhäuser nahmen sie bis in die 1980er Jahre nicht ins Programm.

Händel hat in seinen Opern Kastraten ­singen lassen, die gab es dann nicht mehr. Man ließ auf den Festivals stattdessen Frauen in Hosen­rollen spielen, aber damit waren die Regisseure oft unzufrieden. Oder man hat die Stimmen in die Baritonlage transponiert, was die Werkstruktur aber komplett zerstört hat. Ab den 1960er Jahren kamen die ersten Countertenöre. Die sangen in Altlage, höchstens schafften sie einen Mezzosopran. Männliche Sopranisten gibt es erst seit jüngster Zeit. Die Gesangstechniken heute sind unglaublich. Man kann mittlerweile eine komplette Oper nur mit Countertenören besetzen, jeder mit eigener Klangfarbe. Viele Star-Kastraten aus Händels Zeit kann man mit den Countertenören vergleichen, die heute umworben werden.

Händel hat auch starke Frauenrollen geschrieben. Warum müssen Männer die ­hohen Partien singen?

Der Reiz ist nicht die Stimme selber, sondern das ungewisse Gender. Wenn in einer Opern­arie eine tolle Altistin auf einmal tiefer singt als der männliche Held, dann ist das ein Spiel der Geschlechter. Dies hat man in der Barockzeit geliebt. Heute gibt es diese Faszination offen- bar immer noch. Wer zum ersten Mal einen Countertenor hört, der höher singt als eine Frau, ist erst einmal verwundert. Und die Virtuosität dieser Stimmen fasziniert einfach nur. Auch in der Popkultur schminken sich ­Männer, geben sich feminin. Das Spiel, zwischen Maskulinem und Femininem hin- und herzuwechseln, wird immer mehr eingefordert.

Klangwelt von vor 100 Jahren

Wann hat Halle Händel entdeckt, seinen größten Sohn?

Sehr früh. Der Erste, der seine Größe er­kannte, war der hallische Ratsmeister Friedrich ­August Reichhelm. Er wollte 1780 das Haus, in dem Händel aufwuchs, in einen Gedächtnis­ort umwandeln. Aber Reichhelm starb früh, damit war das Projekt am Ende. Später hat die Familie Händel das Haus aufgeben müssen. Die Stadt Halle hat es in den 1930ern zurück­erworben. Seit den 1950er ­Jahren ist es ein Museum.

Und in den 150 Jahren dazwischen?

. . . hat die Stadt ihrem größten Sohn ein Denkmal errichtet und 1859 auf dem Marktplatz eingeweiht. Die Bürger der Stadt haben das Geld dafür gesammelt. Es gab an drei Tagen Aufführungen – womöglich das erste ­Händel-Fest hier in der Stadt.

Dieses Jahr feiern Sie 100 Jahre Händel-Festspiele.

Ja, wir lassen das Festprogramm von 1922 wieder aufleben mit der gleichen Auswahl an Oratorien, der Oper und auch denselben Konzertprogrammen von vor 100 Jahren. Von der Eröffnungsaufführung von 1922, ­Händels "Semele", sind sogar die Strich­fassung und die genaue Besetzung erhalten. Wir ­werden das englische Oratorium wie damals in deutscher Sprache aufführen, mit großem Symphonieorches­ter und Chor – wie man es heute eigentlich nicht mehr macht. Wir versuchen, dieser Klangwelt von vor 100 Jahren nahezukommen, ein ganz ­eigenes Klang­erlebnis. Ich freue mich schon, auch wenn vielleicht manche Barockfans, die den historischen Klang mit den alten Instrumenten und den kleinen Besetzungen wie im 18. Jahrhundert lieben, die Nase rümpfen. Außerdem laden wir die Händel-Preisträgerinnen und -Preisträger ein, die wir im Laufe der Jahre prämiert haben. Der französische Star-­Countertenor Philippe Jaroussky wird beispielsweise wieder in Halle sein.

Welcher Konzertort ist für Sie der schönste?

Bad Lauchstädt mit dem historischen ­Goethe-Theater, das ist was Besonderes. Für viele Leute sind es auch die historischen Orte. Wir haben zum Beispiel den Dom, wo Händel als Organist engagiert war, während er noch studierte. Händels Taufkirche, die Markt­kirche, steht dieses Jahr wegen Baumaßnahmen leider nicht zur Verfügung. Dort den "Messiah" aufzuführen, ist immer etwas Besonderes.

Die Händel-Festspiele finden statt, da bin ich mir sicher

Was ist Ihnen bei den Händel-Festspielen bisher besonders in Erinnerung geblieben?

Wie unser Publikum 2013 reagierte, als wir wegen der Saaleflut absagen mussten. Es hat nicht nur der Landesregierung, sondern auch uns gezeigt, wie wichtig ihm die Festspiele sind. Eine ältere Dame aus München ­spendete uns 1000 Euro, indem sie auf die Rückerstattung ihrer zahlreichen Tickets verzichtete. Ähnlich eine Apothekerin aus Halle-Neustadt, wo der Deich gerade so standgehalten hatte, sonst wäre dieser Stadtteil komplett untergegangen. Bei der Apothekerin war Grund­wasser in die Apotheke eingedrungen. Sie hätte mit Fug und Recht alle Karten zurückerstattet bekommen können, aber es war ihr so wichtig, dass sie etwas den Händel-Festspielen spendet. Unser Ministerpräsident hat gestaunt. Ähnliches ist jetzt auch während der Pandemie passiert. Da konnten wir aber immerhin Onlineveranstaltungen anbieten.

Was ist Plan B, falls Corona wieder da­zwischenkommt?

Wir sind auf vieles vorbereitet und können dennoch nicht verlässlich planen. Corona ist unberechenbar. Für die Festspiele 2021 ­starteten wir mit dem Kartenvorverkauf sechs Monate vor den Festspielen, orientierten uns also an den Regeln im Herbst 2020. Zu ­diesem Zeitpunkt waren Open-Air-Veranstaltungen auf 1000 Personen begrenzt, im März 2021 war nur noch eine Maximalzahl von 500 erlaubt. Wir hatten aber schon 700 Karten verkauft, also mussten wir das Konzert abwickeln. Im Herbst hatten wir verstärkt auf mögliche Einreisebeschränkungen gesetzt, die es im März dann nicht mehr in der Form gab. – Wir ­müssen kurzfristig agieren. Die Händel-Festspiele finden statt, da bin ich mir sicher. Ich kann nur nicht sagen wie.

Woran hängen Sie am meisten?

Dass wir die Aufführungen von 1922 in ähnlicher Weise auferstehen lassen, das ist schon was Besonderes.

Infobox

Halle ist Georg Friedrich Händels Geburtsstadt. Der Komponist des Barock ist im gleichen Jahr wie ­Johann Sebastian Bach geboren, 1685. In Halle erlernte er das ­Handwerk als Musiker. Später, als berühmter Opern- und Oratorienkomponist, kam er nur noch besuchs­weise in seine Heimatstadt zurück. Mit 18 zog Händel weiter, erst nach Hamburg, dann durch ­Italien, schließlich nach Hannover und London, wo er ab 1712 dauerhaft lebte. 1759 starb Händel als englischer Staatsbürger. Lange über Händels Tod hinaus ­wurde sein ­Oratorium "Messiah" jährlich in der Westminster Abbey aufgeführt. Sein Krönungsoratorium für Georg II., "Zadok the Priest", ­erklingt bei jeder britischen Krönungs­zeremonie. ­Händels Opern gerieten nach 1740 in Vergessenheit. Seit 1922 erinnert die Stadt Halle ­jedes Frühjahr mit einem Festival an ihren berühmtesten ­Bürger, in ­diesem Jahr zum 100. Mal: vom 27. Mai bis 12. Juni.
 www.haendelhaus.de

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