Schluss mit der Heiligkeit
Das neue Gutachten über den Umgang mit Missbrauch im Erzbistum München zeigt, dass die verantwortlichen Bischöfe bis heute vor allem sich selbst schützen wollen.
Tim Wegner
26.01.2022

In den 1970er Jahren arbeitete ein Priester und Religionslehrer im Erzbistum München, der in seiner Freizeit über Land fuhr und Kindern sein Geschlechtsteil zeigte. Zweimal wurde er vom Landgericht verurteilt: wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, versuchten sexuellen Missbrauchs und Erregung öffentlichen Ärgernisses – beim zweiten Mal zu einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe. Statt ihm auch innerkirchlich den Prozess zu machen und ihn aus der Seelsorge zu entfernen, beließ man ihn auf seinem Posten. Weil die öffentlichen Schulen ihn als Religionslehrer nicht mehr haben wollten, unterrichtete er eben in einer Privatschule.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Dieser Fall ist einer von vielen, den die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl untersucht hat, um zu begutachten, wie die Bischöfe und Generalvikare im Erzbistum München und Freising von 1945 bis 2019 mit Klerikern und anderen Mitarbeitenden umgegangen sind, die Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Geschädigten aus und 235 Tätern, darunter 173 katholische Priester. Meistens traf es Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren.

Als der exhibitionistische Priester sein Unwesen trieb, war Joseph Ratzinger Erzbischof von München. Er will zwar davon gewusst haben, dass der Priester verurteilt wurde, aber warum, das wusste er angeblich nicht. Dem Gutachten ist eine lange Stellungnahme des emeritierten Papstes beigefügt. Darin rechtfertigt er sein Verhalten in allen vier Fällen, die ihm zur Last gelegt werden. Er habe zu wenig gewusst, sei nicht informiert worden. Und wenn ihm Dokumente vorgelegt worden seien, heiße das ja nicht, dass er sie auch gelesen habe.

Schlimm ist vor allem, dass die Opfer ignoriert wurden

Was den Exhibitionisten angeht, schreibt Ratzinger: Selbst wenn er von den Hintergründen für die Verurteilungen gewusst hätte, "sei zu berücksichtigen, dass der Priester als Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei". Er habe die Opfer ja nicht berührt. Außerdem, so Ratzinger weiter, habe der Priester als "anonymer Privatmann gehandelt und sei nicht als Priester erkennbar gewesen". Offenbar war der Mann auf seinen exhibitionistischen Streifzügen in Zivil unterwegs. Noch etwas fügt der emeritierte Papst zu seiner Entlastung an: Erst seit 2020 sei geklärt, "dass auch exhibitionistische Handlungen unter den Begriff der Sünde fallen können". "Mitarbeiter der Wahrheit" lautet Joseph Ratzingers Bischofsmotto.

Reue? Buße? Umkehr? Die Gutachter bescheinigen den Verantwortlichen durchgängig "mangelndes Problembewusstsein" und ein "geradezu paranoides Verhalten", um die Institution Kirche zu schützen. Ähnliches hatte auch das Gutachten 2021 für das Kölner Erzbistum ergeben. Das Münchner Gutachten zeigt nun, dass diese Paranoia bis an die Spitze der Kirche reicht.

Schlimm ist vor allem, dass die Opfer komplett ignoriert wurden. Die Münchner Anwältin Marion Westpfahl nannte es ein "vollständiges Nichtwahrnehmen der Opfer". Natürlich sei auch in den 1980er und 1990er Jahren sexueller Missbrauch von Kindern strafbar und moralisch inakzeptabel gewesen, sagte der ehemalige Münchner Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter am Dienstag. "Ehrlicherweise muss ich allerdings sagen, dass ich vor 2010 nicht genügend Wissen hatte und mein Problembewusstsein nicht genügend ausgebildet war."

Aber auch unter dem amtierenden Kardinal Reinhard Marx "fand keine Zuwendung zu den Geschädigten und ihren Nöten und Belangen statt", heißt es im Gutachten. Marx delegierte die Thematik weitgehend und verließ sich darauf, dass der Generalvikar und die Personalverantwortlichen angemessen handeln werden. Er sei "erschüttert und beschämt", sagte Marx vergangenen Donnerstag, als das Gutachten vorgestellt wurde. "Meine ersten Gedanken gelten den Betroffenen." Auch die anderen katholischen Bischöfe sind "tief erschüttert" von den neuen Erkenntnissen.

Eine Woche später gestand Kardinal Marx ein, dass es "kein Interesse am Schicksal der Betroffenen" gegeben habe. Das sei die "größte Schuld", die die Kirche  auf sich geladen habe. Das sei unverzeihlich. "Dafür trage ich als Erzbischof moralische Verantwortung." Das ist ehrlich. Aber wie glaubwürdig ist es, wenn Marx beteuert, nun alles dafür tun zu wollen, dass die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt rückt? Schließlich ist er "Teil des Systems", wie er selbst sagt.

Die Krise trifft auch die evangelische Kirche

Unzählige Male haben Bischöfe seit 2010 von Erschütterung, Schuld und Scham gesprochen und beteuert, dass sie dazu gelernt hätten - und doch änderte sich wenig. Die Rücktrittsgesuche der Kardinäle Marx und Woelki hat Papst Franziskus abgelehnt, auch der Hamburger Erzbischof Heße ist weiter im Amt.  Auf viele Katholiken und Katholikinnen wirken die ritualisierten Schuld- und Schambekenntnisse phrasenhaft und hohl, sie treten in Scharen aus. Die Krise trifft auch die evangelische Kirche, denn viele Menschen unterscheiden nicht mehr zwischen evangelisch und katholisch. Und auch die evangelischen Bischöfe und Bischöfinnen ringen ja nach wie vor um einen angemessenen Umgang mit dem Thema.

Gerade indem die katholischen Geistlichen vertuschten und wegsahen, um die Institution Kirche zu schützen, haben sie der Kirche größten Schaden zugefügt. Wann wenn nicht jetzt ist die Zeit zur Umkehr? Die Institution ist so angegriffen wie nie. Vielleicht werden ja jetzt endlich die Betroffenen und ihre Bedürfnisse wahrgenommen.

Wie andere Gutachter zuvor auch, empfehlen die Münchner Kollegen der Kirche, auf das Leid und die Wünsche der Betroffenen einzugehen, mit ihnen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Gerade auch die Leitungsverantwortlichen sollten direkt mit den Menschen sprechen, soweit dies von deren Seite gewünscht wird. Den betroffenen Männern und Frauen, die so furchtbar verletzt wurden, zuzuhören und mit aller Kraft zu versuchen, ihre Nöte zu lindern, ist eine seelsorgerliche und zutiefst geistliche Aufgabe. Wenn diese Aufgabe zur Chefsache wird, kann eine Erneuerung der Kirche beginnen. 

Dieser Kommentar wurde am 27. Januar aktualisiert.

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Aha ! " Die Krise trifft auch die evangelische Kirche, denn viele Menschen unterscheiden nicht mehr zwischen evangelisch und katholisch. Und auch die evangelischen Bischöfe und Bischöfinnen ringen ja nach wie vor um einen angemessenen Umgang mit dem Thema."
Nur weil die meisten Menschen Protestanten und Katholiken in einen Topf werfen, ist der Mißbrauch von Kindern ein Problem für die evangelische Kirche ? Gibt es keine weiteren Gründe ?
Und was soll das für ein "angemessener Umgang" sein, der bei dem "Ringen" der evangelischen Bischöfe herauskommen soll ? Seit Ahrensburg hat die evangelische Kirchenführung genug Zeit gehabt, um durch interne Normsetzung derartige Fälle zu verhindern. Und was ist seither geschehen ???
Erinnern wir uns : In Ahrensburg haben jahrzehntelang zwei Pastoren, ein überwiegend ephebophiler und ein rein korephiler, junge Seelen und Leiber ungehindert schänden dürfen. Die Untaten dieser Seelenhirten könnten entweder den "Contes drôlatiques" (Nächtlicher Sturz aus dem Fenster des Mädchenschlafsaals) oder gar den "Cent-vingt jours de Sodom" (Mißbrauch der eigenen Stiefsöhne ) entnommen sein.
Der Unterschied zur katholischen Kirche besteht darin, daß hier nicht die oberste Personalführung versagt hat, sondern daß die Verfehlungen der Pastore jahrzehntelang nicht über die Ebene der Gemeinderäte hinausgekommen sind. Dort waren sie allerdings bekannt, sie wurden jedoch kleingeredet und vertuscht.Man kann sich darüber streiten, welches Versagen als schlimmer zu bewerten ist. Dort die "déformation professionelle" der höchsten Kirchenhierarchie und hier das miefige, zeitgeistselige und bigott-selbstgerechte protestantische Muckertum auf der untersten Verantwortungsebene.
Seien wir ehrlich, mancher Protestant, der sich in seiner Gemeinde auskennt,wird bestätigen können, daß es dort nicht viel anders ist. Über den kinderfreundlichen Kantor, den engagierten ehrenamtlichen Jugendleiter und über den familienfreundlichen Diakon gibt es dann zwar Gerüchte, aber denen geht man besser nicht nach. Und so bleiben die zahlreichen Skandale unter der Decke. Wie lange noch ?
Fazit, Frau Keller : Ein jeder kehr vor seiner Tür, er findet reichlich Kot dafür.
(Und dazu braucht man nicht jahrelang zu ringen; es ist genug davon da. Außerdem geht die "Erneuerung" der katholischen Kirche ein evangelisches Medienelaborat schlicht ebendenselbigen an.)

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...wie lange zum Abschluss dann immer noch zwangsweise für "Die heilige römische Kirche und unseren Bischof" gebetet wird.

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