Sexualisierte Gewalt - "Nur eine darf mitkommen"
"Er hat mich nicht gebrochen", sagt Barbara
Malwine Stauss
Sexuelle Gewalt
"Nur eine darf mitkommen"
Ein Serientäter vergewaltigt eine junge Frau. Ihre beste Freundin fühlt sich schuldig. Wie haben sie das ausgehalten?
21.01.2022
16Min

"Glücklich ist, wer vergisst." Ich kaufe Barbara* die Postkarte mit diesem Satz, weil manchmal, da machen wir Witze darüber, dass sie so viel vergisst. Und ich mich an nutzlose Kleinigkeiten erinnere, wie ob die Sonne schien an diesem oder jenem Tag.

Eigentlich suchen wir in der Papeterie zusammen nach einem Geburtstagsgeschenk.
"Du nimmst mich wieder hoch", sagt Barbara.
"Nein. Ich glaube, vergessen macht glücklicher", sage ich.
"Ich versuche, im Moment zu leben."
"Eben."
"Denkst du immer noch so oft daran?"
"Ja. Und du?"
"Eigentlich nie. Ich fühle mich nicht als Opfer", sagt Barbara, das Opfer.

Heute stehen wir mitten im Leben, sie hat geheiratet, wir ziehen Kinder groß, lieben unsere Jobs. Damals als Teenager lernten wir uns in einem Schweizer Gymnasium zwischen Automatenkaffee und der schrillen Pausenglocke kennen. Ich versteckte, so gut es ging, meine Zahnspange, nahm meinen Mut zusammen und sprach sie an. Schon seit ­einigen Wochen beobachtete ich sie, die wilde Locken trug und die richtigen Sneakers, die ihre Zigaretten selbst drehte und sich auf dem Schulhof über den Klassenkampf ausließ.

Liebes Tagebuch, ich möchte unbedingt ihre Freundin werden, schrieb ich. Ich spürte: Mit dieser Frau könnte ich die Welt erobern, ohne dass mir je was zustoßen würde. Das Tagebuch habe ich noch; es liegt in einer Kiste im Keller, quillt über von eingeklebten Fotos.

"Du hast eine coole Lederjacke."
"Und du schöne Haare."
"Trinken wir was zusammen?"

Eine Freundschaft fürs Leben beginnt. Wir lernen bis heute immer wieder von- und aneinander. Ich spreche ­Dinge aus, wenn sie mich beschäftigen, ich hole Hilfe, weine ohne Scham und platze, wenn es in mir brodelt. Ich grabe gern tief und mag Geheimnisse vor allem dann, wenn man sie aufdeckt. Barbara hingegen trägt einen Panzer. Einer, der in all den Jahren zwar Risse zeigte, der sie aber zuverlässig schützt; so wie früher, als sich ihre Eltern jahrelang in Beziehungskämpfen mit Worten zerfleischten. "Allein überleben können" wurde im Kindesalter zu ihrem Glaubenssatz.

Wir verbringen viel Zeit miteinander, lernen zu­sammen, schmuggeln uns als Minderjährige in Technoclubs, philosophieren bis zum Sonnenaufgang, reisen per Autostopp durch die Schweiz. Jeder Tag explodiert wie ein Feuerwerk, wie es Teenager halt so empfinden. Bis zu ­jenem Sommerabend.

Sogar Barbara, die lieber im Jetzt lebt als in der Vergangenheit, weiß bis heute, dass es ein Freitag war.

"Ich wasche ihre Kleider am nächsten Tag. Sie kann den Stoff nicht mehr riechen"

Liebes Tagebuch, ich hoffe, der Tag morgen bringt das, was er verspricht. Der letzte Tag vor den Sommerferien, das Wetter wie ein Vorbote des Unheils: kühl, wechselhaft mit Niederschlag und Gewitter. Wir wollen in ein paar Tagen mit dem Zug ans Meer reisen – ohne Eltern. Ich bin siebzehn, sie ist achtzehn. Ein endloser Sommer soll es werden; wir treffen uns in Hochstimmung im Park und stoßen auf unsere Pläne an.

"Sehen wir uns morgen?", frage ich.
"Klar. Ich muss arbeiten. Danach gern", sagt sie.
"Sorry, habt ihr kurz Zeit?", fragt ein Mann. "Ich habe ein Problem, und ihr könnt mir helfen."

Barbara trägt ein grün-rot-gelb gestreiftes T-Shirt und einen grauen Rock. Ich weiß es bis heute, weil ich die Kleider meiner Freundin am nächsten Tag wasche. Sie kann den Stoff nicht mehr sehen – und vor allem nicht mehr riechen.

Lesen Sie dazu: Erkennt man ein missbrauchtes Kind? Ulli Freund, Expertin für Prävention, weiß, worauf man achten muss. Und was Erwachsene im Fall der Fälle tun sollten. Und was nicht.

Dieser Mann, er ist nur wenige Jahre älter als Barbara. Die Justiz wird sich später mit ihm wegen über einem Dutzend Delikten befassen: Es geht unter anderem um Vergewaltigung, Entführung und Nötigung. Er kommt zum Ziel mit der immer gleichen Masche; er lockt seine Opfer mit Geld.

"Ich bin Thomas."

Seine Augen flackern, denke ich, und er schwitzt in ­seinem Trainerjäggli trotz der frischen Temperaturen. Jeans, Laufschuhe, er wirkt gehetzt. Ich vergesse selten. Beobachten, recherchieren, kritisch nachfragen – das wird später mein Beruf. Ich zögere.

"Ich habe viel Geld und muss es dringend loswerden. Das geht ganz schnell. Aber es darf nur eine von euch mitkommen."

Es darf nur eine von euch mitkommen. Ein Satz, dessen Folgen mich bis heute nicht loslassen. Barbara sagt sofort zu. Zuhören, Menschen wertfrei begleiten, an das Gute in ihnen glauben – das wird einmal ihr Beruf. Später vor Gericht spricht sie davon, dass er ihr leidgetan habe und sie helfen wollte.

Ich fahre mit der Bahn nach Hause, lege mich ins Bett und versuche, mein Bauchgefühl zu ignorieren. Liebes Tage­buch. Er ist kleiner und schwächer als Barbara. Ihr passiert nie was, sie ist allen überlegen. Das denkt auch Barbara, während sie mit dem kleinen Mann durch die Stadt läuft. Sie ging eine Zeit lang in den Judoclub, hat ­keine Angst vor dem Unbekannten. Sie stellt ihm Fang­fragen, und er antwortet einsilbig, aber geschickt. Der Wahn blitzt erst in seinen Augen, erzählt Barbara später, als er die Tür hinter ihr verschließt und sie realisiert, dass es zu spät ist.

"Warum waren wir so naiv, Barbara? Wie konnten wir so blöd sein?"
"Mich hat das schnelle Geld gelockt. Er hat uns 20 000 Franken versprochen, weißt du noch? Das roch nach Freiheit. Ein Lottogewinn!"
"Ja. Aber das sind doch nicht unsere Werte? Dass wir für Geld alles vergessen? So wurden wir nicht erzogen."
"Keine Ahnung. Wir zwei dachten immer, wir seien stärker als die ganze Welt."

Warum so naiv? Das frage ich mich noch immer, obwohl ich die Frage jedes Mal als Ohrfeige empfinde, wenn jemand anderes sie uns stellt. Sie suggeriert Mitschuld. Geh nicht mit Fremden, schon gar nicht, wenn sie mit Süßig­keiten locken. Wird uns das nicht eingeimpft, kaum watscheln wir allein zum Kindergarten? Gleichzeitig ­lernen wir aber: Sei nett zu allen, biete Hilfe an.
"Das Hirn von Jugendlichen ist hormonell durcheinander. Sie können risikohafte Situationen schlecht ein­schätzen", sagt Barbara, die heute als Sozialpädagogin arbeitet.

Sie selbst sei damals mit Abenteuern verführbar ­gewesen, wollte sich kennenlernen, und Grenzen ausloten. Aber viel wichtiger scheint mir, was sie hinterherschiebt. Sie sagt es ganz bestimmt. "Er muss sich schämen, nicht ich."

An jenem Tag landet eine US-Sonde nach sieben ­Monaten Reise auf dem Planeten Mars. Und in einem schäbigen Schweizer Hotelzimmer vergewaltigt ein Serientäter eine junge Frau die ganze Nacht. Immer wieder. Bis der Morgen graut. Dann lässt er sie frei. Das hatte er ihr versprochen. In dieser Nacht hat Barbara nur einen Wunsch: Sie will das Zimmer lebend verlassen.

Sie geht auf die Straße in die nächste Telefonkabine und weckt mich.
"Du, ich kann mich heute nicht treffen. Ich muss ja ­arbeiten und danach mag ich nicht."
"Geht es dir nicht gut?"
"Ich muss arbeiten an der Kasse."
"Was ist mit dir los?"
"Nichts."

"Barbara erzählt nüchtern. Ich schreie, weine"

Auf ihn ist Verlass, ihren Panzer, den ich oft nicht mag und manchmal herausfordere, bis sie mich anschreit, nur damit ich endlich ein Stück unkontrollierte Tiefe erblicke, die mich doch so interessiert an ihr. Ich schäme mich über so viel Selbstgerechtigkeit, auch wenn ich mittlerweile weiß, wie heilsam es war, dass sie mich unmittelbar danach angerufen hat. Denn die Mehrheit der Opfer von sexualisierter Gewalt schweigt. Ich ­hämmere mit Fragen gegen den Panzer, bis er aufbricht.

Barbara erzählt mir am Telefon eine Kurzgeschichte aus der Hölle, so eintönig, als wäre es ein Film, mit dem sie sich am Abend berieselt hat.

"Auf dem Tisch neben uns stand ein Aschenbecher. Ich wollte ihn damit erschlagen, aber ich habe mich nicht ­getraut."

"Warum nicht?"
"Ich hatte Todesangst."
Sie erzählt nüchtern. Ich schreie, weine und schlage meine Faust an die Wand. Liebes Tagebuch, warum? Ich habe es ja geahnt. Warum bin ich nicht bei ihr geblieben?!

Ihren Eltern sagt Barbara kein Wort, weil sie sie nicht belasten will. Der Psychiater Jan Gysi ist spezialisiert in Psycho­traumatologie und Autor verschiedener Publikationen zum Thema sexualisierte Gewalt. Er sagt: "Vergewaltigungsopfer schweigen eher, als dass sie erzählen. Das bedeutet auch, dass die Mehrheit ihren Peiniger nicht oder erst viel später anzeigt." Barbara schmeißt ihre Kleider in eine Ecke und beeilt sich, um die Schicht im Dorf­laden, ­ihren Nebenjob, zu beginnen. Es kaufen an diesem Tag auch viele Männer Pornohefte bei ihr. Das betont sie ­heute, als wäre jener Arbeitstag eine erste Stunde Trauma­therapie gewesen. "Das war wichtig für mich. Ich wollte Männer nicht hassen und sagte mir, sie kaufen nur Hefte. Sie gehen nicht nach Hause und vergewaltigen ihre Frauen."

Ich warte nach Feierabend voller Sorge vor ihrer elterlichen Wohnung, als ich sie im Treppenhaus mit einer Nachbarin plaudern höre. Der Panzer, er hält wieder.

In der Schweiz werden laut polizeilicher Kriminalsta­tis­tik täglich rund zwei Frauen vergewaltigt. Erschreckend höher sind die Zahlen der Schweizer Opferberatungs­stellen: 2020 führten sie über ein Dutzend Gespräche ­allein wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung – pro Tag.

Barbara weigert sich, ihren Peiniger anzuzeigen. Sie braucht Ruhe und hat Angst, dass man ihr nicht glaubt. Wie sich zeigen wird, liegt sie damit nicht falsch.

Agota Lavoyer hat mit Hunderten von Opfern sexualisierter Gewalt gesprochen. Heute leitet sie die Opferbe­ratungsstelle in Solothurn. "Nur jede zehnte Frau meldet sich bei der Polizei", sagt sie. Die Gründe für das Schweigen sind vielfältig: Scham, Selbstvorwürfe, Überforderung, auch Angst vor der Reaktion der Behörden. Die Hürde ist noch größer, wenn das Opfer den Täter kennt, was in der Mehrheit der Fälle zutrifft.

Barbara lässt sich immerhin zur Pille danach über­reden. Wir reisen auf eine griechische Insel. Sie ist schweigsam diesen Sommer. In ihre Agenda zeichnet sie eine dürre Gestalt auf einer langen Straße in einem Tal. Am ­Horizont scheint eine Sonne, die gegen ­Regentropfen kämpft. Liebes Tagebuch, Barbara hat diesen Blick. ­Spaziert am Strand und starrt in die Leere.

Wir mieten eine Vespa und haben am ersten Abend einen Unfall. Holen uns tiefe Schürfungen. Barbara fährt uns zurück ins Hotel. Ihr wird immer wieder schwarz vor Augen wegen der Schmerzen, doch sie ist die Starke, die Ältere und wieder in ihrer Rolle. Auf den Ferienfotos ­lachen wir; Hände und Knie bandagiert. Alles so intensiv wie nie mehr im Leben.

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Ich versuche, da zu sein. Nehme meine Freundin in die Arme, streichle sie, höre zu und stelle Fragen, lasse sie ­weinen. Der Panzer, er wird weicher.

"Du hast mir gezeigt, dass ich traurig, wütend, ver­zweifelt sein darf. Und dass ich wieder vertrauen darf", sagt Barbara. Ich wiederum brauche zwei Jahrzehnte, um zu erkennen, dass auch ich traumatisiert bin.

Zurück in der Schweiz beginnt die Schule. Maturavorbereitungen. Ich verschweige Barbara, dass ich diesen "Thomas" im Drogenmilieu ­suche. Ich spreche Junkies am Bahnhof an, erkläre ihnen die Geschichte und lasse mich durch die damals offene ­Drogenszene führen. Doch niemand kennt ihn, denn er ist kein Drogensüchtiger und heißt auch nicht "Thomas".

Im Gegensatz zu Barbara gehe ich in die Psycho­therapie. Ich fühle mich schuldig. Warum habe ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört? Ich vertraute, und das war ein ­Fehler. Ich war für einen Moment nicht aufmerksam genug. Liebes Tagebuch, ich kann diesem Typen nicht verzeihen. Ich werde ihn töten. Ich werde ihn aufschlitzen. Was hat er mit ihr gemacht?

"Eine typische sekundäre Traumatisierung", sagt Jan Gysi. Lange habe gegolten: Wer nicht selbst direkt be­troffen ist, kann nicht traumatisiert sein. "Auch die Gerichte entscheiden oft nach diesem Grundsatz, dabei ist diese Annahme längst überholt." Was viele Angehörige und enge Vertrauenspersonen nicht wissen: Auch sie ­haben nach so einem Vorfall Anspruch auf Opferhilfe oder zumindest auf eine Beratung.

"Ich bin froh, ich bin mitgegangen und nicht du", sagt Barbara bis heute.
"Warum?"
"Du hättest es nicht überlebt."

Wir bestehen die Matura, wir studieren, reisen, tanzen in viele Sonnenaufgänge und fädeln uns ins Berufsleben ein. Ich habe auf einmal Angst, allein im Dunkeln heimzulaufen. Barbara schläft wieder mit Männern, doch wirkliche Nähe lässt sie lange Zeit nicht zu. Der Erste ist ein gleichaltriger Spanier auf einer Interrailreise, und er weiß nicht, dass es für sie nicht nur ein One-Night-Stand ist, sondern eine wichtige Station in ihrem Heilungsprozess.

Danach denkt sie beim Sex nicht mehr an ihre Vergewaltigung, doch frei fühlt sie sich jahrelang nicht. Sie will nie mehr ausgeliefert sein und behält lieber die Kontrolle im Bett.

"Er hat mehrere Frauen vergewaltigt, ein Serientäter"

Sie reist ohne Begleitung nach Südostasien, allein ist sie dort nie: Barbara be­gegnet Menschen aus der ganzen Welt. Nicht in jedem Unbekannten schlummert der Wahn, das muss auch ich wieder lernen, denn das Misstrauen setzt sich bei mir hart­näckiger fest als bei ihr. Ich bleibe daheim in ständiger Sorge um sie, aber auch um mich und eigentlich um die ganze Welt. Liebes Tagebuch, ich habe durch diese Vergewaltigung den Glauben an das Gute im Menschen verloren.

Barbara geht in Thailand in ein Kloster, schläft auf dem Boden, meditiert zwölf Stunden pro Tag und schweigt zwei Wochen. Das ist ihre Initiation zur besseren Selbstwahrnehmung – bis heute stärkt sie die tägliche Meditation. Barbara will vergessen und vergisst auch nach und nach; nur wer weiß, was sie durchgemacht hat, vermag die Irritationen zu deuten. Sie kann es nicht leiden, wenn Türen hinter ihr abgeschlossen werden, besonders nicht bei Streitereien. Und:
"Du magst keinen Männerschweiß, Barbara."
"Echt?"
"Ja. Wenn einer nach Schweiß riecht, machst du ent­weder einen Spruch oder du regst dich furchtbar darüber auf."

Nach vielen Monaten und intensiven Gesprächen beschließt sie, ihre Geschichte doch zu teilen, und meldet sich bei einer Opferberatung. Dort ermutigt man sie, den Mann anzuzeigen. "Ich brauchte viel Zeit, um zu reali­sieren, dass er bestraft werden muss und nicht ich mich selbst bestrafe mit meinen Schamgefühlen", sagt sie.

Sie nimmt sich eine Anwältin und erfährt Erstaunliches: "Thomas" hat mehrere Frauen nach dem gleichen Muster vergewaltigt, ein Serientäter. Sie erfährt auch, dass die Polizei an den Geschichten zweifelt. Eine Polizistin soll laut einem anderen Opfer gesagt haben, die Betroffene solle endlich zugeben, dass die Geschichte erfunden sei, sie wolle den Eltern doch nur einen Grund angeben, warum sie zu spät nach Hause kam.

"In meiner Erfahrung ist es die Ausnahme, dass Vertrauenspersonen die Geschichte vollständig glauben", sagt Opferberaterin Agota Lavoyer und zieht den Vergleich mit einem Fahrraddiebstahl. "Erzähle ich meinen Freundinnen, dass mein Rad gestohlen wurde, dann unterstellt mir niemand, ich wolle doch die Versicherung betrügen – obwohl Versicherungsbetrug viel häufiger vorkommt als Falschanschuldigungen bei Sexualdelikten. Bei solchen wird die Glaubwürdigkeit der Betroffenen reflexartig ­infrage gestellt."

"Stimmt das wirklich?", werde auch ich gefragt. Denn ich war nicht dabei. Aber ich habe meine Freundin un­mittelbar vor und nach diesem Alptraum gesehen. Mit stumpfem Blick starrte sie am Morgen die weiße Kachelwand im Badezimmer an. Ich wusch ihr die Haare. Die wunderschönen Haare. Sie stanken nach Männerschweiß. Stimmt das wirklich? Ein Faustschlag. Keiner fragt: Was braucht ihr, wie können wir euch helfen?

Barbara führt verschiedene langjährige Beziehungen, bis sie die Person trifft, bei der sie für immer bleiben ­möchte.

"Hast du davon erzählt?", frage ich.
"Ja."
"Und?"
"Es war gut. Aber es ist mir unangenehm, darüber zu ­reden. Nicht unbedingt wegen mir, sondern wegen des Gegenübers", sagt Barbara, ganz Sozialpädagogin.

Barbara ist schweigsam diesen Sommer

"Man denkt immer, man müsse was sagen, dabei sollte man einfach nur zuhören."
"Ja, aber wann soll ich darüber reden, etwa im Freundeskreis? Es ist kein Thema, das man bei einem Abend­essen anspricht. Hey, wer von euch wurde eigentlich auch vergewaltigt oder missbraucht?"
Dabei könnte jede fünfte Frau die Hand heben bei ­dieser Frage. Das jedenfalls geht aus einer repräsentativen Umfrage zum Thema sexuelle Gewalt im Auftrag von ­Amnesty International Schweiz von 2019 hervor.

"Barbara überlebt diese Geschichte nicht nur, sie lebt weiter"

Es kommt zum Prozess. Das Gremium ist mehrheitlich männlich und fragt Barbara, was sie um Mitternacht als junge Frau auf der Straße treibe. Sie sei "sehr dumm, fast selbst verschuldet" in seine Fänge geraten, steht im schriftlich begründeten Urteil. Ich wundere mich, warum das Opfer sich derart rechtfertigen muss. Der Beschuldigte sitzt mit Dreitagebart in dem hohen Raum schräg vor mir, und ich muss mir eingestehen: Ich hätte ihn auf der Straße nicht mehr erkannt. Ich schlucke einen Kloß voller Hass herunter, aber ich will ihn nicht mehr umbringen.

"Ich habe in den Akten gesehen, was er seinen Eltern aus dem Gefängnis schrieb", sagt Barbara. "Da war kein Satz grammatikalisch richtig. Ich habe Mitleid bekommen."
"Mitleid?", frage ich ungläubig.
"Ja."

Journalisten berichten über seine Verbrechen und erwähnen, sie würden zu den schwersten Sexualdelikten der Schweizer Justizgeschichte gehören. Und sie ­schreiben über die "große Rückfallgefahr". Der kleine Mann im Trainer­jäggli wird unter anderem wegen Freiheits­beraubung und mehrfacher Vergewaltigung verurteilt – und auf unbestimmte Zeit verwahrt, was nicht unbedingt lebenslänglich bedeutet. Seine Verurteilung ist eine Ausnahme. Denn in der Schweiz kommen die meisten der Vergewaltigung beschuldigten Personen straffrei davon.

Barbara überlebt diese Geschichte nicht nur, sie lebt weiter. Sie schließt zwei Studien­gänge ab und arbeitet heute mit jungen Menschen, die zwar mitten in unserer Gesellschaft leben, aber dennoch am Rand stehen. Es zählt bei ihr der Moment und nicht, was hätte sein können. Wir bleiben Freundinnen mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen.

"Ich war beim Augenarzt. Er sagt, es bestehe das Risiko, dass ich dereinst erblinden werde."
"Wann?", fragt Barbara, die Starke.
"In zwanzig oder dreißig Jahren."
"Was? Und darüber machst du dir jetzt Gedanken?"

Barbara sieht das Leben als faszinierende Erfahrung, für mich bedeutet es eine Fülle an Erlebnissen, die mich zeitweise überrollen. Wir streiten uns, und ich werfe ihr vor, Zwangsoptimistin zu sein, alles schönzureden. Dann entschuldige ich mich, weil ich anmaßend war. Liebes ­Tagebuch, ist das nicht genau der Grund, warum sie so gut mit dieser Geschichte umgehen kann?

Barbara macht eine Auszeit und reist ein Jahr um die Welt. Im Himalaja kotzt sie grün während einer Ayurveda-­Kur. Aus 7000 Kilometern Entfernung ruft sie mich an. Zusammen mit dem nepalesischen Arzt erkennt sie auf einmal, weshalb sie diese brutalen Stunden seelisch überlebt hat. Sie hat depersonalisiert, sie hat ihren Körper verlassen.

In jener Hotelnacht sah sie sich von oben, während er sie vergewaltigte, sie hing in sicherer Distanz frei an der Decke und lag nicht erdrückt unter ihm. "Das ist ein ­typischer Schutzmechanismus", erklärt der Psychiater ­ Jan Gysi. Viele Opfer erstarren, sie "dissoziieren": "Halt dich still, dann geht es schneller vorüber und die Lebensgefahr ist wahrscheinlich weniger groß."

Barbara heiratet. Der See zu unseren Füßen glitzert wie ein überdimensionales Kleid aus Pailletten.

"Ich verspreche dir hier, dass ich mich immer wieder für das Vertrauen entscheide, wenn es darauf ankommt", beteuert sie vor allen Anwesenden ihrem Lieblings­menschen.

Später steht die Braut hinter dem Mischpult als ­DJane. Technobässe wie Herzschläge: das Leben feiern. Über ­hundert Freunde und Freundinnen jubeln gemeinsam mit dem Hochzeitspaar. Man will mit ihr befreundet sein, denke ich. Barbara dirigiert mit ihrer Musik ihre ­Gäste, sie steht im Mittelpunkt und zugleich hinter diesem ­schützenden DJ-Pult, wo ihr keiner zu nahe kommt.

Kaum eine Person auf der Hochzeit weiß, was ihr zugestoßen ist. Dennoch hat jeder einzelne Gast unwissentlich dazu beigetragen, ihre Wunden zu heilen. "Die Traumatherapie ist derjenige Bereich der Psychotherapie, der sich in den letzten Jahren am meisten entwickelt hat", sagt Jan ­Gysi. Die Ereignisse um den 11. September 2001 hätten eine Forschungswelle ausgelöst. Die wichtigste Unter­stützung für die Heilung sei das soziale Netz, die stabile Bindung an das Umfeld. "Wir brauchen Menschen, die uns glauben, uns nicht beschämen." Auch eine posttraumatische Störung sei behandelbar. Gysi vergleicht erfahrene sexuelle Gewalt mit einem schweren Verkehrsunfall. Der offene Bruch heilt, die Narbe bleibt lebenslänglich, die ­Erfahrung unvergessen.

"War die Vergewaltigung dein schlimmstes Erlebnis, Barbara?"
"Das jahrelange Streiten meiner Eltern beschäftigt mich mehr als diese Nacht."
"Das glaube ich nicht. Wie kann das sein?"
"Doch. Als Kind war ich hilfloser."

"Schreib, hatte sie mich gebeten: Weil täglich passiert und wir nicht darüber reden"

Der Traumatologe Jan Gysi kann das nachvollziehen. "Wir dürfen nicht von außen beurteilen, was ein Trauma ist und was nicht. Das ist sehr subjektiv." Eine Trennung kann sich über Monate, wenn nicht Jahre hinziehen und für das Kind sehr prägend sein. "Das hinterlässt unter Umständen andere Spuren als ein Erlebnis, das nur eine Nacht andauert." Zudem handelt es sich bei Barbaras Vergewaltiger um einen Fremden. ­Anders sei es, führt Gysi aus, wenn es der Partner oder der Nachbar ist und man täglich mit ihm konfrontiert wird.

Barbara liest diesen Artikel durch.
"Er hat mich nicht gebrochen", sagt sie.
"Das überrascht mich nicht."
"Aber ich kann jetzt sagen: Ich bin ein Vergewaltigungs­opfer. Ich bin eine Frau, die vergewaltigt wurde."
"Schreib", hatte sie mich gebeten, "schreib über diese Geschichte", weil es täglich passiert und wir nicht darüber reden. Ich schreibe und merke auf einmal, dass Barbaras Vergewaltigung und ihre Folgen auch meine Geschichte sind, einfach aus einem anderen Blickwinkel.

Warum ging sie mit und nicht ich? Mein Trauma ist nicht Barbaras, aber ich habe ihres miterlebt. Ich habe fälschlicherweise angenommen, wenn sie als Opfer so gut mit der Vergewaltigung umgehen kann, dann gilt das auch für mich als Nahestehende. Eine Nacht vor über zwanzig Jahren und ihre Folgen fürs Leben. Auch ich will ­vergessen. Ich entschließe mich, zur Opferberatung zu gehen. Dass Betroffene sich Jahre später melden, sei ­häufig, höre ich da. Das Gespräch hilft mir. Und wir kommen rasch zum Punkt. Ich habe dem Täter schneller verziehen als mir. Mir, die das Bauchgefühl ignoriert hat.

* Die Namen der Autorin und des Opfers sind der Redaktion bekannt.

Infobox

Rat und Hilfe: Betroffene können sich an das Frauen­­hilfetelefon wenden unter 08000 116 016 oder Beratung ­finden unter www.frauen-gegen-gewalt.de.

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