"Ich bin doch ein Nutz, oder?"
"Ich bin doch ein Nutz, oder?"
Barbara Ott
"Ich bin doch ein Nutz, oder?"
Lange hat die Klinikseelsorgerin Karin Lackus andere getröstet. Dann erkrankte sie schwer. Viele Fragen stellt sie sich nun selbst. Teil 1 einer Serie.
11.11.2021

Kurz vor meiner ersten Chemotherapie, nach ­Operationen und längerem Krankenhaus­aufenthalt, besuchte ich die Kapelle des Kranken­hauses, in dem ich seit Jahren als ­Pfarrerin arbeite. Auf dem Aushang der Seelsorge sah ich statt des gewohnten Fotos von mir das Bild eines Kollegen. Ein absolut logischer Schritt, die Patientinnen müssen ja wissen, mit wem sie es zu tun haben, und ich bin es mit Sicherheit nicht mehr. Trotzdem hat es mich völlig über­rumpelt; schlagartig ist mir klargeworden, dass ich durch meine Krankheit buch­stäblich abgehängt worden bin.

Ich erinnerte mich an eine Frage meines damals kleinen Sohnes: "Ich bin doch ein Nutz, oder?" In einem ­Hörspiel hatte er gerade das Schimpfwort "unnützer Bengel" gehört. Bislang waren für ihn Menschen einfach da, jetzt dachte er nach: Wenn Menschen unnütz sein können, muss es auch Nutze geben. Und dann wollte er das natürlich auch sein, auf jeden Fall ein Nutz, Sinnvolles tun, gebraucht werden.

Wie wir alle.

privat

Karin Lackus

Karin Lackus, Jahrgang 1959, hat evangelische Theologie studiert und ist Pfarrerin. Zehn ­Jahre arbeitete sie in Mannheim als ­Klinikseelsorgerin. 2016 erschien ­ ihr Buch: "Mir geht es gut, ich sterbe ­gerade" (Neukirchener-Verlags­gesellschaft, 12,99 Euro).

Mit dem geänderten Foto wurde sichtbar, dass ich gerade für lange Zeit meine Funktion und meine Aufgaben verloren hatte. Eben noch erlebte ich mich selbstverständlich als "Nutz", eingebunden in einen geschäftigen Alltag. Ich hatte genug zu tun und das große Glück, regelmäßig Dankbarkeit und Respekt zu erfahren. Jetzt begann ich zu realisieren, wie sehr sich mein gewohntes Leben aufgelöst hatte.

Am Anfang der Erkrankung auf der Intensivstation waren für mich ­Ge­danken über Sinn und Arbeit noch völlig irrelevant. Ich war einfach da und wollte leben. Ich war offen für ­jeden Versuch der Aufmunterung, alles war hilfreich, was liebevoll war. Man konnte mich zum Essen über­reden wollen, von Hoffnung und Zuversicht reden, alles war gut. Ich war froh über jede nette Geste, selbst Tätscheln war fast in Ordnung.

Wenige Wochen später mit etwas mehr Normalität war das anders, ich wurde wählerischer und empfindlicher. Es kam nicht mehr gut an, mich zum Essen aufzufordern. Wenn mir elend war, wollte ich nichts hören von guten Tagen, die kommen werden. Ich war weiterhin froh über jeden freundlichen Kontakt, die Gemeinschaft ­meiner Familie, über Kuchen und Suppe, Blumen und Schokolade, aber vorsichtiger, misstrauischer gegenüber dem guten Leben, einfach insgesamt trauriger. Es gab mittlerweile mein Leben und das Leben "draußen".

"Nun waren es meine Söhne, die mich umsorgten"

Und mein Leben zu Hause war seltsam leer. Ich verbrachte die ­meis­te Zeit auf der Couch, unterbrochen von Essen und kurzen Spaziergängen. Und ganz vielen Telefonaten. Es war ja Corona. Nur meine Söhne kamen ab und an zu Besuch, getestet, nach frei­williger Quarantäne und mit ­veränderten Rollen. Nun waren sie es, die mich umsorgten, auf dem Markt ein Huhn kauften und Suppe kochten. Ein Riesen­huhn, das kaum in den Kochtopf passte.

Die Klinikseelsorgerin Karin Lackus ­protokolliert, wie es ihr selbst ergeht in der ­Krankheit:

Teil 1: Wenn die Aufgabe verloren geht Teil 2: Wenn man sich nicht ernst genommen fühlt Teil 3: Wenn man den Ernst der Lage nicht wahrnehmen will

Merkwürdigerweise hatte ich trotz allem in diesen Monaten fast nie Lange- weile, selbst nicht in der Zeit, als ich nicht lesen konnte und keine Musik hören mochte. So kann man also auch leben, dachte ich manchmal, ohne es wirklich zu verstehen. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Langsamkeit des Lebens, die Untätigkeit auf der Couch wurden immer mehr zur Normalität. Trotzdem wäre für mich wohl auch in dieser Zeit die Liedzeile "Hilf, Herr, meines Lebens, dass ich nicht ver­gebens hier auf Erden bin" pure Provokation gewesen. Eigentlich mag ich das Lied jetzt in keiner Situation mehr.

Wenige Wochen zuvor hatte ich als Seelsorgerin noch gut reden, wenn ­eine alte Frau klagte, sie könne nichts mehr, nicht mal mehr Linzertorte ­backen; oder ein junger Mann zornig über die erzwungene Untätigkeit und sein verlorenes Leben durch jahre­lange Krankheit nachdachte. Es ist ­leichter, von der besonderen Würde jedes noch so verletzten Lebens zu ­reden, als es selbst zu glauben.
Mitten hinein in diese Eintönigkeit meiner Tage fragte ein Kollege an, ob ich nicht ein paar Sätze zum assistierten Suizid formulieren könne, meine Meinung würde ihn interessieren.

"Jeder noch so verletzte Mensch ist eine ganze Welt"

Ich fing sofort an zu schreiben und schrieb in jeder Minute, in der es mir möglich war. Ganz offensichtlich hatte ich es doch sehr vermisst, ein "Nutz" zu sein, etwas zu sagen zu haben, gehört zu werden. Als ­Krankenhausseelsorgerin hatte ich zwar oft über den ­besonderen Wert jedes Lebens geredet, unab­hängig von Leistung und Nutzen. Selbst das Recht auf Faulheit hatte ich postuliert, wenn man die Heiligkeit ­jedes menschlichen ­Lebens ­konsequent zu Ende denkt. Jeder noch so verletzte Mensch ist eine ganze Welt, lautet ein Satz aus meinen Predigten als Klinikseelsorgerin.

Diese ganze Welt ist auf der ­heimischen Couch dann doch ganz schön klein. Wahrgenommen werden, zu Hause nicht verloren gehen, das sind nicht ohne Grund wichtige Themen in den Selbsthilfegruppen kranker Menschen. "Soziales Sterben" lange vor dem eigentlichen Tod wird dieser stete schmerzhafte Verlust von Kontakten, Funktionen und Auf­gaben genannt.

Untätig und von anderen versorgt belastet es zudem, als kranker Mensch auch noch ziemlich teuer zu sein. Mehrere Tausend Euro kostet ­jede ­Infusion, die ich noch eine ganze ­Weile alle drei Wochen bekommen werde. Ob sich dieses viele Geld für ­einige Monate Überlebensvorteil ­lohne, las ich in einem Artikel über mein ­Medikament. Ein nachvollziehbarer Gedanke, zumal sich die ­meisten Menschen in den armen ­Ländern ­solche teuren ­Krebstherapien gar nicht leisten können.

"Als Kinder Gottes brauchen wir keine Leistungsnachweise"

Nicht nur im Blick auf Corona-­Impfungen werden sich die Fragen weltweiter Gerechtigkeit in der Medi­zin immer drängender stellen: Wer hat Zugang zu welchen Therapien? ­Warum sind manche Medikamente so teuer? Welche Rolle spielen Patente und Unternehmensgewinne? Ich weiß, dass meine hohen Behandlungskosten nur durch gesellschaftliche Solidarität finanzierbar sind, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich bin froh über alles, was gegen die Krankheit hilft.

Und gegen die Trauer über ver­lorene Sorglosigkeit mühe ich mich jeden Tag, etwas mehr zu glauben, was ich schon immer weiß: Leben ist unendlich kostbar, egal, wer wir sind und was wir tun. Als Kinder Gottes brauchen wir keine Rechtfertigungen und keine Leistungsnachweise. Es ist in Ordnung, das Leben einfach so zu leben und zu lieben, zu glauben und zu hoffen.

Und wenn sich doch Zweifel einschleichen und mein Glaube schwach wird, dann arbeite ich ein wenig mit Tricks. So habe ich mir ein Sport- und Bewegungsprogramm zusammen­gestellt. Das arbeite ich täglich ge­wissenhaft ab und kann jeden Abend auf ein wenig Erfolg durch Leistung zurückschauen. Ansonsten gilt: Als Ebenbilder Gottes sind wir Menschen bunt, schräg und vielfältig. Alle werden in Gottes Welt gebraucht, auch die ­Trödeligen, Verletzten und Untätigen; sogar die Faulen und auch die Teuren.

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