Die westfaelische Praeses Annette Kurschus ist am Mittwochmorgen (10.11.2021) zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewaehlt worden. (Foto v.l.: Hamburger Bischoefin Kirsten Fehrs, neue Stellvertretende Ratsvorsitzende und Annette Kurschus). Ihre Amtszeit betraegt sechs Jahre. Seit der Gruendung der EKD vor 70 Jahren gab es vor Kurschus 13 Ratsvorsitzende, zwoelf Maenner und eine Frau. In der DDR gab es fuenf Vorsitzende der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen. (Siehe epd-Meldung vom 10.11.2021)
Jens Schulze/epd-bild
Frauen an der Macht
Die evangelische Kirche hat zwei brillante Predigerinnen und Seelsorgerinnen an ihre Spitze gewählt. Das passt.
Tim Wegner
10.11.2021

Ab heute stehen drei Frauen an der Spitze der evangelischen Kirche. Das hat es vorher noch nicht gegeben: Annette Kurschus, die Präses (Bischöfin) der westfälischen Landeskirche, ist die neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie folgt auf den bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der sein Amt turnusgemäß nach sechs Jahren abgegeben hatte. Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs wurde zur Stellvertreterin gewählt. Seit Mai leitet die 25-jährige Studentin Anna-Nicole Heinrich die EKD-Synode, das höchste Kirchenparlament.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Die drei stehen für eine neue Tonalität in der Kirche, für einen religiöseren, weniger dezidiert politischen Kurs, als ihn der vorherige meinungsstarke Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm vertrat, der sich häufig zu tagesaktuellen Themen äußerte und nicht selten mit erkennbarer parteipolitischer Färbung. "Ich setze auf die Kraft geistlich-theologischer Akzente", hatte Kurschus in ihrer Bewerbungsrede betont. Nach ihrer Wahl sprach sie davon, dass sie einen neuen "Ton" in öffentliche Debatten bringen wolle, die "Verletzlichkeit des Lebens" thematisieren, den Blick auf die "Ränder der Gesellschaft" richten und von der in Gott gegründeten Zuversicht sprechen. Kurschus war in den vergangenen sechs Jahren Bedford-Strohms Stellvertreterin gewesen.

Die 58-jährige Annette Kurschus steht seit 2012 an der Spitze der westfälischen Kirche, mit 2,2 Millionen Mitgliedern eine der größten evangelischen Landeskirchen. Die 60-jährige Kirsten Fehrs ist seit zehn Jahren Bischöfin in Hamburg. Kurschus ist seit 2014 chrismon-Herausgeberin, viele Leserinnen und Leser kennen sie von ihrer Kolumne, in der sie für Vertrauen und Versöhnung wirbt, Mut macht, oder sich für den interreligiösen Religionsunterricht und den entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus stark macht.

Öffentliche Seelsorge

Kurschus und Fehrs sind brillante Predigerinnen, sie sprechen klug, wortgewandt und nie kitschig - auch über schwere Themen. Viele Menschen wurden 2015 auf Annette Kurschus aufmerksam, als sie im zentralen Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Absturzes die tiefe Verstörung über die Tat in einfühlsame und eindringliche Worte fasste. Am 17. November wird sie mit dem Ökumenischen Predigtpreis ausgezeichnet.

Kirsten Fehrs wurde 2018 über Hamburg hinaus bekannt, als sie ihr ehrliches Entsetzen über die sexualisierte Gewalt im Bereich der Kirche in einer aufrüttelnden und klaren Rede vor der EKD-Synode ausdrückte. So war zuvor in der Kirche über dieses Thema nicht gesprochen worden.

Beide Bischöfinnen sind gute Seelsorgerinnen. Sie können zuhören und erfassen, was Menschen und einem ganzen Land auf der Seele liegt. Die Seelsorge sei die "Muttersprache" der Kirche, hatte Fehrs in ihrer Bewerbungsrede gesagt und dass ihr die "öffentliche Seelsorge" ein sehr wichtiges Anliegen sei.

Mit diesen Fähigkeiten und Qualitäten kommen die beiden dem Bedürfnis vieler Menschen entgegen, die sich von der Kirche Trost und Begleitung in existenziellen Krisen wünschen, Orientierung bei der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben und den Segen, wenn es etwas zu feiern gibt. Auch wenn Katastrophen passieren, die das ganze Land entsetzen, wie die Pandemie, die Flut im Ahrtal oder eben der Germanwings-Absturz, ist die Kirche gefragt. Der Staat und die Politik können nicht trösten. Aber die Kirche kann in öffentlichen Gedenkgottesdiensten der Trauer Raum geben, Schuld thematisieren, für Versöhnung werben. In öffentlichen Debatten können Geistliche auf ethische Fragen am Anfang und Ende des Lebens mit anderen Argumenten antworten als es Wissenschaftlerinnen und Politiker tun, sie können "das Oberlicht offenhalten für eine Hoffnung, die über unsere Möglichkeiten hinausgeht", wie Annette Kurschus nach ihrer Wahl sagte.

Klimaschutz ist zentrales Anliegen

Politisch und ethisch liegt Kurschus auf einer Linie mit ihrem Vorgänger Bedford-Strohm. Auch für sie ist klar: "Man lässt keine Menschen ertrinken!" Auch sie ist für eine großzügigere Aufnahme von Geflüchteten und appellierte an die Bundesregierung, alles zu tun, um afghanischen Ortskräften die legale Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Auch der Klimaschutz steht für sie ganz oben auf der Agenda. "Wir müssen alles tun, um das Leben in Vielfalt zu schützen und zu erhalten", sagte sie heute. Das werde "einiges" kosten, "aber das muss es uns wert sein". Auch Kurschus und Fehrs werden sich künftig politisch äußern, aber zurückhaltender und wahrscheinlich nicht so oft wie Heinrich Bedford-Strohm es tat. Die Kirche müsse manchmal auch "sperrig" sein, sagte Kurschus, aber "wo wir uns als Rat öffentlich zu Wort melden, sollte das erkennbar begründet und wohlüberlegt sein". Auf keinen Fall wolle sie besserwisserisch auftreten.

Manche werden sich nun sorgen, dass die Stimme der Kirche nicht mehr zu hören sein wird, andere werden erleichtert sein. Anders als ihr Vorgänger ist Kurschus nicht auf Twitter, Instagram oder Facebook unterwegs. Pausenlos zu kommunizieren, das liege ihr einfach nicht, sagte sie in einem Interview. Diesen Teil der öffentlichen Kommunikation übernimmt Anna-Nicole Heinrich, die als 25-Jährige sowieso selbstverständlich in den sozialen Medien lebt.

Teamplayerinnen

Kurschus und Fehrs liegen die Ökumene und der interreligiöse Dialog am Herzen. Beide gehörten zu den ersten leitenden Geistlichen, die sich für den interreligiösen Religionsunterricht eingesetzt haben. Kurschus hat in ihrer Landeskirche außerdem bewiesen, dass sie unterschiedliche Mentalitäten, Frömmigkeitsstile, Stadt und Land zu einem guten Miteinander zusammenzubringen kann. Beiden betonen, dass sie sich als Teamplayerinnen verstehen und die tiefgreifenden Veränderungen, vor denen die Kirche steht, zusammen mit ihren Ratskollegen und -kolleginnen anpacken wollen. Das Kirchensteueraufkommen sinkt, die Kirche muss sparen und sich von vielem verabschieden. Nicht nur die Verluste zu sehen, sondern auch die neuen Möglichkeiten und nie den Mut zu verlieren, wird nun die vordringlichste Aufgabe für die beiden Frauen sein.

Ob die Veränderungen gelingen und die Kirche Glaubwürdigkeit zurückgewinnt, wird auch sehr davon abhängen, wie sie die Fälle von sexualisierter Gewalt aufarbeitet. Auf der zu Ende gehenden Synodentagung kritisierten Betroffene einmal mehr die EKD für mangelnde Transparenz und Aufklärungswillen und dass sie die Betroffenen nicht angemessen einbeziehe. Die drei neuen Frauen an der Spitze haben das verstanden.

Kirsten Fehrs war von 2018 bis 2020 in der EKD für das Thema zuständig und hat sich wie keiner ihrer Kollegen und Kolleginnen um eine konsequente Aufarbeitung bemüht. Kurschus kündigte an, die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt zur "Chefinnen-Sache" zu machen. Und Anna-Nicole Heinrich sagte am Dienstag: "Wir beanspruchen keine Deutungshoheit" und machte deutlich, dass auch für sie das Thema höchste Priorität hat.

Bei den vielen großen Aufgaben hilft Klarheit, Haltung und auch Humor. Das haben Kurschus und Fehrs. Ob sie auch über das nötige dicke Fell für ein solches öffentliches Spitzenamt verfügen, wird sich zeigen. "Wir werden das gemeinsam wuppen!", sagte Anna-Nicole Heinrich.

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