"Die Natur ist eine gute Lehrmeisterin"
Katharina Mikhrin/Westend61/Getty Images
Achtsamkeitsübungen in der Natur
"Die Natur ist eine gute Lehrmeisterin"
Pfarrer Manfred Gerland zeigt, wie man durch Meditation Ruhe findet und die Schöpfung respektiert
Tim Wegner
13.09.2021
4Min

chrismon: Outdoor-Sportarten boomen, alle wollen raus in die Natur. Warum tut es gut, in der Natur unterwegs zu sein?

Manfred Gerland: Bewegung kann mentale Blockaden lockern, beim Sport werden im Körper die Botenstoffe Serotonin und Dopamin ausgeschüttet, die man auch Glückshormone nennt. Aber wenn ich die Natur nur als Arena für meine sportlichen Ambitionen nutze, bleibt sie im Hintergrund. Wenn ich mich bewusster und langsamer bewege, kann eine intensive Verbindung zu ihr entstehen.

Zum Baum? Zum Käfer?

Ja, auch. Aber nehmen wir einen tollen Sonnenuntergang. Da fühle ich gleich: boah, wie schön. Und wenn ich lange genug hinschaue, fallen mir vielleicht Strophen aus einem Lied oder einem Gedicht ein. Das heißt, die Natur bringt in mir etwas zum Schwingen. Das ist der Anfang eines kontemplativen Zugangs.

privat

Manfred Gerland

Manfred Gerland, geboren 1954, hat 27 Jahre lang im Kloster Germerode bei Kassel und an anderen Orten Meditationskurse geleitet. 2021 hat er das Buch "Aufatmen. Die Spiritualität der Natur entdecken" veröffentlicht (edition chrismon).

Sie empfehlen in Ihrem Buch "Aufatmen" das meditative Gehen als einen Weg zur Kontemplation. Was ist das, meditatives Gehen?

Das kommt aus der buddhistischen Tradition. Man geht extrem langsam und macht sich alle körperlichen Prozesse, die dabei ablaufen, bewusst.

Puh, jetzt geht’s bergauf … wie anstrengend! So in etwa?

Sie gehen noch viel viel langsamer, drücken sich bewusst mit einem Bein ab, heben den Fuß, spüren, wie das Gewicht nun auf dem anderen Fuß ruht, setzen das Bein wieder auf … Da komme ich in fünf Minuten vielleicht 50 Meter weit. So kann man natürlich nicht den ganzen Tag rumlaufen, das ist als kleine Übung gedacht, fünf bis zehn Minuten, zum Beispiel während eines Spaziergangs.

Noch eine Übung?

Einfach stehen bleiben, die Augen schließen, spüren, wie mich der Wind anbläst oder mich vielleicht nur ganz zart streift, im Gesicht, im Haar. Oder man konzentriert sich ganz aufs Hören.

So eine Verlangsamung ist ganz schön schwer! Warum sollte ich das tun?

Weil Sie so Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten, auf diesen Moment. Dadurch schaffen Sie es, von den Gedanken loszukommen, die Sie eben noch umgetrieben haben, und denken auch nicht an das, was kommen wird. Wenn Sie sich ganz auf Ihre Sinne konzentrieren, gelingt es irgendwann, die Sorgen zurückzulassen. Das geht natürlich nicht von jetzt auf nachher und braucht Übung. Aber mit der Zeit merken Sie, dass es dem Körper guttut und der Seele auch.

Vielleicht möchte ich ja in meinen Gedanken hängen bleiben.

Ein spiritueller Lehrer hat mal gesagt: "Du hast eine Verabredung mit dem Leben, hier und jetzt. Wenn du diese Verabredung verpasst, verpasst du das Leben." Wir verlängern das Leben ja oft nach vorn und denken: Wenn ich dies und das erreicht habe, dann habe ich endlich Zeit, um wirklich zu leben. Oder wir Älteren erinnern uns gern an früher, als wir jung und dynamisch waren, und denken: Das war doch das pralle Leben. Aber das Leben findet jetzt und hier statt! Sich auf den Augenblick zu konzentrieren, ist eine befreiende Möglichkeit. Auch Glück erlebe ich nur im Augenblick, das ist keine permanente Erfahrung. So ganz im Augenblick zu sein, das gelingt selbst Menschen, die in Achtsamkeitsübungen erfahren sind, immer nur für kurze Zeit.

Kann man von der Natur lernen?

Die Natur ist eine gute Lehrmeisterin, wenn wir uns auf sie einlassen.

Ich habe mich im Wald auf eine Lichtung gesetzt und versucht, mich ganz auf die Wiese vor mir zu konzentrieren, wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben … und zack, hat mich eine Bremse gestochen. Natur ist ja nicht idyllisch.

In der Bibel, im Römerbrief, Kapitel 8, spricht der Apostel Paulus von der Vergänglichkeit und den Leiden der Natur und vergleicht sie mit einer Schwangeren, die in den Wehen liegt. Theologisch gesprochen heißt das: Die Schöpfung ist nicht perfekt, sie ist nicht göttlich, Gott ist in ihr präsent, und sie wartet wie wir Menschen auf Erlösung und darauf, dass wir als Kinder Gottes uns auch wie Kinder Gottes verhalten.

Was heißt das konkret?

Dass wir der Natur mit Respekt begegnen und ihre Geschöpflichkeit respektieren sollen. Wir haben sie mithilfe der Wissenschaften erforscht, dabei hat die Menschheit ungeheure Fortschritte gemacht, etwa in der Medizin. Wir haben sie aber auch verdinglicht und missachtet, dass die Natur eigene Rechte hat. Wir stellen uns ins Zentrum und nennen alles drum herum "Umwelt". Aber wir sind nur Mitgeschöpfe.

"Macht euch die Erde untertan", steht im ersten Schöpfungsbericht. Wie deuten Sie das?

Man muss auch den zweiten Schöpfungsbericht lesen. Dort heißt es: Gott setzte den Menschen in den Garten und gab ihm den Auftrag, ihn zu bebauen und ihn zu bewahren. Die Natur kann uns Demut lehren und dass alles mit allem zusammenhängt. Wenn ich irgendwo eingreife, hat das eine Wirkung. Gebe ich Gutes, bekomme ich Gutes zurück. Säe ich Verderben und Tod, bekomme ich Tod zurück. Das ist im menschlichen Miteinander so und auch in der Natur.

Aber geht es bei den Achtsamkeitsübungen nicht auch wieder nur um mich?

Ich schütze nur das, was ich kenne und liebe. Ich möchte mit den Übungen diese Liebe zur Natur wecken. Nicht die Moral! Manche sagen, es ist fünf nach zwölf, wenn wir den Klimawandel aufhalten wollen, müssen wir schnell handeln und sie argumentieren mit Angst und Moral. Ich denke, wir müssen vor allem die Liebe stärken.

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