Jagoda Marinić - Ich wurde als Streunerin geboren
Jagoda Marinić möchte am Ende des Lebens wehmütig sein, weil es so schön war
Dirk von Nayhauß
Jagoda Marinić im Interview
Ich wurde als Streunerin geboren
Da will sie wieder hin. Die Schriftstellerin Jagoda Marinić findet ihr Leben manchmal sehr durchgetaktet. Und dass wir uns zu enge Grenzen setzen
Dirk von Nayhauß
25.08.2021
3Min

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Ich fühle mich in zwei Ichs. Das eine beobachtet, das andere handelt. Beobachtungen übersetze ich automatisch in Worte und Sätze, so kann ich die Welt besonders intensiv erleben. Aber das war mir zu wenig. Ich wollte auf See, ich wollte Handelnde sein. Als ich mit 23 meinen ersten Erzählband bei Suhrkamp veröffentlichte, hatte ich bei einigen Autoren den Eindruck, sie fürchten die Welt und entziehen sich ihr durchs Schreiben. Das wiederum habe ich gefürchtet und ließ mich auf eine krasse Dynamik ein: Ich habe tagsüber in Heidelberg ein Kulturzentrum aufgebaut, nachts Bücher geschrieben. Alles, was ich tat, entfaltete plötzlich eine Wirkung. Das bringt Termine mit sich, Taktungen, ich habe gelernt zu funktionieren. Aber wenn der Sommer kommt, merke ich, das ist nur eine Hälfte von mir.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Die Pfarrer meiner Kindheit waren streng, sie haben die Leute beschimpft, wenn sie sich im Alltäglichen verfangen haben. Oft hörte ich von Pfarrern: "Sorget euch nicht, für euch ist gesorgt." Ich sah Gott darin, mich Verletzungen nicht hinzugeben. Vielmehr ist es unsere Pflicht, uns gegen das, was uns klein macht, zu erheben und dem Schönen zuzuwenden.

Jagoda MarinićDirk von Nayhauß

Jagoda Marinić

Jagoda Marinić, geboren 1977 in Waiblingen, ist Autorin und Kulturmanagerin. Ihren ersten Erzählband "Eigentlich ein Heiratsantrag" veröffentlichte sie 2001 bei Suhrkamp. 2013 erschien ihr Roman "Restaurant Dalmatia", zuletzt "SHEROES Neue Held*innen braucht das Land" (S. Fischer, 12 Euro). In ihrem Podcast Freiheit deluxe spricht sie in 15 Folgen mit Prominenten wie Siri Hustvedt oder Danger Dan über Freiheiten. Der Podcast ist abrufbar auf Spotify, Apple und in der ARD-Mediathek. Sie ist Mitglied des P.E.N-Zentrums Deutschland und leitet das Interkulturelle Zentrum der Stadt Heidelberg, wo sie auch lebt.

Muss man den Tod fürchten?

Ich fürchte ihn sehr, der Tod ist die ultimative Niederlage. Aber ich brauche diese Angst, sie mahnt mich, behutsam zu sein. Bin ich böse auf Menschen, frage ich mich: Wenn du den jetzt das letzte Mal siehst, wie würdest du ihn gehen lassen wollen?

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Wenn es mir gelingt, mich als Wesen zu achten. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir gut zu uns selbst sind. Wir werden alle mit Erwartungen und Träumen versehen, und wenn wir die nicht erreichen, denken wir schnell, wir hätten verfehlt. Selbstliebe ist ein gesunder Ausgangspunkt, und sie hat nichts mit Narzissmus zu tun. In Beziehungen wird so viel aufgerechnet. Je mehr Selbstliebe da ist, desto mehr Nächstenliebe, weil man nicht den eigenen Hunger stillen muss.

Wie gehen Sie mit Schuldgefühlen um?

Es ist gut, wenn ich für etwas um Entschuldigung bitten kann und man sich dabei offen begegnet. Wenn mir aber jemand gegenübersteht, der das oder meine Verletzlichkeit im Triumphalen nimmt, fällt es mir sehr schwer; ich bin ein stolzer Mensch.

Kennen Sie Einsamkeit?

Sie ist von klein auf Teil von mir, so ein Bewusstsein des Andersseins – wie ein Gleis, das in meiner Lebenskarte gelegt wurde. Auf dem Gymnasium waren fast nur deutsche, bürgerliche Kinder von Unternehmern, Ärzten und Lehrern, ich war die Ausländerin, das Arbeiterkind. Meine Mutter hat ständig gearbeitet, das kannten viele meiner Mitschüler nicht, dort war Vater der Großverdiener, Mutter zu Hause. Ich leite ein Kulturzentrum, bin aber auch Schriftstellerin, ich werde eher nicht mit Kollegen in der Stadtverwaltung über mein Schreiben sprechen oder umgekehrt mit Autoren über Kulturmanagement. Diese Einsamkeiten mag ich, man behält immer einen eigenen Raum.

Weitere Gespräche mit Prominenten aus Politik, Kultur oder Wissenschaft aus unserer Rubrik "Fragen an das Leben"

Was brauchen wir jetzt am dringendsten?

Menschlichkeit. Wir haben alles optimiert, schon kleine Kinder werden auf Leistung gedrillt. Wir leben in dem Eroberungsdrang, alles zu beherrschen und zu besitzen, die Welt auszupressen. Wann aber reicht es uns? Der Materialismus hat unser Leben verbessert, doch wir haben dem alles unterjocht. Was machst du beruflich? Wo wohnst du? Welches Auto fährst du? Überall konkurrieren wir miteinander – jeder will jeden überflügeln.

Sind Sie so geworden, wie Sie werden wollten?

Ich will mutiger sein und ungebundener, nicht so sesshaft. Ich wurde als Streunerin geboren, zeitverloren, da will ich wieder hin. Bei Rilke heißt es: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen" – aber wir begrenzen uns eben auch in diesen immerselben Ringen. Ich habe die Sehnsucht, Grenzen zu spüren, mir selbst nicht zu bekannt zu sein. Ich liebe dieses "Becoming" von Michelle Obama – wenn man in sich spürt: Morgen bin ich mir selbst ein bisschen neu, verglichen mit heute. Und am Ende des Lebens möchte ich wehmütig sein, weil es so schön war.

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