Schulbuch - Weltweiter Ausnahme
Schule, Schultasche auf dem Lehrerpult vor leerer Tafel
Imago/Photothek
"Weltweite Ausnahme"
Wie erinnern Polen den Zweiten Weltkrieg, wie Deutsche? Mit einem europäischen Schulbuch versuchen Historiker, gegensätzliche Perspektiven zu vereinen.
Autor Paul Toetzke, cp_03_19privat
09.03.2021

Wie gut arbeiten polnische und deutsche Wissenschaftler zusammen?

Dominik Pick: Historiker aus beiden Ländern sind seit vielen Jahren im Gespräch. Man kennt sich gut, weiß, was die Kollegen aus dem Nachbarland machen. Als professionelle Historiker streiten wir, aber nicht über die Fakten – da haben wir schon vieles diskutiert. Zwischen Polen und Ukrainern, zwischen Japanern und Koreanern oder zwischen den Parteien im ehemaligen Jugoslawien ist die Diskussion längst nicht so fortgeschritten. Was in den deutsch-polnischen Beziehungen geschafft wurde, ist eine Ausnahme weltweit. Die deutsch-polnische Schulbuchkommission ist auch eine der ältesten der Welt. 

Autor Paul Toetzke, cp_03_19privat

Paul Toetzke

Paul Toetzke ist freier Journalist und Fotograf und lebt in Berlin. Sein Schwerpunkt: die ehemalige Sowjetunion und das, was von ihr geblieben ist
Dominik PickPrivat

Dominik Pick

Dominik Pick, ­polnischer Historiker, erarbeitete ab 2012 mit einem Team ­aus deutschen und polnischen ­Historikern ein Schulbuch für europäische Geschichte. Der Titel "Europa. Unsere ­Geschichte" (auf ­Polnisch: "Europa. Nasza historia"). Im Sommer 2020 erschien der vierte und letzte Band über das 20. Jahrhundert.

Was genau ist an dem Schulbuch europäisch?

Europäisch heißt, dass man die beiden nationa­len Perspektiven zusammennimmt und eine gemeinsame Geschichtserzählung schreibt. Das heißt, wir erkennen an, wie die jeweiligen Nationen ihre Geschichte erzählen, ohne zu polarisieren. Für ein europäisches Schulbuch müssen nicht die Historiker aller Länder mitschreiben – das wäre vermutlich auch gar nicht möglich. Auch gehen wir an ein binationales Projekt völlig anders heran als an nationale Publikationen. Wir versuchen auch, zwei didaktische Traditionen zu verbinden, also die Methode, nach der deutsche und polnische Lehrer unterrichten. Und da kommen wir manchmal so weit, dass wir sagen: Hier machen wir in Deutschland einen Fehler – oder in Polen, so sollte man die Geschichte nicht unterrichten. Und dabei lernen wir etwas.

Bei welchen Epochen kam es vor allem zu Unstimmigkeiten?

Die meisten Unstimmigkeiten betrafen ­Themen außerhalb der deutsch-polnischen Geschichte, also internationale Themen. Da war es schwieriger, sich zu einigen, weil ­weniger Wissen vorhanden ist oder weil die Ereignisse in beiden Ländern unterschiedlich bewertet werden. In der deutschen Erinnerung ist der Gegner in den sogenannten Be­freiungskriegen am Ende der napoleonischen Zeit Napoleon. Aber für Polen ist nicht ­Napoleon der Gegner, sondern die drei ­Teilungsmächte, insbe­sondere Preußen. Napoleon gilt als Held. Er hat sogar seinen Platz in der polnischen ­Nationalhymne.

Doppelseite über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Dazu ein Bild, wie SS-Soldaten Juden aus dem Warschauer Ghetto deportieren. – Auch polnische Intellektuelle und Geistliche fielen den Nazis zum Opfer. Ausschnitt aus dem vierten Band zur europäischen Geschichte

Wie lösen Sie solche Konflikte?

Immer durch Dialog, durch die Suche nach möglichen Kompromissen, durch eine Konzentration auf die Beschreibung der Ereignisse und – das finde ich persönlich besonders interessant an dem Schulbuch – durch die sogenannten "Blickwinkel". So nennen wir eine Rubrik, in der sich zwei Historiker aus zwei verschiedenen Ländern zum gleichen Thema äußern und zwei verschiedene Perspektiven auf das Thema bieten. Wenn die Schüler verstehen, dass man die gleichen geschichtlichen Ereignisse unterschiedlich bewerten kann, ist das ein großer Schritt.

Ihr letzter Band handelte vom 20. Jahr­hundert – mit dem Zweiten Weltkrieg. Eine heikle Epoche?

Heikel war es nicht, nur schwierig, die richtigen Formulierungen zu finden. Ein Beispiel ist der Widerstand im Zweiten Weltkrieg. In Polen versteht man darunter den Widerstand gegen die deutsche Okkupation, in Deutschland den Widerstand gegen die National­sozialisten. An diesem Kapitel haben wir ziemlich lange gesessen. Immer wieder gab es Probleme, keine Seite gab sich zufrieden.

Unterrichten Lehrerinnen und Lehrer in ­Polen anders als in Deutschland?

Ja. In Deutschland konzentriert man sich auf die Kompetenzen, Quellenanalyse, abstraktes Denken. Das Wissen steht nicht im Vordergrund. Es geht darum, Texte interpretieren und einordnen zu können. Deswegen wird die Geschichte hier weniger als Erzählung ­präsentiert. In Polen ist das einfacher. Polnische Schulbücher bieten eine Erzählung, die nicht infrage gestellt wird. Das Wichtigste ist, dass die Schüler diese Erzählung kennen. Hier sind die Fakten und das Wissen wichtiger. 

Nicht besser, einfach anders

Aber kann das nicht auch gefährlich sein, sich auf eine Erzählung zu konzentrieren?

Ja, natürlich. Beides hat Vor- und Nachteile. Deutsche sollten verstehen, dass weder die eine noch die andere Tradition besser ist, sie sind einfach anders. An deutschen Schulen sollten mehr Fakten gelehrt werden, aber dafür fehlt die Zeit. Quellenanalysen ­bringen ­einen nicht weiter, wenn man kaum die ­Fakten kennt. Und andersherum hilft einem das Wissen natürlich nicht, wenn man nicht mit Quellen umgehen kann.

Es gibt Experten, die andeuten, dass die ­nationalkonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" diese euro­päischen Schulbücher nicht zulassen wird. Weil sie nicht zu deren Vorstellung von ­patriotischer Erziehung passen?

Die Situation in Polen ist tatsächlich ein bisschen komplizierter. Das Schulbuch ist noch nicht zugelassen worden, obwohl dem ­Ministerium positive Gutachten vorliegen. Der vierte Band ist fertig. Jetzt im März wird die Entscheidung vermutlich fallen.

Anna Zalewska, bis 2019 Ministerin für Natio­nale Bildung, hatte den zweiten Band vorgestellt. Eigentlich soll sie mit einer Schul­reform in Polen den "Nationalstolz" und die "Liebe zum Vaterland" fördern. Widerspricht das eine dem anderen?

Das ist schwer einzuschätzen. Was bedeutet "patriotische Erziehung" überhaupt? Es ist schwierig, das zu definieren. Unser Schulbuch enthält alles, was die Lehrpläne vorschreiben. Also passt es eigentlich hundertprozentig. Die Regierung hatte den vierten Band abgewartet. Nun sehen wir ja, ob sie es tatsächlich gefährlich findet.

Was könnte an dem Buch gefährlich sein?

Zum Beispiel, wenn der Begriff "polnische Konzentrationslager" vorgekommen wäre. Dann hätte die Regierung einen guten Grund, es abzulehnen. Aber das ist natürlich nicht der Fall. Es ist ein deutsch-polnisches Projekt zur Geschichte, und gerade diese Frage ist ein heikles Thema in Polen. Die Bildungsbe­hörde wollte einfach wissen, was da auf sie zukommt. Ich verstehe das irgendwie auch. 

Erstmal wissen, dann urteilen

Die Regierungen beider Länder tragen die Kosten Ihres Projekts in Höhe von etwa 1,65 Millionen Euro. Haben sie auch politisch ­Einfluss auf Ihre Arbeit genommen?

Natürlich sind wir auf gewisse Weise von den Regierungen abhängig. Lehrpläne sagen uns, was wir thematisieren müssen. Wie wir das machen, ist allerdings uns überlassen. Hier gab es keinen politischen Einfluss. Die Verlage sind kommerzielle Verlage, und wir sind als Wissenschaftler unabhängig. 

Wird die Debatte um mögliche deutsche Entschädigungsleistungen im Buch thematisiert?

Ein Schulbuch muss an die Lehrpläne angepasst werden. Und solche Diskussionen passen nicht unbedingt dazu. Um über die Frage der Entschädigung diskutieren zu können, muss man erst mal wissen, was im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit passiert ist. Das soll das Buch leisten. Die Erinnerungskultur findet dort natürlich einen gewissen Platz, muss aber einfach gehalten werden. Für diese Debatte gibt es gar keine Zeit im Unterricht.

"Polnisches KZ", so nennen Deutsche allzu oft die früheren Konzentrationslager auf dem Gebiet des heutigen Polen. Nein, wenden Polen dann ein: Es waren deutsche Lager. Bild oben: Schulklasse in der Gedenkstätte Auschwitz

Mitglieder der polnischen Regierung fordern Reparationszahlungen. Und in Berlin stritt man heftig darum, ob ein Denkmal für die polnischen Opfer im Zweiten Weltkrieg errichtet werden soll. Sind das Zeichen fehlender Wiedergutmachung?

Die Diskussion über die Wiedergutmachung ist ja eigentlich auch schon fast 80 Jahre alt. Sie ging schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs los. Aber die rechtlichen Fragen sind heute nicht mehr so wichtig wie die Diskus­sion selbst. Dasselbe gilt für die Debatte um das Denkmal für die polnischen Opfer in Berlin. Das Denkmal ist ja nun im vergangenen Oktober beschlossen worden, und die Diskussion ist jetzt schon wieder vergessen. Wichtig ist auf jeden Fall, dass es eine Diskussion gab. Je mehr wir davon haben, desto besser.

"Polen hat von Deutschland bis heute keine angemessene Kompensation für die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs bekommen", sagte Polens Premierminister Mateusz ­Morawiecki. Hat er recht?

Die Forderungen nach Reparationen kann man absurd finden, aber dann muss man sich auch mit der Geschichte Polens, der BRD und der DDR in den vergangenen 70 Jahren auseinandersetzen. Von den drei Ländern war die Bundesrepublik das einzige Land, das nach dem Krieg etwas gewonnen hat. Die DDR und Polen mussten alles in den vergangenen 30 Jahren nachholen.

Geht es der polnischen Seite eigentlich mehr um Anerkennung?

Es gab ja schon Gesten der Wiedergutmachung, gerade zur Zeit Helmut Schmidts und Edward Giereks. Die Opfer der medizinischen Experimente wurden entschädigt, später auch Zwangsarbeiter. Die Entschädigungen waren marginal, aber es gab solche Gesten. Dennoch: Selbst wenn die deutsche Regierung die Forderungen aus Polen akzeptieren und die ­Summe bezahlen würde, heißt das nicht, dass die Diskussion damit beendet ist. 

Das Leid der Polen anerkennen

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat bestätigt: Für Deutschland ist die Sache juristisch abgeschlossen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Das ist im Endeffekt immer eine politische Entscheidung. Die rechtliche Seite dieses Streits ist kompliziert. Ich bin mir sicher: Beide Seiten bringen legitime Argumente vor. Nehmen wir zum Beispiel die deutsch-polnische Grenze: Der Vertrag wurde in den Siebzigern ratifiziert. Aber in einer Resolution des Bundestags von damals steht, dass dieser Vertrag Deutschland nicht als Ganzes betrifft.

Der deutsch-polnische Grenzvertrag von 1990 hat das nachgeholt.

Das stimmt. Aber als Deutschland wiedervereinigt wurde, wurde zunächst alles aus der BRD übernommen – bis auf diese Frage. Natürlich war das eine rein politische Entscheidung, keine rechtliche. Und das ­Gleiche betrifft das Gutachten des Bundestags zu den Repara­tionen. Trotzdem verstehe ich das ­natürlich. Wenn man jetzt an Polen zahlt, dann muss man auch an andere Länder ­zahlen. Und kein Land kann sich das leisten.

Was halten Sie von dem Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs?

Es ist wichtig. Innerhalb der deutschen Gesellschaft wird das Leid, das Polen zugefügt wurde, noch relativ wenig anerkannt. Der Holocaust und damit besonders die jüdischen Opfer stehen im Vordergrund. Andere Opfer werden irgendwie pauschal berechnet. Es geht nicht um eine Konkurrenz der Opfer, sondern darum, dass man die anderen Opfergruppen auch als solche anerkennt. In Deutschland ­erzählt man gern Einzelschicksale, die den Holocaust erlitten – auch von Homosexuellen. Doch auch die polnische Intelligenzija wurde verfolgt – und die polnischen Geistlichen. Die Polen werden oft vergessen.

Wie kann man das ändern?

Durch Debatten. Bevor der Bundestag ein Denkmal für die polnischen Opfer im ­Zweiten Weltkrieg beschloss, hat nur ein sehr ­kleiner Kreis darüber diskutiert. Für so etwas bräuchte es aber landesweite Debatten, unter­stützt etwa durch ein Bildungsprogramm. Unklar ist noch immer die Form des Denkmals. Und wir haben ja die Debatten um das Denkmal für die ermordeten Juden in Europa erlebt. Da wurde gefragt: Darf man auf so einem Stelenfeld laufen oder darin Versteck spielen? Solche Diskussionen kann man anregen und lebendig führen. Nur so bleibt ein Thema im Gespräch. Auch das Holocaustdenkmal hätte ohne die didaktische Aufarbeitung und die Bildungsprogramme so nicht funktioniert. 

Früher war man auch schon so weit

Bereits in den 1930er Jahren gab es erste Gespräche ­über die Gründung einer deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Sie endeten 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen. Wie konnte die Idee in dieser Zeit entstehen?

Schon in den Zwanzigerjahren stellte man sich vor, dass man internationaler denken muss. Der Völkerbund ist ja aus dieser Zeit. Vielleicht hätte so eine Kommission unter Historikern auch in den Dreißigerjahren funktio­niert, aber natürlich nicht ohne den politischen Willen, und schon gar nicht in einer Diktatur.

1972 kam es zur Gründung der Kommission, erst 2008 nahm das Projekt konkrete ­Gestalt an.

Polen und Deutschland haben in den 1970ern einen großen Beitrag zur weltweiten Ent­spannungspolitik geleistet. Willy Brandt zielte mit seiner Ostpolitik natürlich auf die Wiedervereinigung, da ging es nicht vorrangig um Wiedergutmachung. Aber er hat die Beziehungen zu den kommunistischen Ländern gepflegt, und man wollte auch über schwierige Themen sprechen. 1972 wurden die Ostverträge ratifiziert, damit hat sich wirklich etwas verändert. Die Gründung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission war eine politische Entscheidung. Dass man überhaupt zusammenkam und miteinander redete, war schon eine Leistung. Das ist umso beeindruckender, wenn man weiß, dass der damalige Vorsitzende auf polnischer Seite, Władysław Markiewicz, KZ-Überlebender war.

Schulbuch für europäische Geschichte. Der Titel "Europa. Unsere ­Geschichte" (auf ­Polnisch: "Europa. Nasza historia")

Wie unterscheidet sich "Europa. Unsere Geschichte" von anderen transnationalen Geschichtspublikationen, etwa dem deutsch-französischen Geschichtsbuch?

Es gibt eine Menge von binationalen Publikationen zur Geschichte, aber – soweit ich weiß – nur zwei Bücher, die an deutschen Schulen zum Einsatz kommen: unser Buch und das deutsch-französische Schulbuch. "Europa. Unsere Geschichte" kann an jeder Schule genutzt werden, weil es kein deutsch-polnisches, sondern ein europäisches Schulbuch ist.

Polnische Schulen haben einen Zusatzband zur polnischen Nationalgeschichte. Welchen Sinn hat ein europäisches Geschichtsbuch, wenn am Ende doch wieder nationale Narrative herangezogen werden?

Der polnische Verlag hat den Zusatzband selbst entworfen, um die Lehrpläne zu erfüllen. Ohne ihn würde das Buch nicht als Schulbuch zugelassen. Die deutsche Seite sollte auch einen Zusatzband zur Regionalgeschichte anbieten, etwa um Bayern mit einzubeziehen.

Bayern hat das Buch bisher nicht zuge­lassen, weil Inhalte zur bayerischen Landes­geschichte fehlen. In Deutschland ist Bildungs­politik Ländersache – schlecht für Ihr Buch?

Ja, man kann es nicht in bayerischen Schulen nutzen. Aber ich kenne ehrlich gesagt nur sehr wenige Lehrer, die nur mit einem Schulbuch unterrichten. Meistens bereiten sie ihre Arbeitsblätter selbst vor – aus verschiedenen Quellen und Büchern.

Wie haben Lehrer bisher auf das Buch reagiert?

Als europäisches Schulbuch ist es für ­alle ­Lehrer von Bedeutung. In vielen Klassen ­kommen ja Schüler aus verschiedenen ­Ländern zusammen. Dieses Buch bietet die Möglichkeit, die Geschichte so zu be­sprechen, dass man Kontroversen und die ver­schiedenen Perspektiven erkennt. Das ist für alle Lehrer in Deutschland interessant. Dafür müssen sie sich noch nicht einmal auf die polnische Geschichte konzentrieren. 

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