Nanna Heitmann / MAGNUM PHOTOS
Kleine Akte der Anarchie
Corona und staatliche Kontrolle schränken das Leben der Moskauer ein. Andrei, der Puppenspieler, schafft sich eigene Freiräume.
07.02.2021

Blick aus der Wohnung: Andrei erkundet den frischen Schnee. Unten: "Experimentelles Abendessen" in der Küche

Der Mann auf diesen Bildern ist mein Freund Andrei. Er ist Clown und Puppenspieler. Er sollte im Sommer 2020 an einer großen mehrmonatigen Retrospektive des ­russischen Performancekünstlers und Clowns ­"Slava" Polunin teilnehmen. Doch die wurde wegen des Coronavirus auf unbekannte Zeit verschoben. Andrei und ich leben zusammen im Zentrum von Moskau im zehnten Stock eines sowjetischen Wohnblocks in der kleinen Zweizimmerwohnung meiner Großmutter, die seit den 1960er Jahren hier lebte. Betritt man die Wohnung, fühlt man sich zurückversetzt in die Sowjet­union: alte Gemälde, Möbel aus den 1950er Jahren, und im Flur lugt an den Ecken unter der zerschlissenen ­gemusterten ­Tapete eine sowjetische Zeitung hervor, die damals beim Tapezieren verwendet wurde.

Weil Andrei zu Hause keine Puppen hat, bastelte er sich eine Baba Jaga, die Hexe aus slawischen Märchen

In Russland stoße ich oft auf Passivität und Zurück­haltung, wenn es um Politik geht. Immer wenn der Staat dem Leben der Menschen wieder eine Grenze mehr setzt, finden viele einen Weg, diese Einschränkungen zu umgehen, anstatt sich aktiv der Macht ­entgegenzustellen. In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, waren viele ­Menschen euphorisch und hofften, dass sich das Land zum ­Besseren wandeln würde. Doch dann wurden ­Proteste mit Gewalt unterdrückt, und heute haben viele ­resigniert. Sie sehen keinen Sinn darin, sich in Gefahr zu bringen, um für Veränderungen zu kämpfen, die ­unmöglich erscheinen.

"Vielleicht ruft die schleichende staatliche Unterdrückung bei den Menschen den Wunsch hervor, in eine andere Welt einzutauchen"

Improvisierte Theateraufführung am Wohnzimmertisch

Andrei kommt aus Sibirien. Wir beide haben dort in Tomsk studiert und uns so kennengelernt. Er und seine Freunde haben in Tomsk ihre eigene fantastische Welt aufgebaut: absurd, verrückt und bezaubernd. ­Inspiriert von russisch-avantgardistischen Künstlervereinigungen wie Oberiu oder dem französischen Regisseur und Dramatiker Antonin Artaud. Ihre Aufführungen sind geprägt von eigenwilligem Ausdrucks­tanz, Clownerie, Pantomime, Improvisation, Anarchie und Chaos. Diese lebendige und kreative Theater- und Kunstszene existiert versteckt in Kellern, Wohn­zimmern und kleinen Theatern und inspiriert mich sehr. Vielleicht ruft gerade die schleichende staatliche Unterdrückung bei den Menschen den Wunsch hervor, in eine andere Welt einzutauchen. Vielleicht ist das Theater deshalb so lebendig und wird so geschätzt.

Der Mond über unseren Nachbarhäusern und ein Schattenspiel

Als Dokumentarfotografin bin ich die Realistin neben meinem expressionistischen Freund Andrei. Manchmal fängt er unerwartet an, für sich zu tanzen, als würde ihn ein innerer Wind hin- und herwiegen, manchmal verkleidet er sich mit bunten Gewändern. Mal trägt er seinen Pullover als Hose und bringt mit ­seinen Grimassen alle zum Lachen. Andrei musiziert auch mit allem, was ihm begegnet, mit Brückenge­ländern, Stöcken, Rohren . . . Dafür braucht er keine Zuschauer, es ist einfach seine Art zu leben.

Privat

Nanna Heitmann

Nanna Heitmann, Jahrgang 1994, ist eine deutsch-­russische Fotografin. Sie lebt zurzeit in Moskau. In ihren ­Arbeiten setzt sie sich viel mit Einsamkeit und Isolation auseinander. Sie arbeitet unter anderem für "National Geographic" und das "Time Magazine" und wurde vielfach ausgezeichnet.

Ich konzentriere mich darauf, Dinge auf realistische Weise darzustellen und beschränke mich auf den Alltag und Themen, die die Menschen gerade umtreiben, Corona zum Beispiel, das letzte Steinkohlebergwerk in Deutschland oder das abgeschiedene Leben am Fluss ­Jenissei in Sibirien. Andrei versucht, mit Hilfe der Kunst seine innere Welt und seine Emotionen zum Vorschein zu bringen.

Andrei verwandelt Alltagsgegenstände: Lichtspiel mit einem Küchensieb

Als die Pandemie vergangenes Jahr auch nach Moskau schwappte, wurde ein Lockdown verhängt und von der Polizei streng kontrolliert. Man konnte nur im nächstgelegenen Supermarkt oder der Apotheke einkaufen. Für Metro-, Taxi- und Autofahrten brauchte man eine spezielle Genehmigung in Form eines QR-Codes. In der zweiten Welle hat die Politik keinen kompletten Lockdown verhängt, um die Wirtschaft nicht weiter zu belasten. Trotzdem braucht man einen QR-Code, um eine Bar zu betreten. Restaurants und Bars schließen um 23 Uhr, Museen sind geschlossen und Veranstaltungen mit mehr als 50 Menschen verboten.

Im Frühjahr habe ich angefangen, meine Kamera auf Andrei zu richten, und versuche, die Magie ein­zufangen, die er um sich herum erzeugt. Manchmal habe ich ihn bei seinen spontanen Aktionen in unserer Wohnung fotografiert, zum Beispiel, als er eines Abends mit einer Lampe durch ein Küchensieb wunderschönes Licht auf die Wand im Wohnzimmer geworfen hat, als würde man durch ein Kaleidoskop schauen. Manchmal schaffen wir uns gemeinsam eine surreale Welt in den eigenen vier Wänden.

Andrei und Fotografin Nanna Heitmann spielen Weltraumreise im Wohnzimmer

"Diese rebellischen Handlungen bringen uns Zuversicht. Wir brauchen sie mehr denn je"

Wir haben auch einen neuen Ort für uns entdeckt: das Dach unseres Wohnhauses. Hinter einer ge­schlossenen Tür im zwölften Stock befindet sich eine Treppe zum Dach. Wir haben uns im Internet ­Videos angesehen und gelernt, wie man Schlösser ohne ­Schlüssel öffnet. Solche "rebellischen" Handlungen und die Versuche, eine magische Welt um uns aufzubauen, geben uns ­Zuversicht. Kleine Akte der Auflehnung – wir brauchen sie mehr denn je.

In Moskau spüren wir, wie sich die staatliche ­Kontrolle zunehmend verschärft – auf den Straßen wurden Überwachungskameras installiert, und bald kann es eine vollständige Gesichtserkennung geben. Die ­Pandemie scheint der perfekte Spielplatz für einen autokratischen Staat zu sein. Im Juli 2020 räumte ein Referendum Putin die Macht bis 2036 ein. In den ­Wochen danach wurden kritische Journalisten und Historiker festgenommen. Es ist ein System, das mich mehr und mehr an George Orwells Roman "1984" erinnert. Deshalb ist es so wichtig geworden, Freiräume zu schaffen, in denen man immer noch träumen kann.

Clown und Puppenspieler Andrei auf dem Dach des Hauses, in dem er und die Fotografin wohnen. Im Hintergrund das Hotel Ukraina