Insolvenzrecht für Staaten
Insolvenzrecht für Staaten
Nicolas Villalobos / picture alliance
"Gesundheit ist wichtiger als der Schuldendienst"
Die Corona-Krise ist uns am deutlichsten in Deutschland vor Augen, klar. Aber welche Folgen hat das Virus in hoch verschuldeten Staaten? Kristina Rehbein von erlassjahr.de im Interview
Tim Wegner
22.04.2020

Mit Ihrer Initiative "erlassjahr.de" beobachten Sie die Entwicklung in Ländern, die hoch verschuldet sind. Wie war die Lage vor Corona?

Kristina Rehbein: In unserem Schuldenreport 2020 – er war vor der Corona-Krise fertig – haben wir 124 Länder identifiziert, die kritisch verschuldet waren. Das betrifft nicht nur die ärmsten Länder, sondern zum Beispiel auch Argentinien, das zur Gruppe der G20 gehört, also zu den führenden Industrie- und Schwellenländern. Zuletzt stand neben Argentinien auch der Libanon im Fokus. Beide hatten ihre Zahlungen vor Corona bereits einstellen müssen. Wir steuerten schon vor dem Virus auf die nächste globale Schuldenkrise zu.

Unter Staatsschulden kann sich jeder etwas vorstellen, aber bei wem verschulden sich Staaten? Wer sind die Gläubiger?

Früher waren Entwicklungsländer in der Regel bei anderen Staaten verschuldet, also vor allem bei westlichen Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Dazu kamen noch Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Der Anteil dieser öffentlichen Schulden lag 1975 etwa bei zwei Drittel der Gesamtschulden, die Entwicklungs- und Schwellenländer zu begleichen hatten. Dieses Verhältnis hat sich stark verändert, Entwicklungsländer sind mittlerweile zu deutlich mehr als die Hälfte bei privaten Gläubigern verschuldet. Auch bei den öffentlichen Gläubigern gibt es eine Veränderung: Die sogenannten neuen Geber sind im Vergleich zu den traditionellen Gebern deutlich wichtiger geworden – vor allem China, aber auch Länder wie Indien oder Brasilien. Übrigens weiß man gar nicht sicher, was die Welt China schuldet, aber an China geht kein Weg mehr vorbei. 

Kristina Rehbein

Kristina Rehbein hat Kulturwissenschaften und Global Development Management studiert. Heute arbeitet sie im Entschuldungsbündnis "erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung e. V.". Das Bündnis setzt sich für Entschuldungsinitiativen ein.

Und an Deutschland? 

Es gibt noch Länder, die bei Deutschland verschuldet sind, aber es werden weniger. Das hat damit zu tun, dass die Politik nun schon jahrzehntelang einem Leitsatz gefolgt ist: privat vor Staat. Man hat viel dafür getan, dass das Investitionsklima in den Schuldnerstaaten besser wurde, damit private Akteure diesen Ländern Geld leihen und dort investieren.

Und das ist dann auch geschehen?

Ja, das ist eindeutig der Trend, den wir beobachten: Gerade auch ärmere Staaten konnten sich in den Jahren vor der Corona-Krise extrem leicht Geld auf den Kapitalmärkten leihen. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass der Anteil an Forderungen privater Gläubiger – das können Fonds sein, Alterskassen, kommerzielle Banken – so dramatisch gestiegen ist. Was wiederum auch daran liegt, dass durch die niedrigen Zinsen seit der Bankenkrise 2008/09 in Industriestaaten sehr viel privates Geld vorhanden war, das keine Anlagemöglichkeiten mehr gefunden hat. Im globalen Süden waren ganz andere Renditen zu holen.

Und dann kam Corona ...

… und Entwicklungsländer können ohnehin viel weniger Geld als reiche Staaten im globalen Norden in ihre Gesundheitssysteme stecken. Ganz zu schweigen von den Ressourcen, die Deutschland jetzt in Kurzarbeit, Unternehmensrettungen oder Konjunkturprogramme stecken kann. Infolge der Krise ist die Weltwirtschaft in einen Abschwung gerutscht. Lieferketten haben sich verlangsamt, deshalb gibt es auch weniger Nachfrage nach Rohstoffen, die häufig aus Entwicklungsländern kommen. Der Tourismus liegt komplett brach. Es fehlen also Einnahmen, die arme Länder dringend bräuchten, gerade für die Corona-Kranken. IWF und G20 haben mit verschiedenen Maßnahmen reagiert.

"China und die USA an Bord zu bekommen, war historisch"

Inwiefern?

Am 13. April hat der IWF beschlossen, 25 armen Ländern den Schuldendienst, der im kommenden halben Jahr angefallen wäre, zu streichen. Das ist ein guter erster Schritt, aber der Teufel steckt im Detail, denn es geht ja erst mal nur um 25 Länder. Und der Fonds, der die Streichungen abdecken soll, umfasst nur 500 Millionen Dollar. Wenn er ausgeschöpft ist, war es das. Die IWF-Mitgliedsländer sind daher aufgerufen, die Gelder aufzufüllen, damit der IWF den Zeitraum, in dem er den 25 armen Staaten Schulden streichen kann, noch verlängert.

Die Krise führt aber gerade zu einer Rückbesinnung auf das Nationale. Wer ist da schon bereit, mehr Geld an eine internationale Organisation zu überweisen?

Ich bin da gar nicht so pessimistisch. Die Entscheidung der G20 – fast parallel zu der des IWF – ist bemerkenswert: Alle G20-Mitglieder haben sich entschieden, die erwarteten Zahlungen von 77 Schuldnern bis Jahresende auszusetzen. Das ist historisch, weil es möglich war, China und die USA an Bord zu bekommen. Durch diesen Beschluss werden nach unseren Schätzungen zwölf Milliarden Dollar frei. Wieder steckt der Teufel im Detail: Es ist nur eine Aussetzung, die den Staaten aber schnell Luft zum Atmen verschafft – das Geld war im öffentlichen Haushalt ja für den Schuldendienst eingeplant und ist nun sofort verfügbar. Ohne Schuldenstreichung wird das Problem aber erst mal nur in die Zukunft verschoben – die Krise kommt dann, wenn die Staaten den angesichts von Corona für sie untragbaren Schuldendienst nachzahlen müssen.

Betrifft das nur bilaterale Schulden? Oder auch private? Wenn nun zum Beispiel auch westliche Banken das Geld, das sie verliehen haben, nicht bekommen, droht ja gleich wieder eine Finanzkrise.

Die G20 können nur über ihre eigenen Forderungen entscheiden, die privaten Gläubiger fehlen noch. Aber die G20 haben an sie appelliert, dem Beispiel zu folgen und ebenfalls den Schuldendienst auszusetzen. Und das Institute of International Finance, in dem private Gläubiger zusammengeschlossen sind, hat schon signalisiert, diesen Aufruf wohlwollend zu prüfen. Dann würden noch mal viel mehr Mittel frei, denn ein Land wie Ghana zahlt zweistellige Zinsraten an private Gläubiger. Und daran, dass die Privaten auch mitmachen, haben die G20 nicht nur wegen der höheren Einsparungen in den Schuldnerländern ein Interesse.

"Die Streichung der Zahlungen ist zum Glück an keine Bedingungen geknüpft"

Sondern?

Wenn nur die Staaten verzichten, die privaten Gläubiger aber nicht, könnte das dazu führen, dass die verschuldeten Staaten die eingesparten Gelder dafür nutzen müssen, die Privaten auszuzahlen. Das wäre natürlich nicht fair, weil letztlich Banken und andere Investoren mit öffentlichen Geldern gerettet würden.

Wie groß schätzen Sie diese Gefahr ein?

Es wird private Gläubiger geben, die vor Gerichten Zahlungen einfordern. Solche Klagen würden in aller Regel vor Gerichten in London und New York verhandelt, weil hier viele Finanzunternehmen und Banken ihren Sitz haben. Es gibt bereits Ideen dazu, was nötig ist, um solche Klagen zu verhindern. Wenn man in New York und London Gesetze erlässt, dass private Gläubiger angesichts von Corona nicht vor Gericht ziehen können, um Forderungen einzutreiben, wäre allen geholfen. In Großbritannien kann man schon auf die Rechtsprechung gegen sogenannte Geier-Fonds zurückgreifen. Daran kann man anknüpfen.

Über Jahrzehnte gab es immer wieder Streit darüber, dass IWF und Weltbank ihre Kredite an arme Länder an Bedingungen knüpfen.

Die Bedingungen gibt es noch, Zahlungen sind klassischerweise an die Deregulierung von Finanzmärkten oder an Handelserleichterungen geknüpft. Seit einigen Jahren wird mehr Rücksicht auf soziale Sicherungssysteme genommen, aber man muss dieses Thema der Konditionalität sicher immer noch kritisch beobachten. Die Streichung der Zahlungen, die der IWF kürzlich angesichts von Corona beschlossen hat, ist zum Glück an keine Bedingungen geknüpft. Die G20 wiederum erwarten, dass die Gelder, die nun frei werden, weil der Schuldendienst ruht, auch in den Gesundheitssektor fließen. Das ist ja auch sinnvoll. Die Frage ist, welche Bedingungen IWF und Weltbank definieren, wenn absehbar Notkredite beantragt werden. Da müssen wir hinschauen.

"Niemand würde mehr Kredite vergeben, wenn irgendwann alle Schulden erlassen werden"

Wie können Sie als Nichtregierungsorganisation Einfluss nehmen?

Wir sind direkt in Kontakt mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern, etwa im Bundesfinanzministerium oder im IWF. Mit denen sprechen wir über Kritik, geben Analysen weiter, machen Alternativvorschläge. Auch vor der G20-Sitzung war das so – mit Erfolg, wie wir nun sehen. Weltweit gibt es Erlassjahrbewegungen, die sich zusammengeschlossen haben. Da ist eine große Bewegung entstanden, die sich abstimmt. Das ist sehr erfreulich.

Warum nutzt man nicht einfach diese aktuelle und beispiellose Krise dafür, den armen Ländern alle Schulden zu erlassen?

Grundsätzlich sind Schulden nichts Verkehrtes und ein normales Werkzeug der Entwicklungsfinanzierung. Niemand würde mehr Kredite vergeben, wenn man als Gläubiger davon ausgehen müsste, dass den Schuldnern irgendwann ohnehin alle Schulden erlassen werden. Der Kreditkreislauf funktioniert nur, wenn Gläubiger Vertrauen haben, dass sie ihr Geld bekommen. Leider gibt es aber immer wieder Krisen, in denen es möglich sein muss, dass Schulden schnell gestrichen werden können. Aber einen Mechanismus dafür gibt es bei Staatsschulden immer noch nicht. Insolvenzgesetze sind nur in nationalen Rechtssystemen definiert, wo sie für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen gelten. Wir brauchen dringend ein Staateninsolvenzverfahren. Gerade in dieser Krise sehen wir ja ganz deutlich: Wir müssen sicherstellen, dass die Gesundheit der Bürgerinnen oder Bürger Vorrang vor dem Schuldendienst erhält. Nach Corona werden viele Länder ohnehin nicht mehr in der Lage sein, ihre Schulden zu begleichen. Jetzt ist die Gelegenheit, einen berechenbaren Rahmen mit klaren Regeln für alle zu verhandeln. Dann wissen alle, woran sie sind – die Gläubiger, die Schuldner und die Menschen.

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