Bitte lauter nachdenken!
Unser Kollege hat seine Kinder noch nie so oft angemeckert wie derzeit – und hofft gerade mit Blick auf die Familien, dass die Politik ihre Szenarien für die Zukunft nicht nur im stillen Kämmerlein entwickelt.
Tim Wegner
03.04.2020

Meine Kinder sind vier, sechs und zehn Jahre alt. Als ich sie neulich nachmittags mit zum Einkaufen genommen habe, erzählte die Sechsjährige der Kassiererin ungefragt: "In sechs Tagen werde ich sieben!" Und setzte hinterher, dass sie leider nicht feiern könne, es dürfe ja niemand kommen.

Die Frau an der Kasse lächelte hinter ihrer Schutzwand aus Plexiglas. Aber die Blicke vieler Kunden deutete ich an diesem Tag als genervt bis irritiert: Warum muss der Typ hier nun drei Kinder durchschleppen? Was ist, wenn die infektiös sind?

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Vielleicht habe ich mir das ja auch nur eingebildet. Aber soll ich sie draußen festbinden, bis ich fertig bin? Oder zu Hause vor den Fernseher setzen? Dort hocken sie ohnehin viel zu oft, seit Schule und Kita geschlossen sind - seit mehr als zwei Wochen. Also hatte ich ihnen vor dem Einkaufen eingetrichtert: "Wir bleiben zusammen! Wir sind eine Gruppe! Wir halten Abstand von den anderen Menschen!"

Sie haben sich daran gehalten. Sie reden oft von "Corona". Auch der Kleine macht das schon. Sie wissen, dass das Virus uns einengt. Meistens sind sie ganz lieb. Und trotzdem habe ich meine Kinder noch nicht so oft angemotzt wie dieser Tage. Manchmal ohne Grund, weil die Nerven blank liegen, jetzt schon.

Ich versuche dann oft, zu relativieren. Andere trifft es doch noch härter! Eine Kollegin – sie hat auch drei Kinder – erzählte mir, dass sie Gymnasialaufgaben mit der ältesten Tochter bearbeiten muss, die mitten in der Pubertät steckt. Wir nur Grundschulaufgaben, das ist doch was! Einfach ist es trotzdem nicht.

Hilft uns die "Goldene Regel" weiter?

Manchmal frage ich mich, ob man in der Corona-Krise Politik mit der Goldenen Regel machen könnte: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!" (Matthäus 7, 12)

Niemand möchte seine Lieben, seine Nachbarn, nicht mal seine Feinde so leiden sehen, wie es die Menschen in Italien tun, die - bäuchlings liegend - beatmet werden müssen. Es waren wohl auch diese Bilder, die das "heute journal" am 17. März sendete, die alles verändert haben - auch in Deutschland. Weil auch hierzulande die Intensivbetten in den Krankenhäusern vielleicht nicht ausreichen, wenn sich zu viele Menschen auf einmal infizieren, müssen wir uns an Regeln halten, allen voran an die Kontaktsperre – auch die Kinder. Bis zum 19. April wird sich daran nichts ändern.

Der Verzicht auf Kontakte und Nähe ist ein Akt der Solidarität. Aber weil alles geschlossen ist, was Nähe erfordert, entsteht ein riesiger wirtschaftlicher Schaden. Schon das sorgt für menschliche Dramen und Existenzängste. Hinzu kommt die begründete Sorge um häusliche Gewalt, weil niemand mehr den Familien beistehen kann, die schon in normalen Zeiten Schwierigkeiten haben, ihre Konflikte fair zu lösen. Ältere und vorerkrankte Menschen leiden in der Isolation. Eltern versuchen verzweifelt, den Kindern und der Arbeit gerecht zu werden. Ich kenne eine Mutter, die morgens von 5.30 bis 9 Uhr arbeitet, das Heimbüro dann bis 18 Uhr ihrem Mann überlässt, um sich um ihre Kinder zu kümmern und Hausarbeit zu machen, ehe sie von 18 bis 21 Uhr wieder an den Schreibtisch zurückkehrt.

Etwa 1,5 Millionen Kinder in Deutschland leben in Haushalten, die auf Hartz IV angewiesen sind, die wenigsten unter ihnen dürften einen Garten vor der Tür haben, in dem sie sich austoben können - und die Spielplätze haben zu. Diese Kinder sterben nicht, aber auch sie leiden, und wie groß die Spätfolgen sein werden, kann heute noch kein Mensch wissen. 

"Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!" – Ich beneide die Politikerinnen und Politiker nicht, die solche Dilemmata gegeneinander abwägen müssen. Aber wir leben in einer Demokratie, und die lebt auch davon, dass Entscheidungen transparent und nachvollziehbar sind. Das hat die Kanzlerin in ihrer viel beachteten und sehr gelobten Ansprache am 18. März auch gesagt.

Die Debatte über eine Exitstrategie ist schräg

Bald drei Wochen ist das her, und ich verstehe vollkommen, dass es bis zum 19. April keine Lockerungen geben kann. Gerade mit Blick auf die Kinder und Eltern bin ich aber trotzdem irritiert, wie schräg die Debatte über eine Exitstrategie läuft: Sie ist nämlich vor allem eine Debatte darüber, dass die Debatte unnötig sei, weil die Regeln ja bis zum 19. April feststehen. Er rede nun nicht über irgendwelche Lockerungen, sagte Kanzleramtsminister Helge Braun vor einer Woche dem "Tagesspiegel". Ja, gut! Aber was ist ab dem 20. April? Winfried Kretschmann - ein Grüner, ein liberal denkender, besonnener Mann - entfuhr gegenüber dem Deutschlandfunk zu Beginn dieser Woche der Satz: "Es verbieten sich Spekulationen über eine Lockerung der Regeln."

So schwierig die Aufgabe der Politikerinnen und Politiker auch ist: Sie dürfen sich nicht in eine Debatten- und Politikverweigerung flüchten. Diverse Grundrechte sind innerhalb von Tagen außer Kraft gesetzt worden. Wann, wenn nicht jetzt, in der erzwungenen Ruhe, soll man denn darüber reden, wie es nach dem 19. April weitergehen soll?

Demokratien leben von Diskussionen, nicht von Verordnungen

Wovon gehen die Expertinnen und Experten aus, welche Szenarien haben sie Kopf? Erkennbar wird langsam, dass die Bundesregierung einen Punkt erreichen will, an dem sich die Zahl der registrierten Neuinfektionen nur noch nach mehr als zehn Tagen verdoppelt. Aber das wären eben auch nur die registrierten und getesteten Fälle. Wie gut ist also die Datenlage wirklich?

In dieser Woche konnte, wer lange wach blieb, erleben, wie sehr sich die Sicht der Virologen und die der Experten unterscheidet. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck, der den Covid-19-Ausbruch im Landkreis Heinsberg erforscht, ließ bei Markus Lanz erkennen, dass das Virus auf Oberflächen sehr schnell in einen Zustand verfällt, in dem es nicht mehr infektiös sein kann. Einen Abend später warnte Karl Lauterbach - er ist nicht nur Politiker, sondern auch Epidemiologe - beim selben Gastgeber die Zuschauer davor, dass auch junge Menschen schwer erkranken können. Fast zeitgleich klang der Epidemiologe und Gesundheitsökonom Stefan Willich im Ersten bei Sandra Maischberger so, als könne es ausreichen, in Zukunft vor allem die älteren Menschen zu schützen.

Wer berät die Regierung?

Wenn Meinungen zu einem Ausnahmezustand, in dem wir derzeit leben, so weit auseinandergehen, wüsste man doch wenigstens gern: Wer berät die Bundesregierung? Wer informiert die Ministerpräsidenten? Auf wessen Rat hören die vielen Gesundheitsämter in Deutschland? Inwieweit vernetzt das Robert Koch-Institut die vielen, vielen Expertenmeinungen? Wer wägt ab?

Gibt es eine Aussicht, dass Kitas und Schulen nach den Ferien wieder öffnen? Oder wenigstens die Spielplätze, damit Kinder mit Altersgenossen zusammenkommen? Alle haben verstanden, dass es jetzt nicht geht. Aber wie es nach dem 20. April weitergeht, betrifft alle. Auch die Kinder. In einer Demokratie müssen alle Bescheid wissen können, wie diese Entscheidung zustande kommt.

Denkt bitte lauter nach, das seid ihr (auch) den Familien schuldig.

 

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