Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe: Pro und Contra
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe: Pro und Contra
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Freiheit und Vertrauen am Ende des Lebens
Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe gekippt. Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, heißt es im Urteil. Die Theologinnen Isolde Karle und Stefanie Schardien bewerten das sehr unterschiedlich.
Foto: Michael Hudler
Stefanie SchardienARD/BR/Markus Konvalin
11.03.2020

Pro

von Isolde Karle

In den Grenzfällen des Lebens ist es nicht möglich, zweifelsfreie Gewissheiten zu kommunizieren. Es gilt, offen zu sein für die Widersprüchlichkeiten des Lebens. Dies bedeutet auch, dem mit Respekt zu begegnen, der sich in unerträglichem Leid für den Tod entscheidet und sich das Recht nimmt, sein Sterben mitzugestalten.

"Das Risiko einsamer Suizide wird dadurch gesenkt"

Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, Menschen, die mit ihrer Kraft am Ende sind, deren Schmerzen medizinisch nicht in den Griff zu bekommen sind, zu helfen, die Gabe des Lebens zurück in Gottes Hände zu legen, ohne dass sie sich sündig fühlen müssen. Oder allein gelassen werden. Darüber ­hinaus wird es viele Menschen beruhigen, um einen letzten Ausweg zu wissen, ohne diesen am Ende deshalb auch in Anspruch zu nehmen. 

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil die Würde und Selbstbestimmung des Menschen gegen staatlichen (und kirchlichen) Paternalismus verteidigt. Es stützt damit zugleich die Haltung von zahlreichen Christinnen und Christen, die sich durch die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz in dieser Sache nicht vertreten fühlen. 

Foto: Michael Hudler

Isolde Karle

Isolde Karle, geboren 1963, ist Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Gerade ist in der Evangelischen Verlagsanstalt ihr Buch "Praktische Theologie, Lehrwerk Evangelische Theologie" erschienen (744 Seiten, 58 Euro). 


Das Urteil ermöglicht ein vertrauensvolles Verhältnis von Arzt und Patient, indem es die ärztliche Suizidhilfe entkriminalisiert, Ängste (auf Arztseite) reduziert und Gespräche über Sterbewünsche ermöglicht. Das Risiko einsamer und gewaltsamer Suizide wird dadurch signifikant gesenkt. Die Belas­tung für Angehörige, die bislang als Einzige straffrei Suizidhilfe leisten durften, wird überdies deutlich reduziert. 

Das Gericht hat in seinem Urteil zugleich deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber nun gefordert ist, die Sterbehilfe mit Regeln zu versehen, die einem Missbrauch entgegenwirken. Die Kirchen täten gut daran, diesen Weg mitzugehen, den Spielraum des Urteils in einem humanen Sinn zu nutzen und ihrerseits zur Suizidprävention und zu einem Ausbau der Sterbebegleitung (durch Palliativ­medizin und Hospize) beizutragen. 

 

Contra 

von Stefanie Schardien

Das Urteil bedroht die Freiheit der Einzelnen – besonders die Freiheit der Schwächsten. Suizid und die Suizidhilfe dürfen kein Normalfall werden, und doch braucht es Ausnahmen für Notfälle. Die bisherige Regelung hat dies ermög­licht: Sie hat die Geschäftsmäßigkeit der Sterbehilfe verboten und zugleich die nicht geschäftsmäßige Sterbehilfe straffrei gestellt. Unbenommen: Dieser Spielraum von § 217 wurde zu wenig genutzt. Seine Abschaffung aber kehrt die Beweislast um, zumal das Gericht erschütternd weit geht und den Personenkreis der Sterbewilligen nicht auf Schwerstkranke einschränkt. Der Wunsch zu sterben genügt – auch wenn ihn Menschen äußern, die unter Depressionen oder Mobbing leiden.

"Alte und Arme fürchten am meis­ten, nicht mehr selbst bestimmen zu können"

Das Bundesverfassungsgericht hat das Selbst­bestimmungsrecht über alle gewichtigen Einwände gesetzt: über die Erfahrungen der Niederlande, in denen immer mehr Menschen immer früher und bei immer mehr Diagnosen, besonders bei Demenz, ihren eigenen Tod verlangen. Über die Erfahrungen mit den zweifelhaften, oft juristisch verfolgten Methoden der Schweizer Organisationen wie Dignitas. Es gibt keinen Grund zur Annahme, in Deutschland werde sich alles ganz anders entwickeln.

Stefanie SchardienARD/BR/Markus Konvalin

Stefanie Schardien

Stefanie Schardien, geboren 1976, ist Pfarrerin in Fürth und "Wort zum Sonntag"-Sprecherin. Als chrismon-Kolumnistin ­beantwortet sie kniffelige Lebensfragen. Zum ­Thema Sterbehilfe hat sie mehrere ­Bücher heraus­gegeben.

Auch der mögliche soziale Druck wird hintangestellt: Dabei ist die Verwandlung der Option von einem "Ich könnte gehen" zu einem "Warum gehst du nicht?" nur ein paar Engpässe im Gesundheitswesen und populistische Parolen weit entfernt. Eine Studie zur "Angst vorm Sterben" belegt: Alte und Arme fürchten am meis­ten, bei solchen Regelungen am Ende gerade nicht mehr selbst bestimmen zu können. Unrealistisch? Wie schnell vermeintliche gesellschaftliche Grund­überzeugungen kippen, hören wir ja gerade täglich in den erstarkenden rechten Parolen. 

Die Kirchen, die all das mitbedenken, seien unbarmherzig in ihrer Kritik, heißt es jetzt. Was für ein unanständiger Vorwurf an jene, die sich seit langem für Palliativmedizin und Hospizarbeit starkmachen. Das Urteil ist ein Hackentritt für all jene, die in diesen Bereichen Sterbenden ein würdiges Lebensende ohne Druck – eben in Freiheit – ermöglichen.

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