Kirche? Ach, du lieber Gott...
Kirche? Ach, du lieber Gott...
Anne-Sophie Stoltz
Kirche? Ach, du lieber Gott...
Den jungen Familien in Neubaugebieten fehlt die Kirche nicht. Ein paar ­experimentierfreudige Pfarrerinnen und Pfarrer gehen trotzdem hin – und am Ende sind beide Seiten überrascht. Chrismon hat sich an fünf Orten umgeschaut.
Tim Wegner
26.02.2020

Sonntags wird hier der Rasen gemäht, in der "Heidesiedlung" Riensförde, dem Neubaugebiet von Stade, das bald 2000 Menschen Heimat bieten soll. Manche wurden noch getauft, sind aber schon lang ausgetreten, andere hatten noch nie Kontakt. Eine Kirche fehlt hier niemandem. Aber nun ist eine evangelische Pfarrerin herge­zogen, sie wohnt zur Miete in einem der Reihenhäuser, Sabine Ulrich, 42. Sie darf im Auftrag der evangelischen Kirche fünf Jahre lang ausprobieren, wie sie den Menschen hier "dienen" kann. Genau so sagt sie das.

Sie ist eine zupackende Frau, schlagfertig zudem. Sagt jemand: "Mit Kirche hab ich’s nicht so", antwortet sie auch mal scherzhaft: "Das kann man ändern." Meist fragt sie einfach nach: "Warum nicht, was ist der Grund?" Häufig heißt es: "Der Pfarrer damals..." Dann antwortet sie gern: "Hast du eigentlich schon mal jemandem eine zweite Chance gegeben? Ist Kirche nicht mehr als diese eine Person?"

Anfangs ist sie nur herumgelaufen, mit Schepsi, dem Terrier (es dauerte anderthalb Jahre, bis sie auch einen Raum hatte, im neuen Altenzentrum). Sie zeigte sich, sprach Leute an, ließ sich von hohen Gartenmauern nicht abschrecken, hörte zu, wurde Mitglied in der örtlichen Facebook-­Gruppe, wo man Baumaterial tauschte. Bot an gleich mehreren Abenden Later­nenumzüge an – was die Eltern dankbar aufnahmen, denn sich ­alleine durch die Straßen zu singen, ­fanden sie zu peinlich. Hilfreich war da, dass auch die Pastorin zwei Kinder hat.

Freitagnachmittags zieht Sabine Ulrich einen Bollerwagen mit selbst gebackenem Zitronenkuchen auf den Spielplatz. Über die Trampelpfade in der wilden Wiese kommen alsbald Kinder gerannt und Erwachsene eher beiläufig herangeschlendert. Man redet über die bevorstehende Einschulung, was halt so obenauf liegt. Manchmal aber auch über den Tod eines Angehörigen. Weil man sich da von der Kirche noch am ehesten Antworten erhofft, vermutet Ulrich, oder zumindest erhofft, dass man drüber reden kann. Ganz langsam entwickelt sich eine Gemeinschaft.

Huch, eine Pfarrerin!

Die Menschen fänden es faszinierend, dass sie Pfarrerin sei, aber auch ein bisschen "huch". Am Anfang ­sprachen sie bei Lebensfragen lieber ihren Mann an (der nicht Pfarrer ist): Sag mal, wie siehst du das denn, du bist doch mit einer Pastorin ver­heiratet! Mittlerweile kommen die Menschen direkt zu ihr.

Fresh X nennen sich solche neuen und überraschenden Formen von ­Gemeinde und Kirche. Den Namen hat man aus Großbritannien über­nommen, wo die anglikanische Kirche schon länger ausprobiert, wie man Menschen erreichen kann, wenn die nicht in die Kirche kommen.

Stade: Kommen die Leute nicht zur Kirche, geht Pastorin Sabine Ulrich eben zu den Leuten – auf den Spielplatz, ins Café . . .

Donnerstags sitzt Sabine Ulrich im Bäckerei-Café im Stader Stadtteil Ottenbeck, einem etwas älteren Neubauquartier, für das sie ebenfalls zuständig ist. Hier sind noch einige Menschen Mitglied in der Kirche, sie fühlen sich aber nicht zugehörig. ­Ulrich hat ein Schild an die Tischkante gestellt: "Setzen Sie sich gerne zu mir. Ich bin Pastorin Ulrich und freue mich auf ein Gespräch mit Ihnen." Man muss nicht mal seinen Namen nennen; das haben schon manche so gehalten, die eine Frage hatten.

Und wenn mal keiner kommt - peinlich?

Und wenn mal keiner kommt, ist das nicht peinlich? Nein, gar nicht, sagt Ulrich. Vielleicht weil ihr schon so viele Menschen gesagt haben, wie toll sie das finden, dass eine Pastorin dasitzt, einfach so, dass die Kirche Zeit hat. So wie die Frau, die donners­tags immer Brot kauft. Nie setzt sie sich dazu, aber jedes Mal flötet sie durch den ganzen Raum: "Oh, sie ist da, jetzt ist mein Tag schön!"

Die Pastorin läuft den Menschen nicht hinterher, aber sie ist ansprechbar. Und sie fordert Menschen auch heraus. Etwa den jungen Vater, der ausgetreten ist, nur seine Frau ist noch Kirchenmitglied, die beiden wollten das Kind taufen lassen. "Jetzt stehst du vor mir", sagte Sabine Ulrich zum Vater, "was machste jetzt?" Sie hat das Kind dann getauft, im Regenrückhalteteich in Riensförde, aber die Tauffamilie musste alles selbst or­ganisieren: die Lieder und den Taufspruch auswählen, Bänke aufstellen, dekorieren – "da war er glücklich mit dabei". Sie selbst kam nur mit ihrem Köfferchen dazu, mit Talar und Bibel.

Sabine Ulrich würde niemals sagen: Wir bringen das, was die Menschen suchen. "Die Menschen, die ich treffe, sind nicht suchend; sie wollen auch nicht abgeholt werden, dann müssten sie ja woanders hin. Sie sind ziemlich glücklich mit ihrem Leben." Aber dankbar möchten manche sein. Das greift sie gerne auf: gemeinsam entdecken, was ihnen geschenkt ­worden ist.

Ein kleines Projekt, ja, aber wichtig, sagt Hans-Hermann Pompe von der Zukunftswerkstatt der Evangelischen Kirche in Deutschland namens "midi". Die Kirche müsse manches neu ­lernen, was sie verloren habe. Zum Beispiel das Rausgehen. "Wir ­bauen ein Haus hin, lassen die Glocken ­läuten oder versuchen, uns in den ­sozialen Netzwerken zu positionieren, und denken, die Leute kommen schon. Sie kommen aber nicht. Sie kommen erst, wenn sie schon eine Beziehung haben. Also: Verknüpft euer Leben mit dem Leben der anderen! ­Jesus hat auch nicht gesagt: Ich sitze im ­Himmel und läute eine Glocke, und wer kommen will, kann ­kommen. Sondern er ist hingegangen."

Segensfeier mit Bier im schicken Quartier

So wie Pastorin Corinna Schmidt in der Hamburger Hafencity. Sie geht dorthin, wo viele Menschen sind. Ganz selbstverständlich macht sie kurze "Segensfeiern", ob nun das Kulturfestival der Bierbrauerei Duckstein startet oder eine neue Brücke eingeweiht wird. Die Hafencity ist ein neues Quartier gegenüber der Innenstadt, zwischen aufgegebenen Hafenbecken. Bald sollen 15 000 Menschen hier wohnen und noch viel mehr ­arbeiten. Die nächste Innenstadtkirche kann man zu Fuß erreichen. Wenn man denn wollte. Unter den derzeit etwa 5000 Bewohnern sei der Anteil an Kirchenmitgliedern deutlich geringer als im sonstigen Hamburg, sagt Corinna Schmidt.

So ganz ohne christliche Präsenz sollte die Hafencity aber auch nicht sein, also gründeten 17 Kirchen unter­schiedlicher christlicher Konfess­sionen das "Ökumenische Forum". Das sitzt in einem Neubau aus rotem Backstein an der Shanghaiallee. Rechts ist die Tür zum Café "ElbFaire", links die zur Kapelle, in der es werktags Mittags- und Abendgebete gibt. "Aber es kann sein", sagt die Pastorin, "dass Menschen fünf Jahre im Café am Mittagstisch teilnehmen und noch nie in der Kapelle waren."

Ein gewisses spirituelles Bedürfnis nimmt die Pastorin dennoch wahr. Etwa wenn der Veranstalter des Duckstein-Festivals sage: "Bitte auch diesmal wieder die Segensfeier!" Damit alles gutgeht, so die Begründung. Gottes Segen als Unfallversicherung? Eigentlich bedeutet der Segen erst einmal nur den Zuspruch, dass Gott einen begleiten möge. Andererseits, sagt Corinna Schmidt, passiere bei den Menschen was – wenn man den Ritus gut erkläre und nicht so "churchy" spreche. Und sie erzählt, was beim letzten Mal abging in der knappen Viertelstunde.

Karlsruhe: Im Park eine Kerze anzünden für das, was einem gerade wichtig ist. "Mobile Kirche" nennt das Pfarrerin Nicole Schally

Der clowneske Moderator kün­digte sie bei der Festivaleröffnung so an: Und nun kommt wieder unsere geschätzte Pastorin, die uns den göttlichen Funken vom Himmel bringt! Auftritt Pastorin. Die Band spielte ­einen Song, in dem es um "Grace" ging, also um Gnade. Daran knüpfte sie an: Was für ein pralles Wort, was da alles drinsteckt! Zuneigung, Nachsicht, Wohltat ohne Gegenleistung... Gnade sei ein Liebeserweis Gottes.

"Das war richtig Gänsehaut"

Dann leitete sie den "Gnadengruß" an. Man wende sich einander zu und sage: "Gnade sei mit dir." Und die Menschen unter dem offenen Zeltdach machten mit. Einige etwas überrascht, manche ein bisschen verschämt, auch ernst. In der einen Hand hielten sie das Bierglas, die andere reichten sie dem Nachbarn. "Das war richtig Gänsehaut", sagt Schmidt, die ab April als Krankenhausseelsorgerin arbeitet.

Geht es noch niedrigschwelliger? Kaum. Aber womöglich dezenter. Bei Pfarrerin Nicole Schally in Karls­ruhe muss man nicht beten, man muss überhaupt nichts tun. Man darf sich an den Spuren ihres Wirkens er­freuen, während sie mit dem Rad schon um die nächste Ecke gesaust ist, um an weiteren Bänken oder Spielstraßenschildern Wäscheleinen aufzuhängen mit Briefchen dran. "Weihnachten zum Mitnehmen" oder auch "Valentinstag zum Mitnehmen" steht auf den Kuverts. Abends holt sie die Leinen wieder ein, dann ist alles abgepflückt. Auch die Kärtchen mit dem Reisesegen vor den Sommer­ferien – "Gott möge dich begleiten auf all deinen Wegen" – werden gern mitgenommen.

"Mobile Kirche" nennt Nicole Schally, 50, solche Aktionen. Die Pfarrerin hat eine halbe Stelle für zwei Neubaugebiete, darunter der Karlsruher City Park in der Südstadt-Ost. Früher war da das Bahnausbesserungswerk, nun ­wohnen hier rund 5000 ­Menschen – junge Familien, aber auch ältere ­Menschen, die in die Stadt zurückge­zogen sind. Die Kirche hat einen ­kleinen Laden angemietet, zwischen Reise­büro und Bäckerei in einem der dicht an dicht stehenden Wohnblocks. "Senf­korn – Evangelische Ladenkirche" steht auf dem Schaufenster. Ein Angebot für alle Menschen im Quartier, nicht nur für Kirchenmitglieder.

Zum Beispiel für Lukas, 38, der am Nachmittag nach seiner Frühschicht als technischer Leiter in einer Verkehrszentrale ins Eltern-Kind-Café gekommen ist, mitsamt dem zwei­jährigen Sprössling. Seine Frau ist Kirchenmitglied, das Kind wurde ­getauft – von Nicole Schally –, er selbst ist mit 23 ausgetreten. Warum ist er dann hier, in der "Ladenkirche"?

Er will nicht missioniert werden

"Das ist für uns wie ein zweites Wohnzimmer", sagt er und blickt in den Raum, der mit 20 Kindern und Erwachsenen gut gefüllt ist. "Dieses Format macht die Kirche für mich wieder sehr attraktiv. Das lebt natürlich von Nicoles Person." Er schätze es, dass er nicht bekehrt werde – und auch nicht gefragt, warum er ausgetreten ist. Macht es für ihn einen Unterschied, dass Nicole Schally Pfarrerin ist und nicht irgendeine Café-Inhaberin? Ja klar, Nicole sei verschwiegen, er habe weniger Hemmung, mit ihr offen über Probleme zu sprechen. Und: Er fühle sich wertgeschätzt dadurch, dass die Kirche hier eine Pfarrerin einsetze, dass man es also offensichtlich ernst meine mit der Ladenkirche. "Eigentlich ist es doch so, wie es die Bibel beschreibt: Hier ist Gemeinschaft, hier kann man reden."

Ein bisschen ein schlechtes Ge­wissen habe er aber auch – deshalb werfe er immer Geld in die Büchse auf dem Tresen. An der Tür zur Toilette informiert ein Zettel darüber, wer das "Senf­korn" finanziert: "Wir danken allen evangelischen Gemeindegliedern, die durch ihre Kirchensteuer unsere Arbeit ermöglichen!" Am Ende des Nachmittags räumen die Eltern flugs alle Spielsachen auf, einige stecken gerollte Scheine in die Büchse, rufen "Es war schön, wir kommen wieder!"

So unverbindlich die Angebote auch sind, die Leute kommen wieder. So wie zum Feierabendtreff "Brot, ­Butter & mehr", wo Menschen, die nicht oder nicht mehr in der Familien­phase sind, zusammen zu Abend ­essen, wo man Kerzen anzünden kann (aber nicht muss) für das, was einem am Herzen liegt. An solchen Abenden sei alles drin, von Small Talk bis hin zu geistlicher Begleitung. "Man isst zusammen und ist zu­sammen. Dadurch entsteht viel", sagt Nicole Schally. "Für mich ist das hier Pfarrhaus 4.0."

Inzwischen hat sich auch die ­Wissenschaft für die Ladenkirche in Karlsruhe interessiert, im Forschungsprojekt "Religion in neuen Stadtquartieren". Die Sozialanthropologin Juliane Kanitz, 36, hat beobachtet: "Erfolgreich ist alles, was Menschen ihr Leben erleichtert. Zum Scheitern verurteilt ist alles, was zusätzlich kommt." Man müsse im Hinterkopf behalten, dass es für viele Menschen gerade eine sehr anstrengende Zeit sei. "Die meisten Leute, die ich kenne, ­kippen abends aus den Latschen." Aber wenn Menschen etwas, was sie sowieso tun müssen – abendessen oder Kinder betreuen –, mit Sinn­stiftung verbinden können, dann nähmen sie Angebote gerne an und engagierten sich zumindest punktuell.

Die Pfarrerin in Karlsruhe kann anknüpfen an gewisse Kenntnisse: Stimmt, Ostern, da war doch was... Aber manche Menschen haben niemals im Leben biblische Geschichten gehört. Das ist nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR so.

Christliche Start-ups

Deswegen sind viele der christlichen Start-ups fern der Kirchengebäude unterwegs. Aber Vorsicht, man sollte den Leuten nicht einen Mangel unterstellen, den sie gar nicht empfinden, warnt der Missionsexperte Hans-Hermann Pompe. Ein eifriger junger Mann in Gotha musste das erst selbst erleben, um es zu verstehen.

Etwas abgelegen zwischen Äckern und Kleingärten stehen die Plattenbauten der Clara-Zetkin-Siedlung in Gotha. Rund 1500 Menschen wohnen hier. Sie arbeiten in den umliegenden Industriefirmen, oft im Dreischichtbetrieb. Autozulieferer sind in der Nähe, aber auch der Süßigkeitenhersteller Storck. Manche Kinder sind früh auf sich alleine gestellt, kümmern sich um Geschwister, sind bis in die Nacht auf der Straße. Einige Menschen haben Alkoholprobleme. Alte Menschen sind einsam, Singles ebenso. Es ist anonym hier. Es gibt Vandalismus. Man zieht weg, sobald man kann. Es ist ein Kommen und Gehen.

Diese Siedlung hatte die evangelische Gemeinde Gotha lange gar nicht auf dem Schirm. Bis die Jugend­referentin einige Teenager von dort kennenlernte und der Gemeinde davon berichtete: Das sind Menschen, die uns Gott ans Herz gelegt hat! Daraufhin zogen mehrere junge Paare aus der Gemeinde in die Plattenbausiedlung; mittlerweile haben sie Kinder und wohnen immer noch dort – genauer: Sie teilen ihr Leben mit den anderen Bewohnern. Schließlich stellte die Kirche einen Gemeindepädagogen ­ein: Tino Schimke. Er soll ausprobieren, was geht. Scheitern ist erlaubt.

Er scheiterte gleich am Anfang. Eigent­lich sei er arrogant gewesen, sagt Schimke, ein ruhiger, freundlicher Mann, heute 35. "Ich dachte, dass die Leute ihr Leben schlimm ­finden und nur darauf warten, dass ich ihnen raushelfe. Ich bring was Gutes, dachte ich. Wir sind doch ­Kirche! Aber erst einmal sind wir den Menschen hier wurscht."

"Ich bin hier der Alien"

Das fing schon damit an, dass er keinerlei Reaktion bekam auf die ­Karten mit aufgeklebtem Schokostück, die er und seine Frau nach ihrem Einzug in jeden Briefkasten gesteckt hatten, um sich den Nachbarn vorzustellen. Doch, eine Reaktion gab es: Einer steckte die Karte in Schimkes Briefkas­ten zurück. "Das war lehrreich", sagt ­Tino Schimke. "Keiner hat auf mich ge­wartet. Ich bin der Alien."

Endlich fand er zu einer anderen Rolle – nicht als Heilsbringer, sondern als Gast. "Wenn mir jemand die Tür aufmacht, trete ich gern ein. Aber es ist nicht selbstverständlich, dass jemand seine Tür öffnet." Er beo­bachtete erst einmal, war viel in den Höfen zwischen den Häusern, spielte dort mit den Kindern Fußball und stellte sich, wenn es sich ergab, deren Eltern vor. Die Kinder öffneten ihm die Tür zu den Erwachsenen. Auch zu deren Sorgen.

Gotha: Es ist oft viel Einsamkeit in der Clara-Zetkin-Plattenbausiedlung - aber nicht beim "Penny-Fest" auf dem Supermarktplatz, das christliche Ehrenamtliche organiesieren. Dorle und Timo Schimke (links) sind extra dorthin gezogen, wo andere wieder wegwollen

Aber belastet sind auch viele ­Kinder. Freitags klingelt Schimke zusammen mit zwei 16-jährigen Ehrenamtlichen aus der Gemeinde an den Häusern: "Hallo, gleich ist Kids Club! Sagst du deinen Eltern Bescheid?" Manche Kinder sind einfach nur hibbelig-aufgeregt, andere regelrecht geladen. Nach zwei Stunden sind die Kinder deutlich ausgeglichener und die 16-jährigen Betreuerinnen groggy – von dem riesigen Pensum an Achtsamkeit und Konfliktlösung. Dabei müssten sie noch die Übernachtung in der Kirche vorbereiten . . .

Die wurde dann trotzdem "total schön", erzählt Tino Schimke hinterher. Mit Kirchenentdeckertour, Gelfrisurenausprobieren, Gelände­spiel, Lagerfeuer und Abends-mit-Kerzen-in-der-Kirche-Sitzen. "Die Kinder wollten gar nicht mehr aufhören zu singen."

Zum Highlight für alle aber ist das "Penny-Fest" geworden. So nennen die Anwohner den Spiel- und Begegnungsnachmittag einmal im Monat auf dem Parkplatz des Supermarktes. Zum Auftakt wird im Kreis gesungen: 
"Hier bist du richtig, du bist Gott wichtig." Bestimmt die Hälfte der Leute steht dann von den Bänken auf und singt mit – vor allem Kinder, aber auch Großeltern, die noch in der DDR sozialisiert wurden. Für manche sei es einfach ein nettes Ritual, für andere vielleicht auch inhaltlich wichtig, meint Schimke. "Wir wissen ja nicht, was in einer Seele vorgeht."

"Das ist alles kostenlos hier?"

Was wohl die Bewohner der Clara-Zetkin-Siedlung über die kleine christliche Gemeinschaft denken? Die Gruppe hat zum Beispiel dies zu ­hören bekommen: "Manche sagen abfällig: Die sind doch von der ­Kirche! Das ist mir egal. Ich finde es super, dass ihr so viel für die Kids hier macht." Oder: "Zwischen euch ist so eine Harmonie. Ihr vertraut euch so. So was hab ich hier im Viertel schon lange nicht mehr erlebt." Ein Kind beim Penny-Fest: "Das ist alles kostenlos hier? Auch der Kuchen? So was hab ich noch nie bei einem Fest erlebt. Voll cool." Oder Ältere: "Gut, dass ihr Begegnung stiftet. So wie früher in der DDR. Jetzt kapselt sich ja jeder ab."

Genau das ist das Herzensanliegen von Sarah Thys, 32, einem Mitglied der christlichen Community in Gotha und gerade in Elternzeit: Menschen zusammenzubringen, die einander fremd sind. Sie erwarte nicht, hier Menschen für Glauben und Kirche zu gewinnen. "Wer bin ich denn!" Natürlich freut sie sich, wenn Leute spüren: "Das mit dem Glauben ist vielleicht nicht nur dumm." Wichtiger ist ihr das "Kontakten", so nennt sie es, wenn sie mit dem Kinderwagen durch die Höfe der Plattenbauten zieht: eine Runde Freundlichkeit verbreiten, ihr Leben teilen.

Tim Wegner

Christine Holch

Freilaufende ­Pfarrerinnen, die man jederzeit ­ansprechen kann, das gefiel chrismon-­Reporterin ­Christine Holch.Auch die Mini­andachten ohne Betzwang.

Oft fängt eine Gemeinde klein an, zum Beispiel im Zelt mitten im Baustellenmatsch und manchmal wird sie dann groß und größer, weil das Baugebiet so riesig ist; bis schließlich eine Kirche gebaut wird, weil die nächste Kirche schlicht zu weit weg ist. Wo einst Rübenäcker waren, wohnen heute 14.000 Menschen: auf dem Frankfurter Riedberg. Und Pfarrerin Kirsten Emmerich, 55, kann die Früchte ernten, die sie mit anderen über Jahre gesät hat – auch durch Rumlaufen. Und mit Angeboten für Kinder und ihre Eltern.

Es gab nichts am Riedberg, zunächst nicht mal einen Supermarkt. Alle suchten Kontakt. Die kirchliche Krabbelgruppe und die Kinderkirche (mit Kaffeetrinken) waren für die wegen der Arbeit neu hergezogenen Familien geradezu sensationell. "Wissen Sie eigentlich", sagen ihr Männer, "dass ich noch nie so oft in der Kirche war wie seit wir hier wohnen? Mein Kind schleppt mich her."

"Ich finde, dass der Stress zunimmt"

Hier leben viele "Gewinner": Airliner, Juristinnen, IT-Fachleute, Ärztinnen, Naturwissenschaftler wegen der nahen Uni... "Aber es ist anstrengend, diese Leistung immer zu bringen. Und ich finde, dass der Stress zunimmt." Sie habe so eine Art Dauerpredigt: "Leute, ihr seid wertvoll, unabhängig von der Leistung, die ihr bringt. Weil ihr für Gott wertvoll seid!" Das sage sie den Konfirmanden – von denen viele in Sport-Leistungskadern sind und noch mindestens ein Instrument lernen, Basketball und Querflöte etwa. "Da kriegen die feuchte Augen." Das sagt sie auch den Erwachsenen, immer wieder. Und die melden ihr zurück: Das habe ihnen so gutgetan, mal runterzukommen.

Mittlerweile gestalten 80 Ehrenamtliche das Gemeindeleben mit – beim Krippenspiel oder im Kirchenvorstand. Erstaunlich findet das die Pfarrerin. "Die stehen voll im Arbeitsleben, aber sie sagen: Ich kann nicht nur Beruf und Familie."

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Sehr geehrte Redaktion,
Der Artikel hat mir sehr gut gefallen. Vielleicht ist das ein Weg, die Menschen wieder einander näher zu bringen, und damit das gegenseitige Unverständnis und den allerorts grassierenden Hass einzudämmen.
Mit freundlichen Grüßen

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Zum Textteil Clara-Zetkin-Siedlung in Gotha
Ein sehr ehrlicher, berührender wie auch optimistischer Beitrag aus dem so gebeutelten Thüringen! Danke!
Karl Schreiber aus Dresden

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