Serie Protestanten: Die Quäker
Christina Stohn
Die können gut zuhören
Müssen sie auch. Quäker fassen Beschlüsse einmütig. 
Dazu braucht es feine Antennen, die Kunst zu schweigen – und manchmal 
einen langen Atem
Tim Wegner
18.11.2019

Georg und Michael halten sich kerzengerade auf den Stühlen, Kirstin hat es sich bequem gemacht und lehnt sich weit ­zurück, Lore sitzt im Schneidersitz, wie beim Yoga. Die sechzig Männer und Frauen, die sich in einem großen Halbkreis um einen kleinen Tisch versammelt haben, hätten sich viel zu sagen. Aber jetzt schweigen sie. Lassen auf sich wirken, was eben jemand aus ihrer Gruppe gesagt hat. Draußen toben Kinder über Wiesen, auf der Terrasse probt ein Chor.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller hört jetzt immer ­genau hin, wenn ­Vögel in der ­Dämmerung 
singen. Denn im Schwarzwald war sie abends mit Quäkerinnen und Quäkern am Waldrand und 
hat geübt, Vogel­stimmen zu 
unterscheiden. 

Christina Stohn

Christina Stohn

Christina Stohn lebt im Schwarzwald und setzt sich dort fotografisch mit tradierten, folkloristischen und religiösen Besonderheiten auseinander. Stille und Konsens bei Entscheidungsfindungen der Quäker haben sie nachdenklich gemacht.

Braune Bodenfliesen, erbsgrüne Stuhlbezüge, es ist schon ein paar Tage her, dass die Ferienanlage in Schramberg im Schwarzwald eingerichtet wurde. Die Frauen und Männer tragen Wandersandalen, Turnschuhe, Filzpantoffeln, Jeans, ausgeblichene Shirts. Ihre Ideale: die Natur schonen, sich für andere einsetzen, sich für den Frieden engagieren, für den Weltfrieden und für den Frieden unter­einander. Willkommen bei den Quäkern.

Mitte des 17. Jahrhunderts hatten sich um den Engländer George Fox Menschen ge­sammelt, die nach Gott suchten, aber von den Kirchen enttäuscht waren. In den ­starren ­Ritualen und Dogmen fanden sie keine Antworten und begannen, in sich hineinzu­horchen. Dort entdeckten sie die Erkenntnis, dass in jedem Menschen etwas Göttliches sei und jeder auf seine Weise dem göttlichen Ruf folgen könne. Sie fanden, dass sich die Christen 
gegenseitig genug Gewalt angetan hatten, und versuchen es seitdem anders: mit radikaler Gewaltlosigkeit. Quäker sind Pazifisten, sie kämpfen gegen die Verbreitung von Waffen und vermitteln weltweit zwischen Kriegsparteien. Das setzt voraus, dass sie genau hin­hören können. Und darin sind sie Spezialisten.

Die Andachten: 60 Minuten Schweigen

Die sechzig Quäkerinnen und Quäker im Schwarzwälder Feriendorf sind für ein verlängertes Wochenende aus dem Südwesten Deutschlands, aus Bayern und Österreich zu ihrer halbjährlichen Bezirksversammlung der Gruppe Südwest angereist. Die meisten ­kennen einander seit Jahren und freuen sich, gemeinsam Zeit zu verbringen und Andachten zu halten. An diesem Nachmittag verständigen sie sich auf Grundsätzliches mit einer Geschäftsversammlung.

Nicole Grabert, die Frau vorne am Tisch neben dem Flipchart, hat der Gruppe gerade Schweigen verordnet: "Um euch Zeit zu geben, damit ihr überlegen könnt, ob nicht alles gesagt ist." Grabert ist ­
54 Jahre alt, hat aschblonde kurze Haare und ein rundliches Gesicht. Vor sieben Jahren kam ihre Partnerin von einer Fortbildung in England nach Hause und sagte: "Ich habe Quäker kennengelernt. Die sind wie du!"

Grabert suchte eine Quäker-Gruppe im Südwesten, fühlte sich dann schnell ­heimisch, seit einem Jahr ist sie deren "Schreiberin". Was sich nach einem Nebenjob anhört, ist hier ein sehr wichtiges Amt. Sie hat die Geschäftsversammlung vorbereitet und leitet sie. Wie in ­anderen Vereinen auch, muss Organisatorisches geklärt werden, an diesem Nach­mittag hat die Versammlung ein neues Mitglied aufgenommen und festgelegt, welche Projekte sie mit wie viel Geld fördern wird. Jetzt ­sollen sich alle auf ein Thema für ihr nächstes ­Treffen einigen.

Versammlung im Gruppenraum. Vorne rechts am Tisch sitzt das Schreiberteam Nicole und Julian. Das Bild ist vor Versammlungsbeginn entstanden, als viele noch nicht da waren
Nichts Besonderes, könnte man denken, ­Vorschläge, Abstimmung, fertig. Vielleicht entscheidet das beste Argument, vielleicht setzt sich die Meinungsstärkste durch oder der größte Besserwisser. Doch bei den Quäkern läuft das anders: Sie treffen ihre Entscheidungen einmütig. Es wird nichts ausdiskutiert, es setzt sich nicht der Lauteste oder Klügste durch. Sondern alle suchen gemeinsam nach der Richtung, der am Ende jede und jeder zustimmen kann. Ist auch nur eine Person dagegen, wird die Entscheidung vertagt.

Auf dem Flipchart steht ein buntes Durcheinander von Vorschlägen: "ökologische Gerechtigkeit", "Spiel, Tanz und Musik", "Verhältnis der Quäker zu den Kirchen", "Gottesbilder". ­Etliche haben sich eingebracht, für dieses und jenes 
Thema argumentiert, ohne dass sich ein ­Konsens abzeichnen würde. Grabert ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, doch jetzt sind ihre Wangen gerötet, und der Stift in ­ihrer Hand ­zittert ein bisschen. Sie schaut hoch konzentriert in die Runde der Schweigenden. Als Schreiberin muss sie aus den Äußerungen ­heraushören und aus der Körpersprache und den Gesichtern herauslesen, wie der ein­mütige Beschluss aussehen könnte. Welche ­Mei­nungen stehen im Raum, auch wenn sie vielleicht nicht ausgesprochen werden? Wie ist die Stimmung innerhalb der Gruppe?

Das göttliche Licht wirkt in jedem

"Wenn wir annehmen, dass das göttliche Licht in jedem wirkt, können wir nicht davon ausgehen, dass es sich automatisch nur in der Mehrheit offenbart", hatte Nicole Grabert vor der Versammlung gesagt. Weil die Quäker überzeugt seien, dass in jedem ein göttlicher Funke stecke, wollen sie niemandem etwas aufzwingen. Sie haben kein gemeinsames Glaubensbekenntnis. Alle vertrauen darauf, dass die Gemeinschaft unter der Führung von etwas Größerem die Richtung findet, in die sie gehen möchte. Aber wohin konkret an diesem Nachmittag?

"Höre ich richtig heraus, dass "Die ­Kirchen und wir" das Thema für 2020 ist?", fragt ­Nicole Grabert nach einer Weile. Es ist ihr ­ers­ter Versuch, einen einmütigen Beschluss hinzubekommen. "Nein, das ist nicht ­Konsens", entgegnet jemand aus der ersten Reihe. "Gut, dann müssen wir weitersuchen", sagt ­Grabert. Kirstin wünscht sich einen "Workshop über gewaltfreie Kommunikation", Georg gibt zu bedenken, dass die Gottesbilder in Ver­bindung mit Tanz und Spiel von den Räumen her nur im Tagungshaus im Schwarzwald möglich sind. Einige machen sich für die ­ökologische Gerechtigkeit stark. "Ich möchte euch noch mal zwei Minuten Stille geben, um zu überlegen, ob es wirklich noch weitere Bei­träge braucht", sagt Grabert.

Jeder soll sich nur einmal äußern

Wer kennt das nicht: Längst ist alles gesagt, trotzdem wird weitergeredet, denn noch ist nicht alles von allen gesagt worden. Könnte ja jemand denken, man wäre selbst nicht auch auf das geniale Argument des Vorredners gekommen! Bei den Quäkern gilt: Wenn ein Argument genannt ist, muss es nicht wiederholt werden. Und jeder soll sich nur einmal äußern.

"Wir sind aber auch keine Heiligen", hatte Nicole Grabert gesagt. Und beim Mittag­essen hatte ein Mann mit grauem Rauschebart bekannt: "Ich höre mich gerne reden." Auch nach 30 Jahren bei den Quäkern falle es ihm schwer, sich bei Aussprachen zurückzuhalten. Dazu brauche es viel Selbstdisziplin und dass man sich immer wieder hinterfrage: Bin ich auf dem Holzweg? Sehen die anderen etwas, was ich nicht sehe?

Nach einer halben Stunde versucht es ­Nicole Grabert noch einmal: "Höre ich richtig heraus, dass wir uns nächstes Mal die ökologische Gerechtigkeit vornehmen wollen?" Diesmal widerspricht ihr niemand, damit ist es beschlossen. Grabert lässt sich erleichtert in den Stuhl zurückfallen.

256 Mitglieder in Deutschland

In Deutschland hat die "Religiöse Gesellschaft der Freunde", wie sich die Quäker ­offiziell nennen, nach eigener Auskunft 256 Mitglieder, in Großbritannien sind es 12 666. Überall treffen die Freunde ihre Entscheidungen auf diese Weise, auch wenn an einer Versammlung 3000 Menschen teilnehmen. Und manchmal dauert es etwas länger: Als die Gemeinschaft stritt, wie sie zur gleichgeschlechtlichen Ehe steht, haben sie 30 Jahre immer wieder darüber gesprochen, bis sich die britische Jahresversammlung 2009 einig war: Ja, wir stimmen zu.

Marieke genießt die offene Atmosphäre bei den Quäker-Treffen, wo jeder auf jeden zugehe. Dafür lässt sie auch gerne mal einen Tag lang das Handy ausgeschaltet. Georg ist seit 30 Jahren dabei. Kürzlich hat er seine Frau verloren, und die Gemeinschaft habe ihn "im Licht gehalten", erzählt er
Klingt nicht gerade, als sei die Methode alltagstauglich. "Doch", sagt Beate beim Kaffeetrinken im Garten. Sie ist Lehrerin. "Genau zuhören, sich Zeit nehmen und nicht sofort auf eine Aussage reagieren, das hilft mir in der Schule bei den Gesprächen mit den Eltern." Das bringe Ruhe in ein Gespräch, was gut sei, um Konflikte zu entschärfen. Sich zurücknehmen, eine Situation erst mal auf sich wirken lassen, das könne auch sie in ihrem Beruf gut gebrauchen, sagt Nicole Grabert. Sie arbeitet als Vertreterin für einen großen Buchverlag.

Ein paar Stunden später beginnt der "bunte Abend". Die Jugendlichen haben die Stühle zum ganz großen 
Kreis an den Rand gerückt und sich 
ein Programm ausgedacht. Die Jungen, die Alten, die Ernsten und die Ironischen, die Schweigsamen und die Extrovertierten flitzen für eine abgewandelte "Reise nach Jerusalem" durch den Raum, denken sich spontan ­Sketche aus, einer singt zur Gitarre das Lied vom "Schweigenden jungen Mann", andere mimen eine Cheerleader-Gruppe, feuern imaginäre Sportler an und veräppeln den Pazifismus der Quäker mit dem Lied "Kill, Quaker, kill". Georg hat kürzlich seine Frau verloren und berührt die Freundinnen und Freunde mit einem Gedicht von Hermann Hesse. Kirstin und Klaus tragen das Abendlied "Ade zur guten Nacht" vor. Viele bleiben bis weit nach Mitternacht zusammen und quatschen bei Bier und Wein übers Leben, die Kinder, den Job.

Auch hier fallen verletzende Worte

Auch bei den Quäkern menschelt es. Auch hier versteht man sich mit den einen besser als mit anderen, gibt es Eitelkeiten, fallen mal verletzende Worte. Beim abendlichen Bier hatte einer gesagt: Weil alle so friedlich sein wollen, würden Konflikte selten direkt angesprochen und schwelten untergründig. Am Vormittag vor der Abreise kommt es zu einer kleinen ­Explosion – für Quäker-Verhältnisse.
Es geht um ihre Identität. Eine Freundin aus England hat über die Geschichte der Quäker referiert und berichtet, dass die konservativ-
evangelikalen Freunde in Afrika wachsen und die mehrheitlich liberalen Quäker in Europa ­we­niger werden. Und wie schwierig es für die 256 Freunde in Deutschland sei, sich regel­mäßig zu treffen, denn die Gemeinschaft ist ­allen sehr wichtig. Nur die in den größeren Städten ­kommen jeden Sonntag zusammen. Wer auf dem Land lebt, muss 50 oder 100 Kilometer 
fahren oder zu Hause alleine Andacht halten. Am Ende ihres Vortrags stellte die englische Freundin kritische Fragen: Was hält die schrumpfende Gemeinschaft zusammen? Ist das Schweigen womöglich das einzige Verbindende und zum Selbstzweck geworden? Ist der Quäker-
Glaube zu "diffus", um Menschen anzulocken?

Niemand soll direkt auf seinen Vorredner reagieren

"Was soll das Gerede vom diffusen Glauben?", fragt einer in der anschließenden "Aussprache aus der Stille", "schlimm genug, wenn das von außen so gesehen wird. Noch schlimmer, wenn wir das selbst so sehen!" Bei den Quäkern sei nichts diffus. Sie würden mit ihrem Pazifismus die Bergpredigt ernster ­nehmen als alle anderen Religionsgemeinschaften. Nach einem kurzen Schweigen macht auch ein anderer Mann seiner Empörung Luft, die sich offenbar länger angestaut hatte. Er wirft in die Runde, dass sie, die Liberalen, keineswegs so tolerant seien, wie sie vorgeben würden. Er als Konservativer habe sich schon öfter ausgegrenzt gefühlt.

Ein paar Mal waren in den Tagen zuvor ­spitze Bemerkungen gefallen, weil einige Engländer, die zur Münchner Gruppe gehören, angeblich etwas falsch übersetzt hätten. Jetzt steht ein Mann auf und beklagt mit englischem Akzent: "Es ist das erste Mal, dass ich mich ­
auf einer Quäker-Versammlung wegen ­meiner mangelnden Deutschkenntnisse entschul­digen muss. Ich bitte um Nachsicht für ­meine Übersetzungsfehler." Seine Sätze ­klingen moderat, doch seine Stimme bebt, und sein Gesicht ist rot. Harte Worte sind das für die friedliebenden, umsichtigen Freundinnen und Freunde. Keiner verzieht das Gesicht, alle sitzen still. Nach einer Weile steht eine Frau auf. Sie sagt, dass sie sich als "Suchende" bezeichne und dass sie allergisch reagiere, wenn sie religiösen Menschen begegne, die be­haupten, sie hätten die Antworten gefunden.

Damit nicht ein Wort das andere ergibt, antworten die Freundinnen und Freunde in ihren Aussprachen und Versammlungen grundsätzlich nicht direkt auf den Vorredner. Der Konflikt löst sich trotzdem. Nach einer halben Stunde ist Pause. ­Der­jenige, der die Sprachkenntnisse kritisiert ­hatte, geht auf den Wütenden zu und entschul
digt sich. Sie stehen lange beisammen. Schließ
lich sieht man sie miteinander lachen.

Infobox

Hintergrund: Die Quäker

Der Engländer George Fox (1624–91) gründete Mitte des 17. Jahrhunderts die "Religiöse Gesell­schaft der Freunde". Weil viele aus Ergriffenheit bebten (englisch: "to quake"), nannte man sie spöttisch "Quakers". Sie gehen davon aus, dass in jedem und jeder ein göttliches "inneres Licht" ist, das sie führt. Die Andachten in Euro­pa sind schlicht: Sie sitzen im Kreis und warten 60 Minuten lang schweigend auf Eingebungen. Wer eine hat, steht auf und äußert sie. Quäker sind strikt egalitär, von Anfang an leiteten auch Frauen Versammlungen. Sie duzen einander, lehnten Sklaverei und Militärdienst ab. Heute gehört es für Quäker zu ihrem religiösen Selbst­verständnis, sich gegen Armut und für Frieden zu engagieren. Nach Auskunft der Zentrale in London hat die Gemeinschaft weltweit rund 377 600 Mitglieder und "Freunde der Freunde". In der Sektion Europa und Mittlerer Osten leben etwa 32 000, in Nord­ und Südamerika 140 000, in Afrika 180 000. In Deutschland gibt es Quäker seit Ende des 17. Jahrhunderts. 1800 bauten sie in Bad Pyrmont ein Versammlungshaus, wo sie bis heute zusammenkommen.

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