Serie Mennoniten
Anne Ackermann
"Ihr schafft das schon"
Christopher Blickensdörfer ist Jugendpastor bei den Mennoniten. Er fährt oft stundenlang durch die Pfalz, um mit Jugendlichen zu spielen, zu reden, zu beten. Warum treibt er diesen Aufwand?
13.09.2019

Ein Ende des Seils ist am Fenster­gitter festgebunden. Das andere hält Chris­topher "Chris" Blickensdörfer in etwa anderthalb Metern Höhe. Drei Mädchen und ein Junge versuchen, ohne Hilfsmittel über das Seil auf die andere Seite zu gelangen. ­Be­rühren dürfen sie es nicht.

Die Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 13 Jahren stehen ziemlich ratlos davor: Klappt das mit einer Räuberleiter? Was ist, wenn zwei sich auf alle Viere knien und einer von ihrem Rücken aus über das Seil springt? Mehrmals verlieren sie das Gleichgewicht, bleiben am Seil hängen und purzeln über den Rasen. Der 30 Jahre alte Blickensdörfer bleibt unnachgiebig stehen. Manches muss man eben selbst herausfinden. "Ihr schafft das schon", sagt er ruhig. Und tatsächlich: Nach vier gescheiterten Versuchen können die ­Jugendlichen endlich jubeln. High Five.

Blickensdörfer ist Mennonit, Mitglied einer der Reformationskirchen, die nur Erwachsene taufen. Erwachsene sind mündige Menschen. Sie können absehen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mennonitische Christen werden – was es bedeutet, verbindlich für die Gemeinde da zu sein, einen einfachen und friedlichen Lebensstil zu führen und bei alledem auch noch wahrhaftig zu bleiben.

So viel Aufwand für die paar Leute: Ist das übertrieben?

Seit Mai 2015 betreut Blickensdörfer den Nachwuchs der mennonitischen Gemeinden von Enkenbach, Limburgerhof-Kohlhof, Worms-Ibersheim und Friedelsheim in Rheinland-Pfalz. Er trägt einen Vollbart, an den Seiten kurz geschorene Haare, ein ­kariertes Hemd und Festivalbändchen von "Mennoconnect" am Handgelenk, einem mennonitischen Jugendtreffen. Und doch entspricht er so gar nicht dem Klischee der bärtigen Mennoniten, die man mancherorts in Nordamerika auf Kutschen durch die ­Gegend fahren sieht. Blickensdörfer sieht eher aus wie ein Großstadt-Hipster. Bevor er die Vollzeitstelle annahm, hat er in Kassel Religions- und Gemeindepädagogik sowie Soziale Arbeit studiert und in der Drogenberatung gearbeitet. Er ist verheiratet und hat eine zweijährige Tochter.

Bickensdörfer lässt die Jugendlichen gemeinsam Aufgaben lösen. Ein Spiel auf dem Vorplatz des Gemeindehauses in Enkenbach, Pfalz

Manchmal kommen nur zwei oder drei Jugendliche zu seinen Gruppenstunden. Viel mehr Nachwuchs haben die Gemeinden nicht. An manchen Tagen fährt er stundenlang mit dem Auto über die Dörfer, um sich ihren ­Fragen zu stellen: Wer bin ich? Wer möchte ich später als Erwachsener sein? Wovon lasse ich mich definieren? – So viel Aufwand für die paar Leute mag übertrieben wirken, vielleicht sogar verzweifelt. Für die Glaubensgemeinschaft ist es überlebenswichtig.

Die Mennoniten brauchen dringend Nachwuchs

Die Mennoniten stecken in einem Di­lemma. Auf der einen Seite sind sie eine kleine Freikirche, eine wichtige Stimme, die an die pazifistische Tradition des Christentums erinnert. In Deutschland droht sie nach und nach zu verschwinden. Die Gesamtzahl der Mennoniten, die sich zur Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) zusammengeschlossen haben, hat sich zwischen 1991 und 2018 fast halbiert: von 8653 auf 4455 getaufte Mitglieder.

Die Mennoniten müssten sich dringend um Nachwuchs bemühen. Auf der anderen Seite ist ihnen als Friedenskirche wichtig, dass man sich aus freien Stücken zu seinem Glauben bekennt. Deswegen lassen sie sich als Erwachsene taufen. Und deswegen handeln die Gemeinden auch sehr eigenständig, auch wenn sie untereinander gut vernetzt sind. Mit ihrer Friedensbotschaft konnten sie die Jahrhunderte nur überdauern, weil sie zu­sammenhielten.

Umso schwieriger ist die Aufgabe für Blickensdörfer: Wie bewegt man jemanden zu einer Entscheidung, ohne ihn zu drängen – insbesondere wenn davon das Fortbestehen der eigenen Glaubensgemeinschaft abhängt? Liest man die Gemeindeberichte der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Mennoniten­gemeinden (ASM) für das Jahr 2018, fällt auf, dass sich ein Thema durch viele Texte zieht: Die Jugendlichen gehen zum Studium und zur Ausbildung weg, ältere Mitglieder können nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen oder sterben, wenige Kinder werden geboren, wenige Neue ziehen in den Südwesten. Einige Gemeinden haben sich deswegen in den ­vergangenen Jahren zusammengetan oder aufgelöst.

Mennogame: Wer ist wie mit wem verwandt?

Über die Jahrhunderte haben die Menno­niten als Minderheitenkirche immer wieder Verfolgung überstanden. All das hat sie als Gemeinschaft gefestigt. Aber jetzt, da sie ­endlich in Frieden leben können, laufen sie Gefahr, zu verschwinden. Hat sie am Ende nur der Druck von außen zusammengehalten? 

Hip auf dem Lande: Seit fünf Jahren reist Bickensdörfer als Jugendpastor über die Dörfer in der Pfalz

Enkenbach-Alsenborn im Mai. Der Bahnhof hat zwei Gleise, Nummer 22 und 23. Häuser und Gartenmauern sind aus dem roten Sandstein des Pfälzerwalds gebaut. Wahl­plakate der rechtsextremen Partei "Der dritte Weg" hängen an den Laternen am Bahnhofsvorplatz. Ein Motiv zeigt einen Pistolenlauf, darüber: "Europa verteidigen! Grenzen dicht!" Die Eltern von Chris Blickensdörfer sind nach Deutschland gekommen, weil eine Grenze geöffnet wurde. Der Fall der Mauer bewegte das deutsch-kanadische Ehepaar dazu, sich mit ihrem jüngsten Sohn in der Bundesrepublik niederzulassen – am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung.

Familie, Herkunft und Tradition haben ­einen hohen Stellenwert bei den Mennoniten. Viele der mennonitischen Jugendlichen in ­Enkenbach haben englischsprachige Eltern und kanadische Vorfahren. Fast alle sind ­irgendwie miteinander verwandt: Mal waren die Urgroßmütter Cousinen, mal ist der Großonkel des einen der Großvater des anderen. "Mennogame" (Mennospiel) nennen sie es scherzhaft, wenn jemand versucht herauszufinden, wie die familiäre Verbindung aussieht. Dass es eine gibt, steht meistens außer Frage.

Mennoniten finanzieren sich komplett aus Mitgliedsbeiträgen

Das Enkenbacher Gemeindehaus der Mennoniten steht neben dem Mennoheim, einem protestantischen Altersheim, das in den 1950ern ursprünglich von den Mennoniten gegründet wurde, heute aber nur noch den Namen trägt.

Im Souterrain des Gemeindehauses befindet sich der Jugendraum mit Billard- und Kickertisch, Sesseln, Sofas, Theke und einem Schrank mit Brettspielen. Große Fenster ­geben den Blick auf den blühenden Garten frei. Dass sich die kleine Gemeinde einen gut ausge­statteten Jugendraum und einen Jugendpastor leistet, zeigt, wie wichtig ihr der Nachwuchs ist. Finanziert wird Blickensdörfers Stelle durch freiwillige Beiträge der Gemeinde­mitglieder. 50 Prozent seines Gehalts zahlen die Enkenbacher, 50 Prozent die drei anderen Gemeinden. Da die Mennoniten keine Kirchensteuer erhalten, finanzieren sie sich komplett aus den Beiträgen ihrer Mitglieder.

Dass sich die kleine Gemeinde einen gut ausgestatteten Jugendraum leistet, zeigt, wie wichtig ihr der Nachwuchs ist

Die Mennoniten-Gemeinde in Enkenbach besteht seit 1956 und hat 249 Mitglieder, wovon etwa 60 regelmäßig zum Gottesdienst gehen. "Da die Gemeinden nicht so riesig sind, merkt man geburtenreiche und -arme Jahrgänge ganz schön", sagt Blickensdörfer. Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer. ­"In Zweibrücken, wo meine Frau herkommt, sah es so aus, als wären sie auf dem absteigenden Ast, und sie haben schon überlegt, ob sie sich auflösen müssen. Doch dann sind viele von den Jugendlichen, die weggezogen waren, mit Familie zurückgekommen. Da wuselt es von Kindern. Bestimmt 20 oder so!", sagt Blickensdörfer. Die Gemeinde blüht wieder auf.

"Der Chris ist ein Guter!"

Drei Jungs Anfang 20, die Blickensdörfer früher betreut hat, schauen vorbei. Sie grüßen freundschaftlich und leihen sich Brettspiele aus. "Der Chris ist ein Guter!", sagt einer. Die Jungs fahren weiter zu einer Party eines anderen Ehemaligen, der zum Studieren nach Marburg gezogen ist. Freundschaften aus ­früheren Jugendgruppen halten – auch über die langen Distanzen.

Später trudelt die aktuelle Jugendgruppe ein: Pastorentöchter und bekennende Athe­isten, manche sind Geschwister, andere beste Freunde. Zum Aufwärmen spielen sie Billard. Songs von Queen und den Backstreet Boys schallen aus der Musikanlage. Nach einiger Zeit setzen sie sich zusammen und singen Lobpreislieder. Blickensdörfer spielt Gitarre. Dann sprechen sie ein Popcorn-Gebet: ­Jeder sagt etwas, sobald es in ihm "aufpoppt"; was sie beschäftigt, wofür sie sich bedanken ­wollen. Einer soll anfangen, andere einsteigen, bis es immer mehr werden – wie bei Popcorn, das im Topf erhitzt wird. Ein Mädchen beginnt. Stille. Nichts poppt mehr auf. "Das war heute wohl nix", ruft einer der Jugendlichen. Später am Abend stehen sie in der ­Küche und backen Pizzabrötchen, eine Übung für das nächste Mennoconnect-Festival, wo Blickensdörfers Gruppe für die Verpflegung zuständig ist.

"Wie freiwillig die Entscheidungen zur Taufe ist, ist die Frage"

Chris B., so nennen ihn die Jugendlichen manchmal, mit englischer Aussprache. "Ich brauche mal kurz eure Aufmerksamkeit", sagt er ruhig, wenn es ihm zu unruhig wird. Ansonsten lässt er sie einfach Jugendliche sein. Es scheint wirklich, als kämen die Jugendlichen gerne zu ihm. Nicht weil sie müssen, sondern weil sie wollen. So wie es sich die Mennoniten bei der Taufe vorstellen. Zumindest theoretisch.

"Wie freiwillig diese Entscheidungen zur Taufe sind, ist natürlich die große Frage", sagt Blickensdörfer. Manchen Familien ist es sehr wichtig, dass ihre Kinder sich taufen lassen. "Nach der Glaubensunterweisung legen manche Eltern den Tauftermin fest, ohne noch einmal zu fragen: Möchtest du dich überhaupt taufen lassen? Glaubst du überhaupt? Wie wichtig ist dir das? Brauchst du noch Zeit?"

Bei ihm selbst habe es keinen Druck gegeben. "Für meine Eltern war immer das Wichtigste, dass wir uns selbst entscheiden können." ­Seine beiden jüngeren Geschwister haben sich zum Beispiel nicht taufen lassen. Bei ­seiner eigenen Entscheidung zur Taufe haben die Jugendgruppen, zu denen er früher gegangen ist, eine große Rolle gespielt. Wenn sich ein Jugendlicher gegen die ­Taufe entscheidet, wird er nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – auch wenn er dann ­offiziell nicht zur Gemeinde gehört. ­"Natürlich freue ich mich, wenn sich ein Jugend­licher taufen lässt. Aber mein Hauptziel ist, Hintergrundwissen zu vermitteln: Was be­deutet unser Glaube? Was steckt dahinter?", sagt Blickensdörfer.

Tim Wegner

Michael Güthlein

Michael Güthlein hat vor fünf Jahren schon einmal eine traditionellere Mennoniten­gemeinde in ­Bebra besucht. Chris ­Blickensdörfers Gemeinde war ganz anders.

Anne Ackermann

Anne Ackermann fotografierte vor vielen Jahren in ­einer entlegenen Mennoniten­kolonie in Para­guay. Die schien komplett aus der Zeit gefallen. Nun war die Über­raschung groß: So modern sind die hier!

Er versucht es spielerisch. Wie gefährlich die Missionsreisen des Paulus über das stürmische Mittelmeer waren? Die Jugendlichen sollen es im Garten des Gemeindehauses selbst erleben. Sie stellen sich auf eine Decke, die immer wieder gefaltet wird. Sie müssen einander festhalten, auf einem Bein stehen und sich auf die Schultern nehmen, um noch genug Platz zum Stehen zu haben. Sie ­müssen über wenige Bretter – Planken – von einer ­Seite des Rasens zur anderen gelangen, ohne das Gras mit den Füßen zu berühren.

Zuletzt flüstert Blickensdörfer ihnen einen Bibelvers ins Ohr. Sie müssen ihn per Flüs­terpost weitergeben, während sie den Mund ­voller Gummibären haben. Es ist nicht immer leicht, die christliche Botschaft zu verbreiten.

Und wie geht es weiter, wenn einmal kein Jugendlicher mehr zu den Gruppen kommt? "Wenn ich zu 100 Prozent in Enkenbach angestellt wäre, würde ich viel mehr gucken, was sonst im Ort so los ist. Vielleicht könnte ich dann auch für andere Jugendliche etwas anbieten." Die mennonitischen Jugendlichen sollen jedenfalls erleben, was es heißt, Teil einer Gemeinschaft zu sein und Traditionen weiterzugeben. Sie werden entscheiden, ob sie sie weiterführen. Blickensdörfer spannt das Seil. Es hängt ziemlich hoch. Darübersteigen müssen die Jugendlichen selbst. Chris B. traut ihnen das zu.

Infobox

Die Mennoniten und ihr friedenspolitisches Engagement

Die Täuferbewegung, aus der die Mennoniten hervorgingen, entstand in den 1520er Jahren in Zürich und verbreitete sich danach vor allem in der Schweiz, in Süd- und Südwestdeutsch­land. Mennoniten sind nach dem ­einflussreichen Täufer Menno ­Simons (1496-1561) benannt. Reformatoren wie Luther, Zwingli und Calvin lehnten die Täuferbewegung ab. Die Täufer bestanden auf konsequent christlicher Lebensweise. Daher praktizierten sie schon damals – zum Ärger konservativerer Reformatoren – die Erwachsenentaufe.

Ab dem späten 16. Jahrhundert ­wuchsen mennonitische Gemeinden auch in Norddeutschland und den Niederlanden. Ihre Auflehnung gegen weltliche wie religiöse Autoritäten und ­ihre pazifistische Haltung trugen dazu bei, dass sie in vielen Ländern unterdrückt wurden und immer wieder ­fliehen mussten. Im 18. Jahrhundert wanderten viele Mennoniten nach Russland aus – und später nach ­Kanada, Pennsylvania und Paraguay.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion kehrten viele russlanddeutsche ­Mennoniten als Spätaussiedler nach Deutschland zurück. Etwa 62 000 Menschen zählen sich in Europa zu den Mennoniten. Rund 40 000 sollen in Deutschland leben – als ältere deutsche Mennonitengemeinden, russ­landdeutsche Mennoniten oder Brüdergemeinden. Weltweit gibt es 1,6 bis 2,2 Millionen, vor allem in Afrika.
Mennoniten verweigern meist den Kriegsdienst. Gruppen wie das Deutsche Mennonitische Friedens­komitee und die Christian Peacemaker Teams bieten sich als Vermittler in internationalen Krisen an. Andere leben ihren Glauben eher privat. Im Zweiten Weltkrieg sympathisierte ein Teil ­der Mennoniten mit den National­sozialisten. 1995 hat die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden ein Schuldbekenntnis darüber veröffentlicht.

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