Grossbritannien - Der alter Lord und sein Gesetz
Grossbritannien - Der alter Lord und sein Gesetz
Andrea Artz
Der alte Lord und sein Gesetz
Ein Börsenmakler hatte ihm 1939 die Flucht vor den Nazis ermöglicht. Damals war Alfred Dubs sechs Jahre alt. Heute macht er sich selbst als Retter einen Namen.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
22.07.2019

Hinter der Panoramascheibe im 32. Stock des Broadgate Tower erstreckt sich London bis zum Horizont. Und wenn Lord Dubs nun steil nach unten blicken würde, sähe er auf das Dach der Liverpool Street Station: des Bahnhofs, wo 1939 ein sechsjähriges tschechi­sches Flüchtlingskind mutterseelenallein mit einem Rucksack voller Wurstbrote aus dem Zug stieg. Alle Essensvorräte, die ihm seine Mutter in Prag zubereitet hatte, waren noch drin. Er hatte während des zweitägigen Kinder­transports nichts davon angerührt.

Man erkennt Alfred Dubs sofort wieder auf dem Kinderbild. Mit sechs kam er auf den Kindertransport

Alfred Dubs, der diese Geschichte erzählt, seine Geschichte, hat es mit Brillanz und Charme bis in die höchsten Kreise der ­britischen Gesellschaft gebracht. Inzwischen ist er ein altgedienter britischer Politiker, 86 Jahre alt, Mitglied im House of Lords, ein Humanist. Jetzt gerade muss er sich auf seine Rede konzentrieren. Er wirbt Spenden ein für "Safe Passage UK", eine Hilfsorganisation, die Flüchtlingskinder vom Kontinent sicher auf die Insel nach Großbritannien bringt – wie damals, vor 80 Jahren, als jüdische Kinder auf die rettende Insel Großbritannien transportiert wurden.

Sieht er sich in der Pflicht zu helfen, weil man ihm als Kind half? "Nein, ganz und gar nicht", betont Dubs immer wieder. Er folge ­lediglich seiner Überzeugung.
In England tobt ein politischer Kampf. Die Briten streiten nicht nur, ob sie aus der Europäischen Union austreten oder darin bleiben sollen. Es geht auch um Zuwanderer. "Take back control", riefen 2016 diejenigen, die für den Brexit stimmten. Sie meinten: Schließt die Grenzen, lasst keinen mehr rein.

Die einen wollen keinen reinlassen, die anderen wollen legale Wege öffnen

Hier oben im Broadgate Tower läuft ein ganz anderer Kampf. Wie viel Geld kann ­Safe Passage UK einsammeln? Wie können die Unterstützer bei Laune gehalten werden? Die britische Hilfsorganisation wollte im Jahr vor dem Brexit-Referendum wissen, warum so viele Flüchtlinge unbedingt von Frankreich nach England übersetzen wollten. Warum sie vor Calais im Schlamm kampierten und immer wieder versuchten, ­auf einen Laster nach Dover zu springen oder auf einem Schlauchboot den Kanal zu überqueren.

Freiwillige von Safe Passage reisten nach Calais und erfuhren: Junge Männer wollten zu ihren Geschwistern, Eltern zu ihren ­Kindern, Kinder zu ihren Eltern. Und vor allem Minderjährige ­waren den Übergriffen Erwachsener schutzlos ausgesetzt. Die Hilfsorganisation machte die Miss­stände im Lager publik.
Auch Alfred Dubs wollte damals zu seinem Vater. Der hatte nach dem Einmarsch der Deutschen ins Sudetenland entschieden, sich ins Ausland abzusetzen, weil er nach den Nazigesetzen als Jude galt. Als am Morgen des 15. März 1939 ­deutsche Soldaten in Prag einmarschierten, floh er nach London. Die Cousins des Vaters blieben in der zerschlagenen Tschechoslowakei. Die Gestapo holte sie 1942 ab.

Damals sorgten aufmerksame und engagierte Menschen dafür, dass der kleine Alfred seinem Vater nachreisen konnte. 1938, nach den Novemberpogromen in Deutschland, ­hatten Quäker und Juden die britische Regierung gedrängt, 10.000 jüdische Kinder aufzunehmen. Sie tat es. Bis heute erfüllen diese Kindertransporte die Engländer mit Stolz.

Als die Nationalisten tobten, überzeugte Dubs das Parlament, Flüchtlinge aufzunehmen

Diese Geschichte helfe ihm, wenn er ­etwas für Flüchtlinge durchsetzen wolle, sagt Dubs. Als 2016 die englischen Nationalisten ­"Take back control" riefen, überzeugte er das britische Parlament, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Heute trägt das Zuwanderungsgesetz für minderjährige Flüchtlinge, die in Europa umherirren, seinen Namen. Mit dem Dubs-Amendment konnte Safe Passage UK seine Hilfe beginnen: Kinder registrieren, Pflegefamilien in England anwerben, Papiere für die Überfahrt besorgen.

3.000 Flüchtlingskinder sollten es diesmal sein, dafür hatte das House of Lords votiert. Am Ende strich das House of Commons, die politisch ent­scheidende Kammer, allerdings die Zahl aus dem Gesetzesentwurf. Aber hier, bei Safe Passage UK, wird Dubs selbst für diesen Teilerfolg geachtet und geehrt. Jedes Leben zählt.

Auch wegen seiner Biografie ist Dubs in der Helferszene eine Marke

Es finden sich auch andere Unter­stützer. Der Vermieter der Edel­lounge im Broadgate Tower stellt Safe Passage UK seine Etage kostenlos zur Verfügung. Ein Multimillionär bemerkte, dass er seine London Olympia Exhibition Hall ausgerechnet an die von ihm abgelehnte Brexitpartei vermietet hatte. Der Mietvertrag war nicht mehr zu ­kündigen. Also spendete er die ­ganze Miete den Flüchtlingshelfern.

Auch wegen seiner Biografie als Flüchtlingskind ist Dubs in der Helferszene eine Marke. "Ich brauche ihn niemandem vorzustellen", sagt die Moderatorin Anushka ­Asthana, eine Journalistin von der britischen Tageszeitung "The Guardian", als sie Lord Dubs im Vortragssaal ans Mikrofon bittet. ­Die Leute applaudieren auch so.

Publikumswirksam: Der "Daily Mirror" berichtet über Lord Dubs' Besuch im Dschungel von Calais. In dem Lager warten Flüchtlinge auf eine Gelegenheit, auf einen Laster nach Dover aufzuspringen, oder mit einem Schlauchboot überzusetzen

Und Dubs plaudert los: Wie er 2016 Theresa May, damals Innenministerin, dazu brachte, seinem Amendment zuzustimmen – obwohl sie ihn hatte überzeugen wollen, das Gesetz zurückzuziehen. Schmunzeln im Saal. Wie er ihr zunächst eine noch höhere Zahl an minderjährigen Flüchtlingen unterjubelte, denen die Einreise erlaubt werden sollte. Gelächter. Wie er die französischen Behörden während eines Besuchs im "Dschungel von Calais", in der verdreckten Zeltstadt der Flüchtlinge, fragte, wozu die Tränengas­kanister und Gummigeschosse nötig seien: um dem Front National den Wind aus den Segeln zu ­nehmen. – Das habe ihn ­schockiert, sagt Dubs. Man besiege rechte Extremisten nicht mit ihren eigenen Methoden. Zu­stimmendes Gemurmel. Seine eigene Fluchtgeschichte deutet er lediglich an.

Die Erkennungsmarke für den Kindertransport besitzt er noch

Viele Erinnerungen sind Alfred Dubs aus seiner Kindheit ohnehin nicht geblieben. Auf dem Passfoto des sechsjährigen tschechischen Jungen erkennt man ihn wieder: die auseinanderstehenden Zähne, das dezente Lächeln, die nach unten zeigende Nasenspitze, die breite Stirn. Die Erkennungsmarke für den Kinder­transport mit den handschriftlich eingetragenen Nummern 7082 und 109/9, ausgestellt vom Hilfsverein der Juden in Deutschland, besitzt er noch.

Dubs erinnert sich an den Bahnhof in Prag, die vielen ängstlichen Eltern, seine Mutter. Wie die älteren Kinder jubelten, als der Zug die Grenze nach Holland überquerte. Ein Zug brachte die Kinder von Harwich nach Liver­pool Street Station in London. Sein Vater ­drängelte und wollte zum kleinen Alfred. Aber die Polizei schob ihn zur Seite. Die Kinder sollten erst anhand ihrer Erkennungsmarken mit denen auf der Liste abgeglichen werden. Viele kamen damals in Pflegefamilien unter.

Alfs Vater hatte ein Schlafzimmer in ­Bel­size Park angemietet im Nordwesten ­Londons. Zwei Monate später schaffte es auch die Mutter, noch an ein Ausreisevisum zu ­gelangen. Am 31. August kam sie in London an, einen Tag vor Kriegsausbruch. Der letzte Kindertransport aus Prag sollte am 1. Sep­tember starten. Die Nazis stoppten den Zug.

Plötzlich fand man den Mann, der auch Dubs das Leben gerettet hatte

Der Vater starb 1940, die Mutter, als Alf ­25 war. Er studierte, arbeitete für die Kom­munalverwaltung und für eine PR-Firma, heiratete, wurde Vater, er kandidierte mehrmals für das Parlament. 1979 und 1983 errang er für die Labourpartei das Direktmandat in einem Londoner Bezirk.

Und weil er sich schon damals mit Flüchtlings- und Einwanderungspolitik beschäftigt hatte, wurde Alfred Dubs nach ­seiner Zeit im Parlament Direktor des Flüchtlingsrats, ein Zusammenschluss ­mehrerer Hilfsorganisationen. Im selben Jahr, 1988, strahlte die BBC eine Dokumentation über die Kindertransporte aus Prag aus. Man hatte ihren Initiator ausfindig gemacht, den Börsenmakler Nicholas Winton, selbst Kind jüdisch-deutscher Eltern, die vor seiner Geburt nach England übergesiedelt waren. 669 Kinder schafften es mit seiner Hilfe auf die Insel. Die BBC-Sendung ist heute noch auf Youtube zu sehen.

Eines der wenigen Bilder aus der Kindheit: Der kleine Alfred Anfang der 1930er mit seinen Eltern in Prag

Alfred Dubs sah damals die Sendung und nahm Kontakt zu dem Mann auf, dem auch er sein Leben verdankt. Die beiden freundeten sich an. Wintons Entschlossenheit be­eindrucke ihn noch heute, sagt Dubs: "In Situationen, die Tatkraft erfordern, meinen viele Menschen: Wie schrecklich!, und sie wenden sich ab. Er nicht." 2015 starb Winton im Alter von 106 Jahren. Und Alfred Dubs wandte sich der Gegenwart zu.

Noch als Direktor des Flüchtlingsrats war Dubs geadelt und Mitglied im House of Lords geworden. Und als Safe Passage 2016 die Nachricht verbreitete, dass 95.000 Flüchtlingskinder in Europa ­unterwegs seien, reiste er in die ­Lager nach Calais, Italien, Griechenland, ­Jordanien. "Athen ist gut organisiert", sagt er, "Saloniki weniger. Am schlimmsten sind die Verhältnisse auf Lesbos. Das Camp ist überfüllt. Die Kinder sind sexuellem Missbrauch ausgesetzt, die Jungen, nachts. In Calais sehen die Leute ihr Ziel vor sich. Aber auf Lesbos besteht kaum Hoffnung weiterzukommen. Und das ist das Schlimms­te überhaupt."

Nicholas ­Winton: "Es muss einen Weg geben, es auch zu tun."

Dubs zitiert gerne noch einen weiteren Satz seines verstorbenen Freundes Nicholas ­Winton: "Wenn etwas nicht gänzlich unmöglich ist, muss es einen Weg geben, es auch in die Tat umzusetzen." Jedenfalls soll man es unbedingt versuchen. 2016 brachte Dubs im House of Lords sein Gesetz ein. ­"Die Regierung wurde nervös, weil die Lords beschlossen, 3.000 Kinder in Großbritannien aufzunehmen", sagt er. Die damalige Innenministerin Theresa May wollte es verhindern. Es wurde viel verhandelt und gefeilscht. Am Ende blieb nicht viel von seinem Vorhaben übrig. Das Dubs-Amendment bietet nur ein kleines Schlupfloch für Safe Passage UK.

200 unbegleitete Kinder konnten im ­Oktober 2016 aus Frankreich zu ihren Verwandten nach England kommen. Seither geht es nur noch Schritt für Schritt mühsam ­voran: ein paar Kinder aus Bulgarien, eins aus Calais, eins aus Italien.
Und dennoch bewegt das Engagement des Lords die Öffentlichkeit. Vanessa Redgrave nahm Alfred Dubs mit zu den Dreharbeiten für ihren Film "Sea Sorrow" nach Calais. Ein Bild zeigt ihn mit der Regisseurin und ihrem Sohn Gabriel Carlo Nero beim Filmfestival 2017 in Cannes auf dem roten Teppich. Es lehnt in Dubs Büro eingerahmt an der Wand. "My moment of fame", kommentiert der Lord das Foto selbstironisch: "Mein Augenblick des Ruhms".

Erinnerung an den Kindertransport: Erkennungsmarke - ausgestellt vom deutschen Hilfsverein für Juden

Den ersten syrischen Flüchtling, der mit dem Dubs-Amendment nach England kam, lernte Alfred Dubs persönlich kennen. "Als er am 25. Mai 2015 Syrien verließ, war er das erste Mal allein weit weg von zu Hause", sagt Dubs. Die Regierung war drauf und dran, Aleppo sturmreif zu schießen. Als junger Mann, der nicht für Assad in den Krieg ziehen wollte, musste er fliehen. 15 Monate hatte der Jugendliche im Dschungel von Calais ausgeharrt und vergeblich versucht, auf die Insel überzusetzen – bis ihn Safe Passage aufgriff.

Eine Familie im Londoner Außenbezirk ­Golders Green nahm ihn auf. Der Junge bestand sein Schulexamen und nahm ein Politik­studium auf. Lord Dubs holte ihn als Praktikanten zu sich in sein enges Büro ­gleich neben Westminster, dem Parlament. "Kommendes Jahr macht er seinen Abschluss im Studiengang Internationale Beziehungen."

Vor achtzig Jahren nahm Großbritannien hundert Mal so viele Kinder auf

1939 hat Großbritannien 10.000 Kinder aufgenommen. Es war nicht annähernd so reich wie heute. Warum geht das heute nicht? Lord Dubs zieht die Augenbrauen hoch. "Der Streit um Migration, Asyl und Flüchtlinge, nehme ich an. Aber wenn Sie den Leuten eine Geschichte erzählen, die ihnen verständlich macht, warum diese Kinder wirklich Hilfe brauchen", so hofft er weiter, "würden die ­meisten weiterhin minderjährigen Flücht­lingen helfen."

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