Haftstrafe - JVA Stadelheim
Haftstrafe - JVA Stadelheim
Erol Gurian
Freiheit ist schön, aber schwer
Josie saß im Gefängnis. Und ihre kleine Tochter mit ihr. Seit über einem Jahr sind sie wieder draußen. Wie war der Neubeginn? Wem erzählt sie was? Wem vertraut sie? Und wer vertraut ihr?
Tim Wegner
Erol GurianErol Gurian
25.04.2019

Luisa sitzt am Wohnzimmertisch und malt. Sie ist vier Jahre alt, um sie herum liegen lauter Blätter. Bunte Strichmännchen mit Wackelköpfen, Sonnen mit vielen Strahlen und Hunde mit Flatterohren. An der Tür stehen ihre Mutter Josie und Nachbarin Maria*, die sich gerade verabschiedet. Es war so lustig, zusammen mit Maria zu malen, und Luisa ist noch ganz vertieft. Da merkt ihre Mutter, dass der ­Kuli in Luisas Hand Maria gehört. "Oh, den Stift geben wir zurück", sagt sie und nimmt ihre Tochter in den Arm, sie scherzt: "An mir nimmst du dir kein Beispiel." Mit den grünen Männchen will sie nichts mehr zu tun haben.

Die Vergangenheit klebt an ihr

Grüne Männchen – so nennt sie Polizisten und Gefängniswärterinnen. Josie und Luisa waren zusammen im Gefängnis, in der Mutter-Kind-Abteilung der Münchner Haft­anstalt Stadelheim. Josie hatte online eingekauft, ­immer mehr, konnte nicht zahlen, machte Schulden, wurde zu ­einer Bewährungsstrafe verurteilt, und die Bewährung hat sie nicht bestanden. Die Folge: neun Monate Haft. Die ­Mutter-Kind-Abteilung ist für Mütter, die sich bessern ­wollen, und Kleinkinder, die den Bezug zu ihren Mamas nicht verlieren sollen. Wo alle das Beste für die Kinder wollen. Josies Chance, den Kreislauf zu durchbrechen.

Nur dass es einfach wird, hat niemand behauptet. Seit über einem Jahr sind sie wieder "draußen" und noch ist ihr Leben in der Schwebe. Schwierig genug, in der Haft die Taten hinter sich zu lassen, mit den eigenen ­Fehlern klarzukommen. Schwierig auch, danach mit ­Anfang vierzig und alleinerziehend bei null anzufangen. Die Vergangenheit klebt an ihr. Wer glaubt schon einer, die im Gefängnis war?

Sie hat Angst vor der Reaktion des Vermieters, sollte er die Wahrheit erfahren. Will deswegen nicht erkannt werden, wünscht sich den Namen: Josie. Luisa soll hier so heißen, weil der Name eine ähnliche Bedeutung hat wie ihr echter: die Kämpferin.

Ihr Start in Stadelheim sei nicht rundgelaufen, sagt Josie. Geplant war, dass Josie und Luisa zugleich dort einziehen sollten. Die Kleine war damals knapp zwei Jahre alt. Die Kommunikation mit den Behörden holperte und Josie musste zunächst allein in den normalen Vollzug. Die Gedanken immer bei Luisa. Wie sie weinte, als Josie geholt wurde. Die Sorge, dass die Pflegefamilie mit ihr nicht umzugehen wusste. Dass ihre Tochter sie nicht mehr erkennen würde. Oder dass sie doch nicht zu ihr gebracht werden würde. Als ihr die Pflegemutter nach drei ­Wochen Luisa übergab, lachte die, wollte in Mamas Arme. Die fremde Frau küsste Luisa. "Bei mir hättest du es besser gehabt", sagte sie.

Josie gerät außer sich, wenn sie das erzählt, richtet sich kerzengerade auf der Couch auf, sagt: "Die Frau hat doch keine Ahnung." Sie ist froh, dass die Sozialpädagogin der Anstalt damals die Frau zurechtgewiesen hat. Denn: Da ist zwar Josie, die ihr Leben nicht mehr im Griff hatte. Aber da ist auch Josie, die Mutter. Und die will für Luisa da sein und alles für sie tun. "Luisa war mein Lichtblick, meine Rettung", sagt sie.

Josie möchte anonym bleiben

Es ist ein Freitagmorgen im November 2018 am Münchner Stadtrand, und es ist noch nicht klar, ob es ein guter Tag wird. Josie, glatte Haare, glänzende Augen, schaut abwechselnd auf die Uhr und zum Fenster. Sie darf den Briefträger nicht verpassen und die Türklingel macht Zicken. Um sie herum gräbt sich Luisa zwischen Kissen und jammert. Der kleine Welpe aus dem Haus zieht aus, ihr Spielgefährte. "Ich werde ihn nie vergessen", schluchzt sie. Josie versucht, sie zu trösten. Luisa möchte nicht spielen, kein Buch anschauen. Blick zum Fenster. Der Briefträger muss kommen. Ausgerechnet im Sozialkaufhaus, als Josie versuchte, ein zahlbares Bett zu finden, hat ihr jemand das Portemonnaie geklaut. Darin das Geld für den ganzen Monat. Es fehlt an allen Enden. Jetzt hilft das Jobcenter: mit einem Darlehen.

Vor ein paar Wochen sind sie hier eingezogen. Luisa ist durch die 3-Zimmer-Wohnung gebraust, hat Dinge ­von einem Eck ins andere geschoben, überall verteilt: "So viel Platz." Nach der Haft waren sie drei Monate in einem Frauenhaus untergekommen. Fast ein Jahr lang wohnten Josie und Luisa dann in einer Pension. Zwölf Quadratmeter mit Bad für beide. Manchmal sperrte sich Josie im Bad ein, um ein paar Minuten allein sein zu können. Briefe, Besuch, alles lief über die Frau an der Rezeption. Ein zweites Gefängnis. Von dort aus ein Leben aufbauen – das schaffte Josie nur langsam.

Viele Mütter erfüllen die Voraussetzungen nicht

Luisa ist Josies Nesthäkchen. Die vier älteren Kinder, Grundschüler und Teenager, leben beim Ex-Mann. Nach der Trennung wurde Josie von einem anderen Mann noch mal schwanger, ungeplant. Der war schon weg, als sie es erfuhr. Aber Josie stand sofort zu ihrem Baby. "Das Kind hat ja nicht Schuld", sagt sie. Dann die Schwangerschaftsvergiftung. Luisa kam drei Monate zu früh. Ein Jahr lang hing sie an Apparaten, kämpfte um ihr Leben, und Josie wich kaum von ihrer Seite. Eine körperliche Behinderung ist dem Mädchen geblieben.

Fast ein Viertel ihres Lebens war der riesige, ge­schwungene Bau der Frauenanstalt von Stadelheim ihr Zuhause. Zehn Mütter und 14 Kinder haben dort Platz, die Anstalt ist eine von sieben Einrichtungen deutschlandweit, die Plätze im geschlossenen Vollzug anbieten, in Bayern ist eine weitere in Aichach. Es ist noch nie passiert, dass beide Stationen zugleich ausgelastet waren. Denn auch, wenn sich alle darum bemühen zu vermeiden, dass Mutter und Kind getrennt werden, erfüllen viele Mütter die Voraussetzungen nicht. Weil sie süchtig sind oder psychisch schwer krank oder eine Gewalttat begangen haben. Oder weil die Kinder im Laufe der Haft mit drei Jahren zu alt würden. Ab diesem Alter brauchen sie mehr Freiraum und nehmen mehr von der Umgebung wahr. In solchen Fällen müssen sie draußen bei der Familie bleiben – oder bei einer Pflegefamilie.

Die Frauen, die hierherkommen, haben kürzere Haft­strafen, die meisten wegen Diebstahl oder Betrug. "Es ­wäre an Grausamkeit nicht zu überbieten, käme das Kind ­alleine ­vor der Mutter raus", sagt die Sozialpädagogin. Schon vor dem Haftantritt wird deshalb zusammen mit dem Jugend­amt geprüft, ob alle Rahmenbedingungen ­passen. Es wird ein enges Netz gesponnen, zwischen ­Mutter, Jugendamt, Familie und dem Team. Wen sollte das Kind regelmäßig besuchen? Welche Förderung braucht es, welche Nahrung? Neben der Sozialpädagogin betreuen ­eine Er­zieherin, eine Psychologin und eine Kinderpflegerin die Mütter und Kinder.

Hinein geht es an der Pförtnerin vorbei, durch den Metalldetektor und die Schleuse, den ­Bereich zwischen dem Draußen und dem Drinnen, dessen Türen nie gleichzeitig auf­gehen. Eine Beamtin führt durch graue ­Gänge, durch Neonlicht, in den zweiten Stock, schließt dick verglaste Sicherheitstüren auf und ab.

Hier heißt das Gefängnis "das Haus" und die ­Zellen sind ­"Zimmer"

Bis durch eine Glastür beige-gelbes Licht scheint. ­Eine andere Welt öffnet sich. Malereien und kindgroße, ge­bastelte Blumen machen die Wände bunt. Von oben ­baumeln Märchenburgen aus Pappe. In der einen ­Richtung endet der Gang in einer Ecke zwischen Schaukel­pferd, Bauklötzen und Spielhäuschen. In der anderen im Gemeinschaftsraum und der Küche. Draußen vor der ­breiten Fensterfront ist auf der Dachterrasse ein Spielplatz, so groß wie ein Volleyballfeld, umgeben von hohen Mauern. Hier heißt das Gefängnis "das Haus" und die ­Zellen sind ­"Zimmer". Jede Inhaftierte hat ein Zimmer mit Wasch­becken, Dusche und Toilette für sich und ihr Kind. Dazu gibt es einen Bade­raum, einen Ruheraum, einen ­Bastel- und Spieleraum, ein Besuchszimmer.

Der Briefträger wischt an Josies Küchenfenster vorbei, sie rennt nach draußen. Der Scheck vom Jobcenter ist da. Freitagmittag. Wenn sie sich beeilen, können sie ihn noch auf der Bank einlösen. Luisa gräbt sich folgsam aus den Kissen, stülpt sich die Mütze über, klettert in den Buggy. Sie waren schon weiter. Luisa in einer Kita, die auf ihre Behinderung spezialisiert ist, Josie hat eine Ausbildung zur Krankenpflegerin angefangen. Aber die Kita war zu weit weg, und Luisa viel fitter als die anderen Kinder. Josie will, dass sie besser gefördert wird. Jetzt sind sie wieder auf der Suche, die Ausbildung liegt auf Eis. Immerhin: Bei der letzten Abwicklung mit einer Inkassofirma ist ein Ende in Sicht.

Mit dem Darlehen kauft Josie: Fleisch, Salat, Nudeln und Oliven, die Luisa liebt. Leggings, Pullover für Luisa und den Schminkkoffer, den sie sich wünscht. Zwei Strickkleider für sich. "Da fühle ich mich wohler", sagt sie. In letzter Zeit ist sie unzufrieden, weil nichts so recht klappt. Sie erzählt von einem Berliner, der erfolgreich geklagt ­habe, dass sein Name nicht an der Klingel stehen soll. ­"Jetzt müssen an dem Haus die Namen aller Mieter entfernt werden", sagt sie, und nach einer Pause: "Ich finde das gut."

"Im Vollzug habe ich nur liebevolle Mütter kennengelernt"

Im Gefängnis drehte sich fast alles ums Kind. In der Mu-Ki müssen die Mütter begreifen, dass alle ihre Entscheidungen auch Auswirkungen auf die Kinder haben. Die Entwicklung und Förderung der Mutter ist darauf ausgelegt. "Wir entmündigen die Frauen nicht", sagt die Sozialpädagogin. "Sie haben sich zu Straftaten entschieden. Wohlwissentlich, dass sie zu einer Verurteilung führen können." Beim Thema Erziehung gibt es viele Meinungen, was ideal für das Kind wäre. Aber wessen Leben verläuft ideal? Hier arbeitet man mit der Realität. Manche Mütter lernen lesen, andere machen Ausbildungen oder Fortbildungen, bekommen Suchtberatungen, Schuldnerberatungen, Unterstützung von der Psychologin, der Erzieherin. Manche lernen erst hier, sich von traumatischen Erfahrungen zu lösen. "Straffälligkeit beeinträchtigt nicht grundsätzlich die Erziehungsfähigkeit", betont man auf der Station. Josie sieht das auch so. Sie hat früher als Sanitäterin gearbeitet. "Ich habe Kinder aus Messi­wohnungen geholt. Was die erleben, ist schlimm. Im Vollzug habe ich nur liebevolle Mütter kennengelernt", sagt sie.

Der Vollzug ist eine Art Gruppentherapie, ein Intensivkurs in Sozialkompetenz. Mit Josie waren drei Frauen und deren Kinder in der Abteilung. Mittags mussten die ­Mütter gemeinsam kochen. Josie war das recht. Nachmittags ­hatten sich alle in den Gemeinschaftsräumen aufzuhalten. Ehrenamtliche von Vereinen und Hochschulen kamen für Musiktherapien, Bastelprojekte oder Märchenstunden, ­immer in der Gruppe. Gegen 18 Uhr zogen sich die Frauen mit ihren Kindern in die Zellen zurück. Irgendwann ­wurden die abgeschlossen.

Wird Josie gefragt, was sie glücklich macht, sagt sie: dass Luisa so gut laufen gelernt hat. Glücklich macht sie, wenn sie ein Heim und ein Auskommen und eine Familie hat. Dann erst erzählt sie von ihrer Leidenschaft für Pferde und fürs Eishockey. Über der Couch hängt ein Kalender mit ­Fotos von ihren älteren Kindern. Sie sind oft zu Besuch. Kaum freigekommen, entdeckte Josie auf Facebook das Profil­bild ihrer ältesten Tochter, die Halbwüchsige übertrieben ge­stylt. Da sei sie eingeschritten. "Die sieht da aus wie 20, das ist gefährlich", sagt sie. Sie will ihre Kinder nicht im Stich lassen.

Das Gefühl kennt Josie. Mit acht Jahren fragte sie ihre Mutter, wie sie aus dem Bauch gekommen sei. Die war ehrlich: Josie ist adoptiert. Jahrelang suchte sie ihre leibliche Mutter, erhielt schließlich eine Telefonnummer. Nie hob jemand ab. Sie akzeptiert es. Die Frau will nicht. Ein blinder Fleck bleibt.

Das Gefängnis heißt "Haus", die Zellen heißen "Zimmer": Die Mutter-Kind-Abteilung der JVA Stadelheim. Hier lebten Josie und Luisa für neun Monate

Mit den Geschwistern habe sie zusammengehalten, erzählt sie. Als die Eltern sich scheiden ließen, ver­schworen sie sich gegen den neuen Partner der Mutter. Wenn er ­wütend war, warf er Josie an den Kopf: "Du bist wie deine leibliche Mutter." Die gesamte Scheidung: ein Trauma. Sie fühlte sich zerrissen, erinnert sie sich, weil die Eltern um sie und die Geschwister buhlten. So was wollte sie ihren Kindern nicht antun.

Sie erzählte niemandem von den Schulden

Aber auch ihre eigene Ehe scheiterte. Eine ­Sanitäterin im Schichtdienst in der Großstadt mit vier Kindern – unmöglich. Ihr Mann, Frührentner, und sie entschieden: Die Kinder bleiben bei ihm. Eines Nachts steht die Älteste im Türrahmen. "Liegt es an uns, dass ihr euch trennt?", fragt sie aufgelöst. Es trifft Josie ins Herz.

Josie kaufte ein. Für die Kinder, sagt sie. Online. Immer mehr. Die Schulden häuften sich. Sie erzählte niemandem davon. "Ich dachte, ich würde das hinkriegen", erzählt sie. "Ich habe immer alles mit mir allein ausgemacht."
Die Nachbarin Maria kommt zu Besuch. Zum Essen, um gemeinsam "Kommissar Rex" zu schauen, auf Luisa aufzupassen oder einfach so. Wie vertrauensvoll Luisa ihr gegenüber ist! Sie zeigt ihr Brettspiele, räumt nebenbei die Kommode auf, sie malen, holen Abendbrot aus Marias Wohnung und grüßen dabei fröhlich alle Nachbarn. Decken den Tisch. Amüsiert schaut Maria beim Essen zu, wie Mutter und Tochter sich die Tabascosoße teilen. Luisa isst alles, was ihre Mutter isst. Gemüse, Wurst, Käse. Und genau die Sorte Joghurt, die es in Stadelheim gab. Brot mag sie nicht. "Das war im Gefängnis so trocken", sagt Josie. Als man Luisa einmal zwingen wollte, mehr zu essen als sie mochte, verteidigte Josie sie. "Sie ist so dünn", sagt sie. "Da darf man sie nicht zwingen und ihr so das Essen vergällen."

Das Gefängnis, wie es Luisa erlebt hat: Ab 7.30 Uhr ­kümmerten sich die Betreuerinnen um die Kinder, frühstückten mit ihnen, fast jeden Tag machten sie Ausflüge nach draußen, zum Spielplatz oder durch die Siedlung. Dann Mittagsruhe. Luisa mochte die Märchenstunden, weiß Josie noch, und sie liebte Blinklichter. Wenn Frauen zu Prozessen abgeholt oder in andere Anstalten verlegt wurden, drückte sie die Stirngegen die Fensterscheibe zum Innenhof und beobachtete die Streifenwagen. Be­sonders doll blinkte alles, wenn Beate Zschäpe zum Prozess gefahren wurde, schon im Gefängnishof von Sonderstaffeln umstellt, Polizisten mit Maschinengewehren bewaffnet.

Damit die Kinder auch mit den Müttern rauskommen, kaufen die in Begleitung mit ihnen fürs Mittagessen ein. Weil Luisa oft zum Arzt und operiert werden musste, durfte Josie früher raus als andere, und öfter. Die Haft, wie Josie sie erlebt hat: Anträge für jeden Einkauf, Arztbesuch, wegen der Arztkosten. Bevor es durch die Schleuse rausging, musste sie in der "Kammer" warten, einem kleinen Raum, dem Übergang nach draußen für Häftlinge. Das dauerte – gefühlt Stunden; in Wahrheit gut 30 Minuten. Einmal war ein Antrag nicht auffindbar, und alle warteten auf den Dienstbeginn der Beamtin, die ihn bewilligt hatte.

Josie weiß, dass ihr Verhalten falsch war. Sie weiß auch, dass sie nie mehr ins Gefängnis will. Sie erinnert sich an ihren ersten Freigang: Als das Auto vor der Arztpraxis hält, bleibt sie starr sitzen, aus Angst, durch eine falsche Bewegung alles zu verlieren. Und – das wird ihr später bewusst, und es gruselt sie – weil sie auf einen Befehl wartet. "Mach die Tür auf", sagt ihre Hafthelferin. "Du darfst." Draußen überrollt sie der Strom der Passanten. Die Ärztin duftet nach frischen Blumen, merkt Josie. In der Anstalt verwenden alle die gleiche Vanilleseife.

Eines Tages nahmen die Betreuerinnen einer anderen Mutter das Kind weg

"Die Privilegien der Mütter sind an Erwartungen geknüpft", sagen die Betreuerinnen. "Die Freiheiten sind nur für das Kind wichtig." Halbtags arbeitete Josie in der ­Wäscherei, dann war sie bei Luisa, auch am Wochenende, das die anderen Kinder bei ihren Familien verbrachten. Die Betreuer verfolgten, wie sie mit ihrem Kind umging, wie sie sich in die Gruppe fügte, die Vollzugsbeamtinnen kontrollierten ihr Verhalten, drehten den Frauen, so sieht Josie das, die Worte im Mund um. Ständiges Misstrauen befiel sie. "Ich habe gelernt, die Klappe zu halten", sagt sie. Überall Türen, nirgends kam sie vorwärts, immer hoffen, dass Anträge ankamen. Roboterleben. Die Mutter-Kind-Abteilung ist: Haft.

Nicht nur sie sei unter Druck gewesen, sagt Josie. Sondern alle. Eines Tages nahmen die Betreuerinnen einer Mutter als letzte Konsequenz das Kind weg. Das saß. Josie erinnert sich an ihr Grauen, dass sie Luisa wieder verlieren könnte. Gegen Ende der Haft wuchs es ins Unermessliche, als sich für die Zeit danach lang keine Bleibe finden ließ. "Ich glaube schon, dass die Kinder das Umfeld wahrnehmen. Sie spüren, dass die Mütter durch die Haft gestresst sind", sagt sie "Zum Beispiel haben alle Kinder sich angewöhnt zu kreischen, dass die Ohren summten", sagt sie. Bis auf Luisa. Die habe dann gesagt: "Warum schreist du so?"

"Wie hast du das gemacht, Erol Gurian?" Der Fotograf berichtet über seine Recherchen in der Mutter-Kind-Abteilung in der JVA Stadelheim

Auch Luisa kann schreien. Wie beim Einkaufen, als sie nicht mehr Regale gucken darf, den Schokoriegel nicht kriegt, in den Buggy muss. Ihre Stimme schraubt sich in metallisches Sirren. "Was soll denn das", sagt ein älterer Herr streng und seine Frau schaut Josie gequält an. Luisa schreit vor Schreck noch mehr. Josie: stinksauer auf die ­Alten.

"Luisa soll wissen, dass ich für sie da war"

Im Drogeriemarkt ist alles wieder gut. Luisa brummt mit einem Kindereinkaufswagen durch die Gänge. Ist "groß" und hievt das schwere Waschmittel in den ­Wagen – sie kann das selbst. Dann steht sie vor den Schnullern: "Mama, ich bin klein." Sie schläft nicht in ihrem Zimmer, geschweige denn in ihrem Bett, Türen mag sie nicht geschlossen haben. Jahre voller Nähe zu ihrer Mutter haben sie geprägt. Wird Luisa später darüber scherzen? Sich schämen? Im Schrank steht eine Kiste mit Fotos und ­Basteleien aus der Mu-Ki bereit. "Sie soll wissen, dass ich für sie da war", sagt Josie.

Tim Wegner

Sabine Oberpriller

Die Autorin Sabine Oberpriller wurde oft gefragt, ob Josie genug bereue. Die Frage zeigt, wie schwierig es für verurteilte Frauen ist, wieder Fuß zu fassen. ­Josie hat im Gefängnis gebüßt, gelobt Besserung, will ihre Tochter nicht mehr verlieren. Reicht doch, oder?
Erol GurianErol Gurian

Erol Gurian

Der Fotograf Erol Gurian war überrascht, dass für viele Mütter die Gefangenschaft die intensivste Zeit mit ihren Kindern ist. Denn nach der Haft, zurück im alten Leben, bleibt ihnen oft kaum Zeit für Söhne und Töchter.

Die Pädagoginnen im Vollzug raten zu einem ehrlichen Umgang mit der Haftstrafe, auch damit die Frauen selbst konstruktiver mit ihrer Vergangenheit umgehen können. Die Mütter sollen ihren Kindern vermitteln, dass sie einen Fehler gemacht haben, dass sie Zeit bekommen, nachzudenken. Josie hat, wie andere auch, zur Lüge gegriffen – weil ihre jüngeren Kinder noch im Grundschulalter waren. Auch den beiden älteren Kindern hat sie nichts gesagt, damit die das Geheimnis nicht aushalten müssen. Josie hat eine Krankheit erfunden. Eine Kur. Und viele Briefe geschrieben.

Die Erwachsenen in der Familie wissen Bescheid. Ihre Ausbilder auch. Und die Nachbarin Maria. Von der Haft zu erzählen, ist nicht leicht: Josie fühlt sich erpressbar. Weiß nicht, wem sie vertrauen kann. Wer ihre Vergangenheit vielleicht gegen sie verwenden könnte.

Sie blickt mulmig auf den Moment, wenn sie ihren Kindern die Wahrheit sagt. Sie hofft, dass sie ihr die Lüge vergeben können. Und auf Verständnis. Sie habe auch viel gelernt im Gefängnis; zum Beispiel, dass sie Menschen ins Ver­trauen ziehen und sich Hilfe holen könne. "Ich habe mich doch geändert, ich führe jetzt ein ganz anderes Leben."

* Namen geändert

Infobox

Mutter-Kind-Haft:

16 Haftanstalten in Deutschland nehmen straffällig gewordene Mütter und ihre Babys oder Kleinkinder auf, im offenen oder geschlossenen Vollzug. Gut für die Kleinen! Würden sie getrennt von ihren Mamas, hätten sie ein größeres Risiko, Persönlichkeits­störungen zu entwickeln oder selbst straffällig zu werden, ergeben Studien.

In Niedersachsen, Nordrhein-­Westfalen, Hessen und Hamburg lässt man Kinder sogar bis zur Schulreife zumindest im offenen Vollzug zu. Das ist umstritten: Einer Studie der Goethe-­Universität ­Frankfurt zufolge ist es für Kinder mit ­zunehmendem Alter irritierend, sich Haftregeln wie den Einschluss­zeiten zu beugen und zu sehen, dass die Mutter den Befehlen von ­Erwachsenen unterworfen ist.

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mit Interesse lese ich stets Ihre Reportagen. Im Heft 05/19 erschien jedoch eine Reportage von Sabine Oberpriller zum Thema „Haftstrafe Mutter mit Kind“, die mich irritiert hat.
Die 9-monatige Haftstrafe wird damit begründet, dass die Mutter Josie online eingekauft habe und zu viele Schulden gemacht habe.
Dass die Dame ein Problem hat, mit Geld umzugehen, zeigt ja wohl auch, wenn sie nach der Haft ein vom Jobcenter für den Lebensunterhalt gewährtes Darlehen für Schminkkoffer und Strickkleider ausgibt. Ich hoffe, es blieb genügend übrig, um das Kind für den Rest des Monats mit Essen zu versorgen.
Was mich verstört, ist, dass der Eindruck erweckt wird, Ursache für die Haft wäre allein die Verschuldung der Mutter, die doch nur das Beste für ihre Kinder wollte. Bei hoher Verschuldung wird man an eine Schuldnerberatung verwiesen, die eine Schuldenregulierung auch über einen längeren Zeitraum begleitet.
Bei Kaufsucht wird zunächst eine Therapie angeraten.
Eine so lange Haftstrafe wird in unserem Rechtssystem nur bei weitaus schwerwiegenderen Verfehlungen auferlegt. Sonst wären in Deutschland 2 Millionen Menschen in Haft.

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