Bewerber für die Neukundenausweise der Essener Tafel stellen sich vor der Ausgabestelle an.
Bewerber für die Neukundenausweise der Essener Tafel stellen sich vor der Ausgabestelle an. Es ist die erste Möglichkeit für Ausländer, nach der dreimonatigen Sperre für ausländische Neukunden, sich zu bewerben.
Roland Weihrauch/picture alliance
Schluss mit der sozialen Kälte!
Die Politik muss wieder mehr für die Armen im Lande tun.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
21.12.2018

Nie zuvor waren so viele Menschen in Deutschland in Arbeit wie heute. Die Arbeitslosenquote ist auf dem niedrigsten Stand seit 1990, die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter der Millionenmarke. Die Löhne für Geringverdiener steigen. Jubelmeldungen wie diese aus dem Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im April 2018 erfreuen die einen – und verärgern die anderen. Sieht das Leben in Deutschland wirklich so rosig aus?

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Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Nicht für alle. Das Jahr 2018 hatte gleich mit einem Aufreger begonnen: Der Verein Essener Tafel erklärte im Januar, er teile Lebensmittel vorübergehend nur noch an Deutsche aus. Im Mai – da war der erste Aufnahmestopp längst Geschichte – machten die Essener wieder von sich reden. Diesmal sollten Singles unter 50 und Paare ohne Kinder kein Essen mehr zugeteilt bekommen. Den Sommer über werde man sich auf Familien mit Kindern, Schwerbehinderte und Alleinstehende über 50 konzentrieren. Die Essener Tafel – ein Barometer für das raue Klima am vergessenen und verdrängten Rand der Gesellschaft?

Frühere Krankenschwestern und Friseurinnen mit Niedrigrenten, Alleinerziehende, Niedriglöhner, Hartz-IV- Empfänger, sie alle verstehen die Jubelmeldungen nicht. Der Anteil derer, die materiellen Entbehrungen ausgesetzt sind, hat sich kaum geändert, musste die Bundesregierung denn auch in ihrem Armutsbericht zugeben. Und das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung legte Anfang November nach: Die Armut in Deutschland habe sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten verfestigt. Die Zahl der Menschen, die fünf Jahre und länger in der Armutsfalle fest hängen, nehme seit 1991 konstant zu.

Schuld ist ein Politikversagen

Ist die Solidarität in Gefahr? Es sieht danach aus. Und das ist kein Systemfehler. Der Sozialstaat wäre durchaus in der Lage, auch diejenigen mitzunehmen, die vom wirtschaftlichen Wachstum nichts abbekommen. Schuld ist ein Politikversagen in vielen Bereichen. Die Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt: Schulen, in denen Kinder aus armen Familien deutlich schlechtere Chancen auf einen guten Abschluss haben als andere. Ballungszentren ohne bezahlbaren Wohnraum. Kaputt gesparte ländliche Gegenden ohne Busanbindung, ohne Supermarkt, ohne Arzt. Und ein oft bürokratischer und kalter Sozialstaat – wenn Alleinerziehende um Unterhaltsvorschüsse betteln müssen oder Arbeitsvermittler Hartz-IV-Empfängern mit Sanktionen drohen und mehr fordern als fördern.

Zu lange hat die Politik weggesehen und sich lieber an Erfolgsmeldungen berauscht. Die Zeit der neoliberalen Kälte muss jetzt endlich vorbei sein. Und auch wenn die Sozialausgaben dafür weiter steigen müssen: 2019 sollte das Jahr werden, in dem die Politik wieder mehr für den Zusammenhalt in der Gesellschaft tut.

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