Interview - Transidenz
Interview - Transidenz
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"Identität kann man nicht testen oder messen"
Wann Eltern hellhörig werden sollten. Und wie sie herausfinden, ob ihr Kind transident ist oder spielerisch Rollen ausprobiert.
Tim Wegner
20.11.2018

chrismon: Nehmen wir eine Fünfjährige, sie hat zwei Brüder, und sie liebt Einhörner, Glitzer, Röcke. Aber auf einmal sagt sie: Ich will auch ­einen Penis haben, ich will, dass mir ein ­Penis wächst, ich will ein Junge sein! Müssen Eltern dann denken, ihr Kind sei transident?

Karoline Haufe: Nein, bis zur Gewissheit ist es ein längerer Prozess. Viele Eltern von ­transidenten Kindern oder Jugendlichen ­kommen zu uns, wenn sie merken: Moment mal, das ist irgendwie keine Phase mehr, das ist etwas anderes. Mein Kind ist so überzeugt und klar, das ist kein Spiel und keine Phase.

Und wenn ein Achtjähriger ein Kleid, das er bislang nur zu Hause getragen hat, nun auch in der Schule tragen will – ist er transident oder einfach ein Kind, das möglichst viel ausprobieren will?

Karoline HaufeMatthias Ritzmann

Karoline Haufe

Karoline Haufe ist Vorsitzende des bundesweiten Vereins Trans-Kinder-Netz e.V. Dort beraten Eltern andere Eltern.

Das kann beides sein: spielerisches Ausprobieren von Geschlechterrollen oder aber Transidentität. Man ist mittlerweile davon abgerückt, Geschlecht am Spielverhalten festzumachen. Letztlich beruht Geschlechts­empfinden allein auf Selbstwahrnehmung. ­Transidentität kann man nicht messen und nicht testen. Man kann dem Kind aber zu­hören, es ernst nehmen, annehmen und ­gucken, was es braucht, damit es ihm gut geht.

Aber Geschlecht ist kein Wunschkonzert. Das kann man sich doch nicht einfach aussuchen!

So ist es. Transgeschlechtlichkeit ist kein Wunschkonzert, sondern eine innere Notwendigkeit, ein Bedürfnis, dieses Empfinden zu leben. Wenn Kindern dies nicht ermög­licht wird, entsteht oft erhebliches Leid, auch bereits bei jungen Kindern. Von Depression, Angstzuständen bis hin zu Selbstverletzung und Suizidalität.

Woran merken Eltern, dass es kein Spiel mehr ist, sondern dass eine Dringlichkeit ­dahintersteckt? Wenn das Kind sagt: "Ich heiße nicht mehr Tom, ich heiße Elisa"?

Dass ein Kind sagt, der Name passt nicht mehr zu mir, so will ich nicht mehr heißen, ist schon sehr deutlich. Meist gehen viele Anzeichen voraus, die individuell und je nach Alter verschieden sind.

Wenn Kinder unter dem ihnen zugesproche­nen Geschlecht leiden – wie muss ich mir das vorstellen?

Leid tritt nicht erst mit körperlichen Veränderungen in der Pubertät auf. Wenn der Körper nicht mit dem Geschlechtsempfinden übereinstimmt, können bereits junge Kinder Leid äußern. Es gibt Vier-, Fünfjährige, die sich mit der Schere oder mit dem Spielzeugmesser den Penis abschneiden wollten, weil sie merkten: Das gehört nicht zu meinem Körper! Andere Kinder wünschen sich Feen oder Zauberer, die ihnen das nicht vorhandene Geschlechtsteil zaubern. Sozialer Rückzug und Traurigkeit sind ernstzunehmende Anzeichen. Spätestens dann sollten Eltern hellhörig werden.

Aber ein Siebenjähriger, der sich noch nicht mal selbst mit Sonnencreme einschmieren kann, der kann doch nicht über seine Geschlechtsidentität entscheiden!

Doch, das können Kinder wissen, es ist ja ­keine Entscheidung, sondern ein Wissen um sich selbst. Und es ist sogar ihr Recht. Geschlechtliche Identität ist ein Grundrecht, welches auch in der UN-Kinderrechtskonvention verankert ist. Es gibt viele Studien zur Geschlechtsidentität, gerade habe ich wieder eine gelesen, da wurden transidente Jugendliche gefragt: Seit wann weißt du das denn, seit wann bist du dir dessen bewusst? Und da hat etwa ein Drittel gesagt: Ich weiß das schon immer. Ein weiteres Drittel war sich dessen bis spätestens zum 14. Lebensjahr bewusst. Die anderen konnten es nicht so genau sagen.

Sollten Eltern die Grundschule vorher in­formieren, bevor ihr als Junge bekanntes Kind dauerhaft in Mädchenkleidern in die Schule geht?

Viele Eltern machen das, sie suchen das Gespräch mit der Schulleitung, um Diskriminierung und Mobbing vorzubeugen. Eine Schule hat ja ein diskriminierungsfreier Raum für alle zu sein. Nicht selten schreiben die Eltern auch einen Brief an die Eltern der anderen Kinder und erklären die Situation und werben um ­Verständnis. Die Eltern in unserem ­Verein ­haben die Erfahrung gemacht, dass das in ­vielen Fällen gutgeht.

Muss die Schule das Kind mit neuem Namen ansprechen?

Für eine gesunde Entwicklung ist das aus fachlicher Sicht geboten; rechtlich ist es ­möglich. Rechtlich gebunden ist eine Schule erst nach der Vornamens-/Personenstands­änderung vor einem Gericht. Aber das ist sehr aufwendig und keine Option für Familien mit sehr jungen Kindern. Bei jungen ­Kindern geht es allein um einen sozialen Rollen­wechsel, es geht darum, dem Kind den größtmöglichen Raum einer gesunden Entwicklung zu eröffnen, das Kind mit seinen Bedürfnissen ernst zu nehmen und im Sinne des Kindes zu handeln.

Was ist eigentlich, wenn Eltern sich nicht einig sind darüber, ob ihr Kind transident ist?

Häufig reagieren Väter über einen längeren Zeitraum ablehnend, während Mütter das Kind bedingungslos annehmen. Das wird Müttern in einem Sorgerechtsverfahren bei Trennung oft negativ ausgelegt. Man unterstellt den Müttern, das Kind in die Rolle reingetrieben zu haben. Solche Vermutungen haben sich nicht bewahrheitet. Dass ein Mensch transident ist, kann man nicht durch eigenes Handeln bewirken, und man kann es auch nicht aberziehen. Man kann es nur eine Zeit lang unterdrücken, und das ist unethisch. ­Elternteile, die das Kind nicht akzeptieren, verlieren es meist langfristig – die Kinder wollen auf Dauer nichts mehr mit diesem Elternteil zu tun haben.

Infobox

Rat und Hilfe

Trans-Kinder-Netz e.V. ist Ansprechpartner für Familien mit Kindern, deren geschlechtliche Selbstwahrnehmung von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht. (trans*Kinder). Mail für Eltern: elternberatung@trans-kinder-netz.de. Mail für Schulen und Kitas: schulberatung@trans-kinder-netz.de; für Kinder und Jugendliche: KiJu-Info@trans-kinder-netz.de. Eine Liste von medizinischen und psychologischen Fachleuten gibt es auf dieser Seite.

Empfehlenswerter Dokumentarfilm: "Mädchenseele." Kostenlos mitsamt Material auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung.

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